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(picture alliance) Roald Amundsen 1911 auf dem Weg zum Südpol

Roald Amundsen - Die schlimmste Reise der Welt

Was treibt Menschen ins Eis? Wie glaubhaft sind die Berichte derer, die dort zu Helden geworden sind? Vor 100 Jahren pflanzte Roald Amundsen seine Flagge am Südpol. Vom Überleben im Extrembereich

Die Ponys sind besonders schlimm, die Ponys, die durchdrehen, ins Wasser springen und mit dem Eispickel erledigt werden müssen, weil die Munition knapp ist. Doch allen Einwänden zum Trotz hatte sich Robert Falcon Scott gegen Schlittenhunde und für Ponys entschieden, um seine Ausrüstung über das antarktische Hochplateau nach Süden zu transportieren. Wie die in den Gruben Nordfrankreichs erblindeten Lastgäule, die Emile Zola beschrieben hatte, oder die im Eis eingefrorenen Kavalleriepferde am Rand des Ladogasees, die den Kriegsberichterstatter Curzio Malaparte entsetzten, geben Scotts Ponys ein trostloses Sinnbild ab: für den Unstern, der über der englischen Südpolexpedition von 1911 stand. Für die Verkennung der Lage, das Leiden der Kreatur. „Die schlimmste Reise der Welt“ hat Scotts Crewmitglied Apsley Cherry-Garrard seinen Expeditionsbericht getauft. Am schlimmsten war an dieser Unternehmung der Rückmarsch der fünfköpfigen Polgruppe, nachdem sie feststellen musste, dass der Norweger Roald Amundsen ihr mit seinen wendigen Hundeschlitten knapp zuvorgekommen war. Nach und nach gingen die Verlierer an Hunger und Kälte zugrunde. In England sind ihre letzten Worte noch heute berühmt. Bevor Captain Lawrence Oates das Zelt verließ, um im Schneesturm den Tod zu suchen, sagte er: „Ich gehe hinaus und bleibe vielleicht einige Zeit draußen.“  Für die Nachwelt überliefert hat das Expeditionsleiter Scott, dessen Tagebuch die vergeblichen Retter in den Armen seiner Leiche fanden: „Ich glaube nicht, dass ich weiterschreiben kann“ , lauten die letzten Zeilen. „Schickt dieses Tagebuch meiner Frau.“  Besonders erschütternd: Der gewissenhafte Kommandant hatte mit ersterbenden Kräften das Wort „Frau“  ausgestrichen und durch „Witwe“  ersetzt. Das Tagebuch bewahrt die Spur von Scotts letzten qualvollen Minuten. Die eingelegten Abschiedsbriefe werden bis heute als wertvolle Autografen gehandelt.

In seinem Essay über Louis Bonaparte befindet Karl Marx, dass sich alle Episoden der Weltgeschichte zwei mal ereignen: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Dieses Aperçu gilt auch für die Eroberung der Pole, bloß mit umgekehrter Reihenfolge: Der rein amerikanisch ausgetragene Wettlauf zum Nordpol von 1909 trägt alle Züge einer Farce, schließlich wissen wir bis heute nicht, ob Robert Peary oder Frederick Cook oder keiner von beiden sein Ziel jemals erreicht hat. Die Beweisfotos der Rivalen zeigten flatternde Fahnen und winkende Männer inmitten der Eiswüste. Dem heroischen Hirngespinst fehlte eine sichtbare geografische Referenz. Und Karl Kraus wusste schon damals, dass die Welt einem leeren Zeichen nachjagte: „Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als dass er nicht erreicht wurde.“

