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Robert Crumb erzählt die «Genesis»: Seit Jahrhunderten gibt es biblische Bildergeschichten. Der jüngste Band des amerikanischen Star-Zeichners aber ist ein Meisterwerk des psychedelischen Comic

Natürlich, sagt Robert Crumb, sei dies die erste und schwierigste Frage, wenn man einen Comic über die biblische Schöpfungsgeschichte zu zeichnen versucht: Welche Form soll man Gott geben? Ist Gott ein Licht im Himmel, aus dem Sprechblasen kommen? Oder eine schöne, schwarze, lesbische Frau? Doch Gott hat es Crumb dann recht einfach gemacht: Vor fünf Jahren, als der Comiczeichner gerade mit den Skizzen zu seinem «Genesis»-Projekt begann, erschien Gott ihm im Traum: «Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, damit ich erkennen konnte, wie er aussieht. Er hatte einen langen weißen Bart und erweckte einen maskulinen Eindruck dabei.» Im Grunde, so Crumb, sah Gott aus wie sein Vater.

Lange bevor Gott seinen Sohn unter die Menschen entsandte, erschuf er bekanntlich Himmel und Erde; er teilte Land und Wasser und verteilte dort Pflanzen, Tiere und sonstige Lebewesen. Wort für Wort, Szene für Szene hat Robert Crumb die biblische «Genesis», das 1. Buch Mose, in die Form eines Comic übertragen: vom Bild der Leere, aus der alles entsteht, über die Erschaffung von Adam und Eva, den Sündenfall, die Sintflut und die Gründung der israelitischen Stämme bis zur Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Er illustriert die Geschichte des Turmbaus zu Babel und schwelgt in den Bildern der alttestamentarischen Apokalypsen: etwa in jenen Erdbeben und Feuersbrünsten, in denen sich der Zorn des Allmächtigen auf die Städte Sodom und Gomorrha entlädt.

Doch noch die drastischsten Szenen erscheinen hier nicht plakativ oder schrill. Durchgehend ist die Bildsprache dieses Comic vielmehr von der Aura einer sonderbaren Demut erhellt. So verhält es sich auch mit dem Text: Crumb erlaubt sich keine Kürzungen, keine deutlichen Interpretationen oder gar ironisierende Karika­turen. Die Geschichte folgt exakt dem Buchstaben der Heiligen Schrift. In den Sprechblasen und Kommentarblöcken gibt er wortgetreu den Text der King James Bible wieder; die deutsche Ausgabe folgt der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung aus dem Jahr 1912. Dies war die historisch jüngste Version, an der keine Rechte mehr bestehen. Für den Abdruck neuerer Fassungen, erläutert der Hamburger Carlsen Verlag, habe die Deutsche Bibelgesellschaft
nicht die nötige Genehmigung erteilt; in dieser Institution herrsche gegen Comics wohl immer noch ein generelles Misstrauen.

Das ist aber auch schon der schärfste Widerstand, dem ein Bibel-Comic wie dieser heutzutage begegnet. Anders als manche Anhänger des islamischen Propheten beginnen Christen nicht zu morden und zu plündern, wenn jemand ihre Heilige Schrift illustriert und den Text der Offenbarung in Sprechblasen fügt. Im Gegen­teil: In den letzten Jahrzehnten haben die Kirchen nicht selten selbst Comic-Versionen biblischer Stoffe in Auftrag gegeben, als pädagogischen Versuch, junge Leute auf diese Weise für ihren Glauben zu interessieren.


Vom konservativen «Bible Belt» zu den Hippies

Tatsächlich sind Bibel-Comics fast so alt wie die Gattung des Comic-Hefts selbst. «Picture Stories From the Bible», Bildergeschichten aus der Bibel, hieß die monatlich erscheinende Serie, mit der der jüdisch-amerikanische Verleger Maxwell Gaines 1942 seinen Educational-Comics-Verlag lancierte. Da war es gerade erst vier Jahre her, dass mit Superman und Batman die ersten Comic-Heft-Helden überhaupt in den Kampf gegen das Böse gezogen waren. Doch Verleger wie Gaines – obgleich er selbst an der Entwicklung der Superhelden-Figuren beteiligt war – mochten das Genre nicht ganz dem grellen Abenteurertum überlassen; sie wollten auch Volkspädagogik und Aufklärung der Jugend. In einem einflussreichen Essay stellte Gaines die modernen Comics ausdrücklich in eine Traditionslinie mit den moralisch erbaulichen Bilderserien der frühen Neuzeit – und mit den Biblia Paupera, den Armenbibeln, in denen die biblischen Geschichten für das analphabetische Pub­likum des späten Mittelalters bildlich dargestellt wurden.

