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() Ein Albtraum, hell ausgeleuchtet

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Im Jahr 1903 prügelt ein Hauslehrer seinen Schüler zu Tode und wird darüber berühmt. Anlässlich dieses Falls taucht Michael Hagner in die Geschichte des Kaiserreichs

Wenn ein Verlag, der nicht auf Märchen oder Tierfabeln spezialisiert ist, ein «zeitloses Lehrstück» herausbringt, macht das hellhörig. Besonders dann, wenn sich die Formulierung auf dem Waschzettel zum jüngsten Werk eines Wissenschaftshistorikers findet, dem es doch vor allem um geschichtliche Präzision geht. Die Rede ist von Michael Hagners Buch «Der Hauslehrer», und es scheint, als ziele der Verweis auf die Zeitlosigkeit des hier Erörterten (wenn auch in maximaler Dezenz) auf einen aktuellen Anlass: Die Debatte um die Missbrauchs­fälle unter dem Deckmantel des Vatikan, mehr aber noch um jene an der reformpädagogisch ausgerichteten Odenwaldschule, ließe sich durch diese Studie um eine historische Dimen­sion bereichern. Das aber kam ganz unerwartet, denn als Hagner vor zwei Jahren mit der Konzeption seines Buches begann, war von diesen Dingen noch nicht die Rede. Dass der Autor jetzt auf eine hastige Einmischung in die aktuelle Diskussion verzichtet, spricht für seine wissenschaftliche Redlichkeit. Von wissenschaftlicher Trockenheit ist in seinem Buch hingegen keine Spur. Diese «Geschichte eines Kriminalfalls» ist nicht reißerisch, aber doch so geschickt erzählt, dass sie auch ein größeres Publikum in unbehagliche Spannung versetzen kann.
 
Visitenkarten für den Kleinen Schrecklich ist es nämlich, was Andreas Dippold, ein Student der Rechtswissenschaft, in den Jahren 1902 und 1903 angerichtet hat. Als Hauslehrer war der Dreiundzwanzigjährige von Rudolf Koch und seiner Frau angestellt worden, um deren lernschwache Kinder Heinz und Joachim endlich zu «ordentlichen Menschen» zu machen. Trotz seines zarten Alters von dreizehn Jahren war Heinz, der Ältere von beiden, schon dabei ertappt worden, wie er eine Zigarette rauchte oder sich bei «Wertheim» Visitenkarten bestellte; es schien, als wolle der Junge umstands­los in ein Luxusleben eintreten, das er von seinem Vater kannte. Rudolf Koch amtierte als Vorstandssprecher und Direktor der Deutschen Bank, die Familie gehörte zu den reichsten in Berlin und zählte überhaupt zur großbürgerlichen Elite des wilhelminischen Deutschland. Umso peinlicher nagte der Kummer über die dürftige Entwicklung und das schulische Versagen der eigenen Sprösslinge. 
 
Um die erzieherische Verantwortung selbst ernst und das Schicksal der Kinder in eigene Hände zu nehmen, fehlte es den Eltern aber an Zeit, Interesse oder Liebe. Der von seinem Beruf ganz und gar beanspruchte Vater wollte die Angelegenheit einfach irgendwie erledigt wissen, ohnehin war Rosalie, seine Frau, für Erziehungsfragen zuständig – eine, wie Hagner zeigt, ganz typische Rollenverteilung um 1900. Weil man es sich aber leisten konnte, delegierte auch die Mutter die Betreuung von Heinz und Joachim an Gouvernanten, Nachhilfelehrer, Privatschulen und Internate; darunter das reform­pädagogische Landerziehungsheim im thüringi­schen Haubinda. Die hier durch geistige, künstlerische und körperliche Arbeit beabsichtigte Erziehung «vom Kinde aus» scheiterte aber an dem allzu gemütlichen Heinz.    Der Keim allen Übels Als sich nun Andreas Dippold um die Stelle eines Hauslehrers bewarb, erschien der Jurastudent der Mutter als letzter Rettungsanker. Ganz und gar vertraute sie ihm die beiden Kinder an. Und der machte mit ihnen, was er wollte. Gemeinsam mit Dippold wurden die Kinder auf einen Landsitz der Familie im Harz verbracht. Das Haus Ziegenberg bei Ballenstedt lag weit genug von Berlin entfernt, um den Kontakt zum Elternhaus vor allem auf den Postweg zu beschrän­ken, aber nicht so weit, als dass Rosalie Koch die unselige Gemeinschaft dort nicht gelegentlich besuchte. Die Striemen und Verletzungen, die ihr an den Körpern ihrer Sprösslinge dabei durchaus auffielen, irritierten sie zwar. Auch hatte sie erschrockene Berichte des auf Ziegenberg tätigen Dienstpersonals erhalten. Und doch ließ sie sich von Dippold, der bald mehr als Arzt denn als Lehrer auftrat, stets überzeugen. Der Keim allen Übels, das er den Kleinen auch und gerade durch körperliche Züchtigung austreiben müsse, sei nicht ernst genug zu nehmen: Wenn Kinder so exzessiv Hand an sich legten wie diese hier, versperre das definitiv den Weg in eine normale Erwachsenenexistenz. 

