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(Richard Marx) Marx im Regal, Solschenizyn unterm Bett – Pirat Dmitri Vrubel

Kunst trifft Piratenpartei - Dmitri Vrubel – Der Kinski der Moderne

Dmitri Vrubel hat 1991 den „Bruderkuss“ auf die Berliner Mauer gemalt und damit ein Wahrzeichen geschaffen. Dass er nie irgendwelche Honorare dafür bekam, findet er gut. Aber das war nicht der einzige Grund für ihn, Mitglied der Piraten zu werden    

Berlin. 400 Piraten haben ihre Notebooks aufgeklappt. Die Piratenpartei hat zur Landesmitgliederversammlung geladen. Laptop an Laptop, ein permanentes Summen schwebt hörbar im Raum. Der typische Parteitagstinnitus einer Partei, die sich im digitalen Zeitalter angekommen glaubt. Während auf dem Podium eine Frau sichtlich bemüht ist, analoge Ordnung in das bunte Chaos zu bekommen und quatschende Delegierte zur Ruhe ermahnt, geht am Tresen die 600. Flasche des koffeinhaltigen Szenegetränkes Club Mate über die Theke. Am Nebentisch werden Äpfel verteilt, selbstgeschmierte Schmalzbrote werden gereicht.

Mittendrin ein Mann mit Hut. Es ist der russische Künstler Dmitri Vrubel. Ein prächtiger Schnauzer prangt auf seiner Oberlippe und wenn er spricht, blitzt eine listige Zahnlücke auf. „Dass sich Menschen in den sogenannten Problembezirken nicht für zeitgenössische Kunst interessieren, ist das Problem der zeitgenössischen Kunst“, sagt Vrubel. Die Kunst habe sich vom Menschen entfernt. Er will sie wieder zueinander führen. Seine Vision: Er will Marzahn artifizieren. Mit Hilfe der Kunst sollen Problembezirke aufgewertet werden. Das klingt ein bisschen nach Werner Herzogs Film "Fitzccaraldo", in dem ein exzentrischer Abenteurer, gespielt von Klaus Kinski, ein Opernhaus im Urwald errichten will. Doch Vrubel ist es ernst damit. Er ist der Kinski der Moderne, nur ohne Wut und Eitelkeit.

An der East-Side-Gallery hatte eine solche Form der Aufwertung bereits Erfolg. Der  51-jährige Vrubel malte 1991 auf die Ostseite der Berliner Mauer das berühmte Bild auf dem Erich Honecker Leonid Breschnew küsst. Der „Bruderkuss“ wurde zu einem Wahrzeichen des wiedervereinigten Berlins, zum Sinnbild für Freiheit. Die Gegend um den Bruderkuss war einst einer der unschönsten und trostlosesten Orte überhaupt. Es war der Übergang von Ost nach West, die tote Schnittstelle zweier verfeindeter Systeme. „Dank der Kunst gibt es jährlich eineinhalb Millionen Menschen, die daran vorbeigehen. Kunst hat diesen toten Ort belebt“, strahlt Dmitri. Es ist sein Muster dafür, wie Kunst aus toten Räumen lebendige macht.

Vrubel nennt seinen Versuch, zu vereinen, was schwer zu vereinen ist, Art 3.0. Hier stehen weder Künstler noch Publikum im Mittelpunkt, sondern die Kunst in Form eines sozialen Problems selbst. Erst kürzlich ist der Mann gemeinsam mit seiner Frau Victoria Timofeeva den Piraten beigetreten. Dort glaubt er seine Ideen bestmöglich umsetzen zu können. Im Falle des Projektes Art. 3.0 heißt das: Mittels kurzer Interviews sollen die Probleme der Menschen lokalisiert werden, um sie dann vor Ort, in den Bezirken, angehen und künstlerisch umsetzen zu können. Welche Kunst am Ende tatsächlich entstehen wird, weiß aber niemand so genau, nicht einmal Dmitri selbst.

Es ist diese gewollte Unfertigkeit, die ihn mit den Piraten verbindet. Für ihn geht es um den Prozess, weniger um das Ergebnis. „Wir müssen auch verstehen, dass zeitgenössische Kunst vielleicht am Ende nie zur Kunst wird“, sagt er. Sich selbst sieht er als Mittler, als Initiator. Vergleichbar mit den Piraten in den Vorständen, die sich als reine Verwalter, reine Administratoren politischer Prozesse betrachten. Was zählt sei die Basis.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Dmitri Vrubel Stalin mit roten Narben malte

Ähnlich wie es das Selbstverständnis der Piraten vorsieht, die Partei aufzulösen, sobald sie ihre politischen Ziele erreicht hat, so hat sich nach Vrubel‘scher Diktion Kunst aufzulösen, sobald das soziale Problem, das hinter dem Kunstwerk steht, nicht mehr existent ist. Kunst und Politik als schlichtes Instrument. In diesem Bild treffen sich die Piraten und Vrubel wohl am ehesten.

Nah ist Vrubel den Piraten auch, wenn es um das Verständnis von geistigem Eigentum  geht. „Der Umgang des deutschen Gesetztes was den Bruderkuss angeht, ist der Traum aller Piraten“, sagt Dmitri und lacht. Alle Menschen hätten, was dieses Bild betrifft, die gleichen Rechte. Für die Verbreitung habe er nie auch nur einen Cent gesehen. „In Amerika wäre ich Millionär, aber dort gibt es keine Berliner Mauer“, scherzt er.

Der quirlige Vrubel hasst Stillstand. „Was wir uns heute einfallen lassen, wird morgen schon von gestern sein. Wir müssen uns immer etwas einfallen lassen oder wir landen im Museum“, sagt Dmitri. Und dort will Vrubel mit seiner Art 3.0 auf keinen Fall hin. „In dem Moment, wo Kunst im Museum landet, hört sie auf, interessant zu sein. Das Ziel der Kunst sollte nicht heißen, ins Museum zu kommen, das Ziel sollte heißen, die Gesellschaft im Positiven zu verändern“, schildert er gestenreich.

Und genau das ist es, was ihn antreibt: Die permanente Veränderung. Der kritische Blick auf sich und die Welt. Einen Blick, den er bereits in frühster Kindheit zu schärfen begann. Einer seiner Großväter fiel 1937 im Krieg, der andere war Offizier im Gulag. Die Eltern waren leise Dissidenten. Im heimischen Bücherregal dominierten Lenin und Marx. Unterm Bett aber fand der junge Dmitri Solschenizyn. Als Kind malte er Stalin mit roten Haaren und tiefen Narben im Gesicht. Kunst und Politik waren für Dmitri schon immer untrennbar miteinander verbunden.

Fotos: Richard Marx

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