Neben den Superhelden-Geschichten wurden Reihen mit religiösen und historischen Inhalten jedenfalls zum wichtigsten Genre der frühen Comic-Hefte; nicht selten waren dieselben Zeichner in beiden Bereichen tätig. Das änderte sich auch nicht, als die Superhelden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung verloren und an ihre Stelle Horror- und Crime-Comics traten – und schließlich die ätzenden Massenkultur-Satiren des «Mad»-Magazins seit 1952. Im Gegenteil: Gerade die «Mad»-Zeichner, zumeist jüdische Migranten der zweiten Generation, sahen zwischen Satire und Frömmigkeit keinen Widerspruch; man betrachte die prall-archaischen Bibel-Illustrationen, die der «Mad»-Zeichner Basil Wolverton damals verfertigte und die gerade im Reprint wieder veröffentlicht wurden.

Dass Comics in den Ruch der Blasphemie gerieten – dieser Verdacht entstand erst mit den Underground Comix der sech­ziger Jahre. Hier gehörte der Bruch mit Tabus jedweder Art – sei es politischer, sexueller oder eben religiöser Natur – zum Kern­bestand des Emanzipationswillens. Nicht umsonst hieß einer der ersten selbstverlegten Underground-Titel «The Adventures of Jesus». Darin arbeitete der Autor Frank Stack alias Foolbert Sturgeon seine traumatische Kindheit im konservativen amerikanischen Bible Belt auf – indem er den Sohn Gottes auf eine Odyssee durch die von Bigotterie und kirchlicher Repression geprägte Gesellschaft schickte und schließlich, wo sonst?, bei den jesusgleich befreiten Hippies landen ließ.


Körper, die sich dem Betrachter entgegenwölben

Auch Robert Crumb, 1943 geboren, begann Mitte der sechziger Jahre seine Karriere im Umfeld der Underground Comix. Eine seiner ersten Figuren, der rauschebärtige, glatzköpfige, stets in einem langen weißen Gewand auftretende Mr. Natural, lässt sich als Karikatur des lieben Gottes ansehen – allerdings eine Karikatur, die nicht offensiv blasphemisch wirkt, sondern die stereotypen Gottes-Darstellungen aus der Kulturgeschichte mit den Selbst­inszenierungen des erblühenden Hippietums kreuzt. Mr. Natural erscheint als rätselhafter, allwissender, aber auch stets von seiner Umwelt überforderter Prophet. In den siebziger Jahren wird er – ein Schicksal, das er mit vielen Propheten teilt – von seiner
genervten Umwelt kurzerhand in die Klapsmühle gesteckt.

Zu diesem Zeitpunkt war sein Erfinder Crumb längst aus dem Underground zum prominentesten und prägendsten Comic-Zeichner seiner Generation aufgestiegen. Das lag am Witz seiner Geschichten, an der Vielfalt seiner ironischen Identifikationsfiguren und nicht zuletzt an seiner zeichnerischen Brillanz. Während die meisten Underground-Zeichner – sei es aus Protest gegen den standardisiert-virtuosen Comic-Mainstream, sei es aus schlichtem Talentmangel – einen betont dilettantischen Stil pflegten, entwickelte Crumb aus dem dünnen Gestrichel seiner ersten Geschichten bald einen unerhört sicheren, kraftvollen, körperbetonenden Strich: als verschmölzen die Ornamente der psychedelischen Grafik mit dem harten Sozialrealismus von Kupferstich-Illustratoren wie William Hogarth oder George Cruikshank aus dem 18. und 19. Jahrhundert. So plastisch, kraftvoll, energiegeladen wurden die Körper in Crumbs Kosmos, dass sie sich dem Betrachter aus der Bildfläche schier entgegenzuwölben schienen: insbesondere die gewaltigen, Angst und Lust auslösenden weiblichen Figuren, denen der Zeichner in seinen immer offenherziger – und frauenverachtender – werdenden Sex-Phantasie-Bekenntnissen nachstellte.

In den späten siebziger und achtziger Jahren wurde Crumb zu einem Meister des Körper-Bilds. Seine Figuren krümmten den Raum; sie verstärkten und unterminierten die Illusion der dreidimensionalen Darstellung; sie brachten die Fluchtlinien und Felder ins Auge, aus denen die unablässig bewegten Dinge im unbeweglichen Bild ihr Eigenleben entfalten. Die comic-typische Kunst der Rhythmisierung des Blicks – der unaufhörlich zwischen Bildern und Texten, Schauen und Lesen zu wechseln hat – erweiterte Crumb um dessen rhythmische Irritation mit kunstvollen Schraffuren und Mustern. Im Wechselspiel von grob-physischer Körperlichkeit und vielgestaltig flirrenden Hintergründen erhielten seine Comic-Figuren, was in diesem scheinbar so geheimnislosen Medium bis dahin ausgeschlossen schien: eine Aura.