 

Hintergrund

Das Buch ist auf Platz 8 der Sachbuch-Bestenliste
in «Literaturen» 5/2010
(Oktober/November 2010)

Zu einem bereits fortgeschrittenen Zeitpunkt der Körperverletzungen durch Dippold schickte Rosalie Koch den damals landesweit renommierten Nervenarzt Oskar Vogt in den Harz – allerdings weniger, um dem Treiben des Hauslehrers auf den Grund zu gehen als vielmehr den medizinischen Möglichkeiten zur Heilung der schändlichen Onanie. Vogt war Hypnosespezialist. Dass all dies folgenlos blieb, dass der Arzt lässig davon absah, die Kinder für eine Untersuchung ihrer Kleidung zu entledigen, vielmehr voller Respekt auf die medizinischen Ausführungen eines Jurastudenten hörte und im Anschluss die ohnehin eher zaghaften Bedenken der Mutter zerstreute, zählt zu den Absurditäten dieser Tragödie. 
 
Als Dippold schließlich sogar erlaubt wurde, mit den beiden in sein bayerisches Heimatdorf umzuziehen, ließ er der Gewalt vollends die Zügel schießen. Hier blieben die drei nun ganz unter sich, und drei Wochen später war Heinz Koch tot. Derweil die Eltern ihren Frühjahrsurlaub an der Côte d’Azur verbrachten, obduzierte der Bezirksarzt einen zerschlagenen Kinderkörper voller Striemen, Schwellungen und Blutergüssen. Später kamen Einzelheiten ans Licht: Es hieß, Dippold habe nachts stets zwischen den beiden liegend geschlafen, während die Kinder an Händen und Füßen gefesselt gewesen seien, den sterbenden Heinz habe er noch mit einem Taschentuch geknebelt.     Bild einer Umbruchszeit Um noch einmal auf die sogenannte Zeitlosigkeit dieses Falls zurückzukommen: Es scheint, dass die Zeit am Spektrum menschenmöglichen Verhaltens wenig geändert hat, weshalb ein neuer Andreas Dippold auch heute leicht vorstellbar ist. Vorhersehbar wäre aber auch die öffentliche Reaktion auf ihn. Niemand spräche über die vermeintliche Onanie der Kinder, die auch gar nicht als Verfehlung oder Problem angesehen würde, stattdessen geriete der prügeln de Lehrer ins Visier: als sadistisches, sexuell perverses Subjekt. Ein Streit würde vermutlich erst über das Strafmaß oder die Erfolgsaussichten der zwangsläufig nötigen Therapie entbrennen. 
 
