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Diskurskultur - Die Flüchtlingskrise verkommt zum virtuellen Bürgerkrieg

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Das Getöse ist ohrenbetäubend, Zwischentöne gibt es nicht. Die Nachkriegsgenerationen sind mit ihrer ersten echten Krise überfordert. Statt über eine Obergrenze zu diskutieren, sollten wir unserem Land und der Politik der kleinen Schritte ein wenig Zeit geben

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Ich mag gar nicht mehr reingucken in dieses Internet, liege seit einigen Wochen in der digitalen Ackerfurche und linse nur vorsichtig zwischen den gespreizten Fingern hindurch. Was da alles geredet, geschimpft, geweissagt, gewusst wird. Im realen Leben ist es nicht viel anders. Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen die Antworten kennen darüber, was falsch und was richtig ist in dieser größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg.

60 Millionen Menschen auf der Flucht, frierende Kinder hilfesuchend vor unserer Haustür – und ein großer Teil dieser von Glück und Wohlstand verfolgten Gesellschaft schreit allen Ernstes selbstbewusst heraus, dass man ihnen hier nicht helfen könne.

Die Nachkriegsgenerationen erleben ihre erste echte Krise. Eurodesaster, Kriegseinsatz im Kosovo, Griechenlandhilfen, Atomwende oder Hartz-IV-Gesetze – nichts hat unsere Republik so sehr erschüttert wie die vielen Fremden, von denen die allermeisten in friedlicher Absicht in unser Land strömen.

Janosch und Astrid Lindgren haben uns als Kinder darauf vorbereitet, für unser Wort einzustehen, unseren Nächsten zu lieben, fremde Menschen in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren. Diese Krise nun zerstört all die erworbenen Sicherheiten, wirft alle Werte über den Haufen, der Diskurs läuft aus dem Ruder. Im Internet entlädt sich eine heftige Energie. Sascha Lobo sendet einen Hilferuf „an die zurechnungsfähigen Teile der Bevölkerung“, doch endlich digital aufzustehen gegen die Dummheit und den Hass, der zu einem ohrenbetäubenden Getöse angeschwollen sei. AfD und NPD hätten die meisten Likes bei Facebook stöhnt Lobo und ruft: „Kommt! Wir halten nicht mehr lange durch im digitalen Stalingrad der Vollidiotie.“ Es klingt fast wie ein Aufruf zu den Waffen.

Aus Fehlern lernen und wachsen
 

Ist dies unser Krieg? Der virtuelle Bürgerkrieg einer Gesellschaft, die in ihrem Leben nie wirkliche Probleme kannte und sich nun im Angesicht der Flüchtlinge vor Angst in Lagern zusammendrängt? Es haben sich Schützengräben gebildet, verbale Kämpfe verlaufen ohne völkerrechtliche Regelungen, die Verletzungen sind zahlreich, im Kampfgetöse bleiben Zwischentöne ungehört.

Diese Zwischentöne aber sind es, die weiterhin Gehör bräuchten. Wenn es ernsthafte Alternativen zu Merkels Entscheidung gäbe, so würde man sie gerne hören. Bisher aber erklingt von der säbelrasselnden Gegenbewegung zur Politik – immerhin aller etablierten Parteien – nur die Forderung nach einer ominösen festen Obergrenze der Flüchtlingszahlen. Wer weiterdenkt, dem eröffnet sich das Bild von einem Land, das sich einmauert, seine Grenzen militärisch bewacht und Waffen einsetzt gegen Menschen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen. Es wäre das Ende unserer Welt, wie wir sie bisher kennengelernt haben.

Wieso also gibt es keine Partei, die eine Alternative bietet außer der CSU, der AfD und der NPD? Vielleicht weil es keine Alternative gibt zu einer Politik der kleinen Schritte. Und diese Schritte sind sichtbar für den, der sie sehen will. Es werden verknöcherte Strukturen aufgebohrt, Köln hat uns sensibel gemacht für das Sprechen über sexuelle Gewalt, für das Victim Blaming und die Gefahr, rassistisch zu argumentieren.

Auf der anderen Seite wird die Macho-Kultur vieler Einwandererfamilien ernster genommen, die Integrationspolitik lernt aus ihren Fehlern, es herrscht längst Einigkeit darüber, dass die Flüchtlingszahlen abnehmen und die Fluchtursachen bekämpft werden müssen, eine Verschärfung der Asylgesetze ist plötzlich ohne großes Murren möglich, bürokratische Hürden werden beseitigt. Deutschland wächst an dieser Krise. Nehmen wir unser Herz in die Hand und geben unserem Land ein wenig Zeit.

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