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(Screenshot) Die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs produzierte Dornier 24 war eigentlich vorgesehen für die Seenotrettung.

Gedenkfeier - Die Toten vom Kamper See

Seit mehr als 67 Jahren liegt ein deutsches Flugzeug auf dem Grund des Kamper Sees nahe der heutigen polnischen Ostseeküste – darunter 75 Kinderleichen. Am Jahrestag des Absturzes gedenken Polen und Deutsche erstmals gemeinsam der Opfer

Hektik auf dem Fliegerhorst. Kurz vor Kriegsende, Anfang März 1945, steht die Rote Armee vor dem Ostseebad Kolberg, keine 20 Kilometer östlich vom Flughafen der deutschen Seenotrettungsstaffel 81 in Kamp. Tausende Menschen fliehen Richtung Westen, wollen ausgeflogen werden. Sie haben Angst, dass die sowjetischen Soldaten sich an ihnen rächen für die Untaten der SS, für die Kriegsverbrechen der Wehrmacht.

Viele Kinder sind darunter, die aus den bombardierten deutschen Großstädten kommen. Um sie vor den Angriffen der Alliierten in vermeintliche Sicherheit zu bringen, sind sie im bis dahin vom Krieg verschonten Hinterpommern in Lagern untergebracht: Kinderlandverschickung nennt das NS-Regime das.

Wer es nach Kamp schafft, auf den Flughafen, glaubt sich fast schon in Sicherheit. Im Viertelstundentakt starten die Dornier-Flugboote vom Kamper See Richtung Swinemünde oder Rügen. Sie sind vollbeladen, überladen mit Flüchtlingen.

Die Dornier-Wasserflugzeuge sind keine Passagier- oder Transportmaschinen, sie sind für die Rettung Schiffbrüchiger ausgerüstet, für maximal 16 Personen ausgelegt. Die Do-24, die am 5. März 1945 abhebt, hat mindestens 78, andere sagen mehr als 80, Passagiere an Bord. Die meisten sind Kinder. Entsetzt sehen die Wartenden am Ufer des Kamper Sees, wie sie aus rund 80 Metern Höhe abstürzt und sofort versinkt. Kein einziger Insasse taucht wieder auf.

Lange bleibt die genaue Absturzursache unklar. Sind die nicht angeschnallten Kinder in der steigenden Maschine nach hinten gerutscht, haben sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Augenzeugen berichten, drei in die Nähe des Sees vorgerückte russische Panzer hätten auf das Flugzeug geschossen. Eine Untersuchung findet nie statt: Nach dem Krieg wird der See militärisches Sperrgebiet. Die Leichen der Kinder von Kamp liegen bis heute unter seinen Wellen.

2001 wird der See wieder zugänglich. Geschichtsinteressierte stellen erste Nachforschungen an. 2009 finden Taucher die Trümmer des Wracks – darunter rostige Metallteile, in denen etwas steckt, was sie für die Überreste einer russischen Panzergranate halten. Das Wrack steckt tief im Morast. Eine Bergung der Leichen scheint aussichtslos.

Doch dann wird Zdzis?aw Matusewicz 2010 Bürgermeister der Stadt Trzebiatów, zu der die Ortschaft Kamp, heute Rogowo, inzwischen gehört. Die Kinder hätten ihm keine Ruhe gelassen, sagte er Cicero Online: „Ich kann nicht unbeschwert zum Ufer des Sees gehen. Er ist für mich ein offenes Grab, die Sache ist nicht erledigt.“

Wer in Polen anspricht, dass auch Deutsche Opfer des von Deutschen angezettelten Zweiten Weltkrieges wurden, hat es nicht immer leicht. In Hinterpommern sei das ein wenig anders, sagt Bürgermeister Matusewicz: Hier leben viele Polen, die zu Warschauer-Pakt-Zeiten aus anderen Gebieten umgesiedelt wurden: „Ich denke, dass unser Projekt der gesamten Gemeinschaft von Trzebiatów dient. Es ist eine besondere Gemeinschaft, wie wir alle in den wiedergewonnenen Gebieten.“

Er selbst ist in Vilnius geboren, der heutigen Hauptstadt Litauens. Seine Familie wurde kurz nach seiner Geburt von den Sowjets vertrieben: Josef Stalin verfolgte eine brutale Politik der ethnischen Säuberung. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen „ist hier“, sagt Matusewicz, „wir können nicht davor fliehen. Zu dieser Geschichte gehört meine Anwesenheit in diesem Gebiet – hier ist meine Heimat, auch wenn ich anderswo geboren bin“.

Matusewicz, studierter Politologe und Journalist, will „das Flugzeug heben und die Kinder begraben. Ich denke, dass wir damit auch für uns etwas Gutes tun“. Aber sein Projekt kostet Geld, mehr Geld, als Trzebiatów, das früher Treptow an der Rega hieß, bezahlen kann. Der Bürgermeister sucht Verstärkung und findet sie beim deutschen Volksbund für Kriegsgräberfürsorge, der bei der Suche nach Spenden hilft.

Ein Unternehmer aus Baden-Württemberg macht es mit einer Zuwendung möglich, dass im vergangenen Winter die Lage des Wracks exakt vermessen werden kann. Ingenieure einer Spezialfirma nutzen aus, dass der Kamper See im frostigen Januar fest zufriert, und sondieren von der Eisfläche aus die Fundstelle. 800 Meter vom Nordufer liegt das Wrack, Teile bedecken eine Fläche von 18 Quadratmetern.

Bis zur Hebung ist es noch ein langer, teurer Weg: Sperrwände müssen wahrscheinlich gebaut werden, um den Schlamm abpumpen zu können. Der Bürgermeister lässt nicht locker. Er hat das Dornier-Museum in Friedrichshafen als Partner gewonnen, hofft auf Geld der dazugehörigen Stiftung. Auch zwei Zeitungen, der Kurier Szeczi?ski aus Stettin und der Nordkurier aus Neubrandenburg, unterstützen das Projekt.

„Der einfachste Weg“, sagt Bürgermeister Matusewicz, „wäre es, nichts zu tun. Aber der größte Feind des deutsch-polnischen Versöhnung sind Stereotypen, das Vereinfachen, das Vermeiden schwieriger Themen, das Gehen des einfachen Weges. Unser Projekt  richtet sich an junge Menschen.“

Wer die Toten im Kampener See sind, ist unbekannt, mit Ausnahme der vier Besatzungsmitglieder. Der Nordkurier fand nur den Namen einer Mutter heraus, die mit ihren fünf Kindern in der Do-24 ertrank. Am Jahrestag des Absturzes, sei er nun ein Unglück oder ein Abschuss, gedenken Polen und Deutsche gemeinsam in einer ökumenischen Andacht der Opfer – zum ersten Mal seit dem Tod der Opfer vor 67 Jahren.

 

In einer früheren Version hieß es in der Überschrift "Kampener See", richtig ist "Kamper See".

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