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Dresdner Rede zur Biopolitik - Lewitscharoff trifft den wunden Punkt

Die Kommentatoren sind sich einig: Sibylle Lewitscharoff habe in Dresden eine menschenverachtende Polemik gehalten. Nein, es war eine poetische Rede nach allen Regeln der Kunst.

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Was alle schrecklich finden, ist entweder schrecklich – oder der Beweis für einen dieser berühmten wunden Punkte, der einer Gesellschaft anzeigt, was sie nicht wahrhaben will. Im Fall der von einem konzertierten Empörungstheater in den Orkus des Sinnwidrigen verbannten Rede Sibylle Lewitscharoffs spricht viel für die zweite Deutung. Die Büchnerpreis-Trägerin wandte sich in ihrer Dresdener Rede gegen das Moralregiment der Fruchtbarkeitsindustrie und erinnerte an den Preis fortwährender Selbstermächtigung: Der Mensch, legte Lewitscharoff dar, kommt sich abhanden, wenn er alles und jedes in seiner Macht zu haben wähnt. Denn hinter jeder Möglichkeit, die man ihm präsentiert, lauert eine Verantwortung, und aus jeder Verantwortung kann Schuld werden. Das Glück findet man so nicht.

Die Hysterie der Medien zeigt: Schrei und Geplärr sind zu deren bevorzugten Sprechweisen geworden. Je weniger eine Zeitung gelesen wird, desto lauter schlägt sie um sich. Hilferufe sind es aus einem Schiff, in das die Wasser schon dringen. Die Routine im Abtun und Verwerfen trifft auf eine Gesellschaft, die offenbar derart gelangweilt ist, dass sie den Kick einer Spontanerregung braucht, um sich wieder einmal zu spüren. Wo alles sich im Vorläufigen, Umkehrbaren, Provisorischen erschöpft, müssen Stilfragen als Weltanschauungen herhalten.

Was, um im Bild zu bleiben, geht dabei über Bord? Zunächst einmal das Bewusstsein für den Eigenwert der dichterischen Sprache. Diese soll – seit Jahrzehnten schon – gezähmt werden, soll amüsant plaudern oder billig politisieren, immer aber kommod sein. Wehtun darf sie nicht, austeilen soll sie nicht. Die Homöopathie ist ihr Leitbild. Täglich wächst das Ausrangierte. Wo sind die einst für dichterische Sprache so essenziellen Tonlagen geblieben? Wohin haben sich der Zorn, die Prophetie, die Wut und das Räudige verzogen? Die pöbelnden Blogs und Portale sind ein schäbiger Ersatz. Mit dem wilden Denken ist es vorbei. Nun soll auch die Sprache auf Bonsainiveau gestutzt werden.

Wo sind sie hin, die großen Leidenschaftlichen der Literatur? Karl Kraus käme heute nicht über einen Kleinverlag hinaus, Léon Bloy würde nicht gedruckt, ein Rudolf Borchardt hätte es noch schwerer als ohnehin. Von ihm stammt die Selbstaussage: „Ich stelle dar, ich greife an.“ Genau das ist des Poeten Beruf. Thomas Bernhard wusste noch, dass man die Dinge aufblasen muss, um sie sichtbar zu machen. Nichts anderes tat Sibylle Lewitscharoff. Sie stellte dar, sie griff an, sie blies auf. Eine Gesellschaft, die daran derart geschlossen Anstoß nimmt, will den Dichter weg haben aus ihrer Mitte. Sie will ihn ersetzen durch jene Hohepriester des juste milieu, die unmittelbar vor Lewitscharoff an selber Stelle im Staatsschauspiel ihre „Dresdner Rede“ hielten: Heribert Prantl, Jürgen Trittin, Roger Willemsen. Über Demokratie, Umweltschutz, Ökologie.