Am Südpol sahen die Dinge anders aus. Zwar suchten sich die beiden Parteien auch diesmal nach Kräften zu desavouieren. „Eine Niederlage ist denjenigen sicher, die vergessen haben, rechtzeitig die notwendigen Vorkehrungen zu treffen“ , urteilte Amundsen über Scott. Umgekehrt stellten die Briten Amundsen als skrupellosen Profi dar, der seinen Plan, am Südpol ein Wettrennen anzuzetteln, bis zuletzt verheimlicht hatte. Über die Rechtmäßigkeit von Amundsens Sieg konnte dennoch kein Zweifel bestehen. Noch schwerer wog allerdings die Tragik von Scotts Niederlage. Ihre erschütternde Evidenz hat die Erinnerung an den strahlenden Sieger fast ausgelöscht. Sie verleiht der Eroberung des Südpols ihre existentielle Wucht. Der Irrsinn der Ausrüstung, das Unglück im Unglück, der stoische Drill bis zum letzten Atemzug: Das hat eine schaurige Größe, der man sich schwerlich entziehen kann. Der härteste Stoff sind bis heute Scotts Tagebücher. Doch auch der Leser von Christian Jostmanns soeben erschienenem „Das Eis und der Tod“  kommt auf seine Kosten – obwohl die romanhaften Dialoge im Sachbuch nicht immer zu überzeugen vermögen. Wer die Gründe der Katastrophe erklären will, muss weit vor das Jahr 1911 zurückgehen. Denn Scotts Untergang hat viel mit den sperrigen Traditionen der Royal Navy zu tun.

Am Anfang war Napoleon – der Satz passt im 19. Jahrhundert eigentlich immer. Der Kampf gegen Frankreich hatte Englands Marine auf das Vielfache ihrer Vorkriegsgröße anschwellen lassen. Nach Waterloo plötzlich überflüssig, wanderte ein Großteil dieser Schiffe in die Docks. Die Jahre nach Napoleon sind die Zeit der überalterten Admirale und blockierten Karrieren. Die Helden von Trafalgar wurden auf Halbsold gesetzt, und viele verfielen dem Alkohol. Es war der Admiralitätssekretär John Barrow, der nun ein großes Polarprogramm auflegte: eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Seeveteranen im Vorruhestand. Schwerter zu Pflugscharen lautete Barrows Devise, aus schwimmenden Festungen sollten Expeditionsschiffe werden. Auf seiner Agenda stand dabei weniger der Nordpol selbst als die sagenumwobene Nordwestpassage, der kurze Seeweg nach Indien im Norden des amerikanischen Kontinents, von dem englische Seefahrer seit den Tagen Shakespeares träumten. Von 1818 an drangen britische Expeditionen wieder bis Grönland und Labrador vor. Ein Archipel aus Inseln, Fjorden und Wasserstraßen wurde kartiert; eine Flottille von Schiffen fror im Eis ein; es gab Hunger, Skorbut, ein paar Fälle von Meuterei und jede Menge Heldentum. Die Nordwestpassage entdeckte indessen niemand.

Die Expedition, die 1845 schließlich die Wende erzwingen sollte, gehört längst zu den großen Mythenstoffen. Sir John Franklin: Der Name evoziert viktorianische Welteroberung, bleiverlötete Konservendosen und – seit Sten Nadolnys Entschleunigungsphantasie „Die Entdeckung der Langsamkeit“  – einen Kommandanten, dessen Kraft in seiner fast lethargischen Ruhe lag. Auch der historische Franklin war weniger für sein Draufgängertum als für stoische Sanftmut berühmt. Während einer früheren Expedition auf dem kanadischen Festland hatte er beinahe übermenschliche Nehmerqualitäten bewiesen. Die Admiralität gab ihm die „Erebus“  und die „Terror“  an die Hand – die martialischen Namen verraten, dass es sich um ehemalige Kriegsschiffe handelte – und rüstete sie mit dem Besten aus, was ihre Depots zu bieten hatten. Damit sind weder Pelzanoraks noch Hundeschlitten gemeint. Das going native – also die flexible Anpassung an die naturgegebenen Umstände – begründete den Erfolg späterer Polarfahrer. Für die Königliche Marine kam es nicht in Frage. Auch im Eismeer hatten englische Schiffe Bastionen englischer Lebensart zu sein: von der zwölfhundert Bände umfassenden Bordbibliothek über feines Porzellan und Tafelsilber bis zu den Fleischvorräten in besagten Konservendosen. Wie der kanadische Anthropologe Owen Beattie 1984 herausfand, gingen Franklin und seine Begleiter nicht nur an Hunger und Kälte, sondern auch an einer schleichenden Bleivergiftung zu Grunde. Im Jahr 1845 schien jedoch das neu patentierte corned beef eine ebensolche Erfolgsgarantie zu sein wie die mit Wolle gefütterten Winteruniformen, die man zuletzt in der Ostsee getragen hatte, als es noch gegen Napoleon ging. Die Ausrüstung der Franklinexpedition offenbart die ganze Borniertheit des viktorianischen Weltprojekts.