Nicht so um 1900. Damals, so konstatiert Hagner, herrschte auch in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass die «kindliche Onanie den traurigen Pfad zum perversen Erwachsenen» bildet. Es war nun also vor allem dem Einflussreich tum der Kochs zu verdanken, dass die Zeitungen, die sich sofort begierig auf den Fall stürzten, die peinliche Frage nach dem Verhalten der Kinder hintanstellten. In diesem Moment hatte Rudolf Koch durchaus Grund, um seine gesellschaftliche Stellung zu fürchen. Dippold leugnete indessen nicht einmal, die Kinder geschlagen zu haben – er glaubte vielmehr auf weitgehendes Verständnis dafür hoffen zu dürfen. 
Es kam aber anders. In der sich anschließenden Debatte und im Prozess wurden nicht die Kinder, sondern der Hauslehrer zum pathologischen Subjekt erklärt. Das mag aus heutiger Sicht ganz selbstverständlich erscheinen, um 1900 aber war diese Wendung außergewöhnlich. Vor dem Hintergrund des Kriminalfalls malt Michael Hagner nun ein konturenreiches Bild dieser Umbruchszeit. Er führt mit sicherer Hand durch die weitverzweigten Diskussionen, die in den aufstrebenden Humanwissenschaften auf Dippold reagierten. Weit über den eigentlichen Prozess hinaus, in dem widersprüchliche Gutachten und die Abwägung des Strafmaßes zur Debatte standen, zog der Fall seine Kreise. Die prominentesten Vertreter der Medizin, Pädagogik, Rechtswissenschaft, Psychologie und Sexualwissenschaft mischten sich ein.     Der Marquis als Schablone Hagner entwickelt aus seinen Quellen eine kleine, aber profunde Geistesgeschichte des Kaiserreichs. Es wird deutlich, dass die Jahrhundertwende eine beispiellose Industrialisierung erlebte – auch die Psyche wurde erstmals wie eine technische Apparatur begriffen, innerhalb derer die Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen wie Feinmechaniker zu Werke gingen; die Psychoanalyse hatte soeben erst ihr begriffliches Instrumentarium entwickelt. Und auch die Medien trugen dazu bei, dass sich der Fall zum weithin beachteten Skandal auswuchs. Hagner stellt fest, dass dies nicht an der Schwere des Verbrechens gelegen haben konnte, schließlich waren Kindesmisshandlungen mit Todesfolge auch zuvor schon vorgekommen. Erst jetzt aber gab es eine differenzierte Medienlandschaft mit regionalen und überregionalen Tageszeitungen, die die Informationsströme beschleunigten und den Diskurs beeinflussten.
 

Nachdem das zuständige Bayreuther Gericht über Dippold die von vielen als zu milde empfundene Strafe von acht Jahren Zuchthaus verhängt hatte, beurteilte ein Artikel in den «Münchner Neuesten Nachrichten» die Schwere des Falls anhand einer literarischen Analogie: «Mit Grauen und Entsetzen sieht man in Dippold die ausschweifendsten Phantatasien eines Marquis de Sade zur Wirklichkeit geworden; man kommt sich vor wie ein Träumender, der plötzlich die ungeheuerlichsten Gebilde eines nächtlichen Alpdrucks im hellen Tageslicht auf sich zuschreiten sieht.» Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Schließlich, so Hagner, galt der damals sehr bekannte Marquis de Sade als «Chiffre, hinter der die schlimmsten Alpträume eines sich als unbescholten ansehenden Bürgertums zum Vorschein kamen». Kaum mehr als eine Dekade zuvor, im Jahr 1890, hatte Richard Krafft-Ebing den Sadismus als Begriff der Sexualwissenschaften etabliert. Und schon lag die Schablone vor, in der Andreas Dippold zu einer neuen Begriffsbildung taugte: Der Pädagoge Hans Rau, ein entschiedener Gegner der Prügelstrafe, sprach erstmals vom Dippoldismus – dieser Terminus technicus bedeutet nichts anderes als Erzieher-Sadismus. Der hinter diesem Ismus längst verblasste Andreas Dippold saß schließlich seine Zuchthausstrafe ab und verschwand danach nach Brasilien. Hier verliert Michael Hagner seine Spur. Es fehlten von da an die Quellen zu dieser wahrhaft blendend dokumentierten Figur.  
 

Michael Hagner 
Der Hauslehrer. Geschichte eines Kriminalfalls
Suhrkamp, Berlin 2010. 280 S., 19,90 € 

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