Jeder Stammesvater erhält sein eigenes Gesicht

Es ist diese sonderbare Auratisierung der Körper, die nun auch Crumbs «Genesis» auszeichnet. Der Band ist weit mehr als eine rein pädagogische Illustration der biblischen Geschichten oder ein akkurater Historien-Comic. So wenig sich über seine «Mr. Natural»-Comics sagen ließ, ob sie wirklich blasphemisch seien oder nicht, so wenig lässt sich in dieser «Genesis» ausloten, ob sie echter Religiosität entspringt oder lediglich aus einem Interesse an der Bibel als literarischem Text. Sichtbar ist jedenfalls eines: eine  tiefe Demut vor dem Buchstaben der Offenbarung. Doch zeigt sich diese Demut gerade nicht im Versuch, eine Bildsprache für das Transzendente zu finden. Crumbs «Genesis» handelt vom rein Diesseitigen, vom Menschen, vom Fleisch und von Körpern. Die visuelle Kraft seiner Bibel-Geschichten liegt nicht in der Bebilderung der mythischen Szenen, sondern in den Menschenbildern, die er entwirft. Darin zeigt sich die ganze Tragweite der Entscheidung, den Bibel-Text ohne Raffung, bis in den letzten Satz, wiederzugeben. Jeder Abkömmling Abrahams, jeder neue Stammesvater, der in den biblischen Familienbäumen benannt wird, erhält auf diese Weise ein eigenes, unverwechselbares Gesicht, eine eigene Mimik, eine eigene innere Bewegtheit. Jeder, der mit den unergründ­lichen Ratschlüssen des Schöpfers kämpft, mit dessen Zeichen, Befehlen und Wundern, erglüht bei Crumb durch ein indivi­duelles Staunen, Zaudern und Sorgen.

Dieses innere Glühen, diese Verstörtheit, diese Unruhe kennt man bereits aus Crumbs alten Bekenntnis-Comics. Nur hat der Zeichner dort die masochistische Lust am sexuellen Bedrohtwerden in die angstbesetzte Beziehung der Menschen zu ihrem noch sehr konkreten Schöpfer verlegt. Crumbs «Genesis» zeigt eine Menschheit im Werden: gleichermaßen geprägt von der hörigen Unterwerfung unter die göttliche Autorität und von der allmählich fortschreitenden Ausbildung eines autonomen Ich. In dieser Ambivalenz wirken die Menschen selbstbestimmt und manipuliert, hoch präsent und abwesend zugleich, erleuchtet und von Mühsal beladen. Oder anders gesagt: Viele von Crumbs Bibel-Figuren sind eigentlich ziemlich stoned, mit ihren offenen Mündern und leicht ausdruckslosen Augen.

Doch wirken ihre Gesichter dabei nicht starr, sondern vielmehr im Zustand eines Übergangs kristallisiert, der dem ganzen Bild eine innere Bewegtheit verleiht. Wie kaum ein anderer Comic-Zeichner versteht es Crumb, jene ästhetische Zwischenzeit einzufangen, die Roland
Barthes einst «Punctum» genannt hat: Man betrachte Adam und Eva in jenem Moment, in dem Gott ihnen die Wunder der Schöpfung vorführt; und man vergleiche die winzige, aber wirkungsvolle Verschiebung der Mimik in jener Szene, in der sie nach dem Biss in den Apfel der Erkenntnis die eigene Nacktheit bemerken.

So wird die «Genesis» hier zum späten Hauptwerk des psyche­delischen Comic: von Myriaden von Menschen bevölkert, die sich gleichermaßen auf der Suche nach einem Bewusstsein be­finden und doch erst noch lernen müssen, in ihren Körpern, im Fleisch zu leben. Das Materielle und das Transzendente, den Mythos und dessen Überwindung hat Robert Crumb in eine Konstel­lation gebracht, die nicht nur in den Comics ihresgleichen sucht.

 

Jens Balzer arbeitet als Redakteur für Popkultur bei der «Berliner Zeitung». Im Herbst erscheint (gemeinsam mit Lambert Wiesing) «Outcault. Die Erfindung des Comic».

 

Robert Crumb
Robert Crumbs Genesis
Carlsen, Hamburg 2009. 228 S., 29,90 €

Basil Wolverton
The Wolverton Bible. The Old Testament & Book of Revelation Through the Pen of Basil Wolverton
Fantagraphics Books, Seatle 2009. 320 S., 18,99 €

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