Lewitscharoff hingegen sprach von Horror – also Schrecken –, von Frevel, von Sünde, von Abscheu und Widerwärtigkeit. Das sind starke Begriffe, literarische Valeurs mit einer langen Tradition. Auch das Thema „Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ bewegte sich jenseits des sonst so trübselig beackerten Tagesgeschäfts. Es handelte sich um ein Muster an poetischer Rede. Lewitscharoff machte ihre Empfindungen transparent, spitzte sie zu und reicherte sie an mit den Beständen des Weltwissens, hier namentlich der Schöpfungsmythen und der Bibel. So entsteht Dichtung, die sich nicht zur Schriftstellerei herabdimmen lässt.

Nutzte sie dieses poetische Verfahren zu menschenverachtenden Zwecken, wie es das hohl gewordene Schlagwort besagt? Rief sie auf zu Brandschatzung, Enteignung, Pogrom und Menschenjagd? Mit keiner Silbe tat sie es. Die im Jetzt wie im Einst, im Ich wie in der Welt geerdete Sprache war, in ihren eigenen Worten, „herausfordernd ungewöhnlich“ – zumindest für die Schar derer, die ihr Gewissen gerne beruhigen, indem sie das der anderen sich anschwärzen lassen. Absolution gewährte Lewitscharoff nicht, sich nicht und nicht dem Publikum.

Horror sah sie bei den „Methoden, auf künstlichen Wegen eine Schwangerschaft zustande zu bringen“, ja „abscheulich“ seien diese. Weil ihre Abscheu in solchen Fällen größer sei als ihre Vernunft, nannte sie Menschen, die auf solche Weise im Labor entstanden sind, „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“ – diese harte Formulierung zog sie später zurück. Patientenverfügungen kommen ihr „wie ein Frevel“ vor. Das jüdisch-christliche Bewusstsein, „für seine Sünden bestraft zu werden und sterben zu müssen,“ teilte sie. Die Leihmutterschaft, das Austragen von Kindern für andere, zahlende Leute, schalt sie „widerwärtig“. Nicht anfreunden kann sie sich mit der Vorstellung, als Hirntote bei schlagendem Herzen der Organe beraubt zu werden.

Damit bewegt sie sich in vertrauten Bahnen biopolitischen Denkens. Ihre fundamentale Unterscheidung zwischen dem Gemachten und dem Gewordenen findet sich ebenso bei Jürgen Habermas oder Giorgio Agamben. Dass der Status des Menschen „heute wesentlich vom medizinischen Denken bestimmt wird“, hat Michel Foucault schon 1976 erkannt. Und der britische Soziologe Nikolas Rose legt in einem soeben in Lewitscharoffs Hausverlag, bei Suhrkamp erschienenen Aufsatz dar, wie sehr mittlerweile das Leben als solches biopolitisch zugerichtet wird, woraus sich neue „Konzepte von Verantwortung, Schuld und Zurechnung“ ergeben – als wollte er Lewitscharoff soufflieren.

Das waidwunde Lamentieren der vereinigten Deutungselite über Lewitscharoffs „gefährliche Worte“ verkennt zweierlei: Dass dichterische Sprache, will sie nicht zum Abreißkalender oder zum Parteiprogramm degenerieren, wild und gefährlich, angreifend und angreifbar sein muss. Vielleicht haben wir alle zu lange schlechte Literatur gelesen und so dieses Sensorium verloren. Zweitens hat, frei nach Schiller, ein „Kastratenjahrhundert“ offenbar panische Angst vor genau den Fragen, die Lewitscharoff stellte, den Fragen nach den Grenzen unserer Selbstermächtigung und dem Preis für so viel Selbstverwirklichung, bis in die Gene hinein. Es kann durchaus sein, dass diesen Preis ausgebeutete Leihmütter zahlen, überforderte Eltern oder zur Hochleistung getrimmte Kinder.

Lewitscharoff sagte in Dresden, es sei „ein großer Trugschluss zu glauben, dass wir zur Selbsterkenntnis wirklich durchgreifend fähig wären.“ Das stimmt. Und es stimmt auch für ihre Kritiker.

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