Ihr spurloses Verschwinden und die epische Suchaktion, die nach jahrelanger Ungewissheit schließlich das ganze Ausmaß der Katastrophe zutage förderte, ließen die Seemacht England tief demoralisiert zurück. Die Entdeckung, dass die letzten Überlebenden ihre toten Kameraden gegessen hatten, überstieg das Fassungsvermögen einer Nation, die ihre Schiffe im hohen Ton moralischer Überlegenheit zu den Barbaren zu schicken pflegte. Bis auf weiteres zog sich die Royal Navy aus ihren Arktisaktivitäten zurück. Dafür hatte das Polarfieber in der Zwischenzeit die Amerikaner angesteckt. Ihr Entree auf der Bühne der hohen Breitengrade markiert einen Stilwechsel: Hatte schon Franklins spurloses Verschwinden die wildesten Hypothesen über den wahren Verbleib seiner Schiffe hervorgebracht, so gewannen nun solche spekulativen Geografien die Oberhand, die wir geneigt sind, für ein Opfer der modernen Kartografie zu halten. Die Nordwestpassage, das Herzstück der englischen Arktiskampagne, spielte keine Rolle mehr, seitdem eine der Rettungsmannschaften wie nebenbei festgestellt hatte, dass sie für den Schiffsverkehr völlig unbrauchbar war. In der zweiten Jahrhunderthälfte zählte nur noch der Nordpol selbst. 1854 sichtete der amerikanische Schiffsarzt Elisha Kent Kane im Westen von Grönland jenes „offene Polarmeer“ , das die Theoretiker bereits vorausgesagt hatten. „Kein Stückchen Eis war zu sehen“ , verzeichnet das Expeditionstagebuch. „Die Brandung brach sich an den Felsen.“  Nur dass sein Schiff weiter südlich im Eis eingefroren lag, hielt Kane davon ab, sich direkt zum Nordpol einzuschiffen. Doch das eisfreie Meer geisterte seither durch die Köpfe.

Auf der anderen Seite, am Südpol, war die geografische Einbildungskraft noch weniger als im Norden durch Empirie gebremst. In Kari Herberts und Huw Lewis-Johnes’ üppig bebilderter neuer „Biografie“  des Südpols „77° Süd“  lässt sich das anschaulich nachvollziehen: Wie ein großes Ozonloch schwebt auf den älteren Karten über der Antarktis ein weißer Fleck. John Cleves Symmes, ein Unteroffizier a. D. aus St. Louis, schloss dieses Unwissen mit dem „mundus subterraneus“  kurz, Athanasius Kirchers barocker Unterwelt aus dem 17. Jahrhundert. In den 1820er Jahren tourte Symmes mit einem kunstvoll gedrechselten Holzglobus durch den Mittleren Westen, mithilfe dessen er seinem Publikum demonstrierte, wie sich sieben konzentrische Sphären im Innern der Erdkugel ineinander schachtelten. Weil Symmes die Eingänge in diese Hohlwelt an den Polen vermutete, trommelte er lautstark für eine amerikanische Polarexpedition. Bald folgte ihm ein Pulk von „Symmesianern“ . Kein Geringerer als Edgar Allan Poe war ein Anhänger der Hohlwelttheorie. Entgegen manchen Hoffnungen gelang es der 1838 entsandten amerikanischen Exploring Expedition to the far South unter Marinekapitän Charles Wilkes jedoch nicht, bis zum Einstieg ins Erdinnere vorzudringen, ein Bravourstück, das Poes literarischem Helden Arthur Gordon Pym vorbehalten blieb. Die ebenfalls 1838 veröffentlichten „denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“  enden mit einem Cliffhanger: Auf warmem, milchigem Wasser gleitet der Held auf den Mahlstrom am Südpol zu.

Poe hat seine Leser nie mit einer Fortsetzung beglückt. Doch die Theorie von der hohlen Erde driftete weiter wie mythologisches Treibgut durch die Zeit. Sie suchte die phantastische Literatur heim, führte zur Gründung der Koreshaner-Sekte, faszinierte Neognostiker wie C. G. Jung und flackerte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal auf, als ein in Mar del Plata, Argentinien, auftauchendes deutsches U-Boot zu Spekulationen Anlass gab, Hitler habe sich in ein Höhlensystem unter dem Südpol gerettet. Ob dieses Gerücht auch den MI6 umtrieb, der seinen Agenten Hugh Trevor-Roper 1945 ins zerbombte Berlin schickte, um nach den sterblichen Überresten des deutschen Diktators zu suchen?

Nach allem, was ihren Helden Franklin und Scott zugestoßen war, müssen die Polkappen für die Engländer traumatische Territorien gewesen sein. Es ist erstaunlich, dass sich die Royal Navy nach der Franklin-Katastrophe überhaupt ins ewige Eis zurückwagte. Doch befinden wir uns in den Kulissen des „langen 19. Jahrhunderts“ : in einer Epoche des politischen Gleichgewichts zwischen den europäischen Mächten, das vom Ende Napoleons bis zum Ersten Weltkrieg reicht. In der Zwischenzeit gab es keinen großen Krieg. Die englische Marine stand zwar wieder weltweit im Feindkontakt, aber das waren überschaubare Kolonialkriege. Solange das „Krebsgeschwür anhaltenden Friedens“  (so der Stoßseufzer eines Seeoffiziers) wucherte, lockten Arktis und Antarktis als kalter Ersatzkonflikt.

Während amerikanische und skandinavische Polarforscher das moderne Expeditions- Zeitalter einläuteten, während sie lernten, wie man Iglus baut und Hundeschlitten steuert, verfiel die Admiralität in den 1870er Jahren daher auf alte Muster, als sie Kapitän George Nares mit zwei großen Kriegsschiffen in arktische Gewässer schickte. „Unmöglichkeit Nordpol zu erreichen bewiesen“ , lautete dessen ernüchterndes Resultat. Die Times, die zur Fraktion der Skeptiker gehörte, nahm spätestens jetzt kein Blatt mehr vor den Mund. Die Bereitschaft, für ein geografisches Phantom Menschenleben zu riskieren, schrieb sie, entspringe der „Phantasie eines kranken Gehirns“ . So wurde es in London künftig schwierig, Unterstützung für weitere Arktis-Abenteuer einzuwerben.

Dass England trotz allem in sein Drama am Südpol geriet, hat mit imperialer Selbstüberschätzung und dem Zauber der Literatur zu tun. Das britische Empire oder der Umstand, dass man vor 1914 von London nach Sydney und von Kapstadt nach Bombay segeln konnte, ohne sich jemals im Ausland – „abroad“  – zu fühlen, begünstigte eine Weltsicht, für die auch der Südkontinent von Natur aus britisch war. Sir Clements Markham, der Präsident der Royal Geographical Society, steckte diese Weltsicht mit einer Jungenphantasie an. Seitdem er als Neunjähriger die Polarliteratur seiner Zeit verschlungen und als junger Fähnrich sogar selbst an einer Franklin-Rettungsexpedition teilgenommen hatte, war er dem Zauber des ewigen Eises verfallen. Kurz vor der Jahrhundertwende startete er seine Kampagne zur Eroberung des Südpols. In die Jahre gekommener Polar-Romantiker, der er war, tat alles dafür, dass die Expedition, die Scott in den Süden führte, einen Zuschnitt bekamen, wie er zur Zeit seiner Jugend üblich gewesen war: mit üppiger Ausrüstung, einer vielbändigen Bordbibliothek, mit schweren, massiven Schlitten, die von Menschen oder Pferden, aber nicht von Hunden gezogen werden konnten. Wie Diana Preston in ihrer kontextreichen Darstellung „In den eisigen Tod“  nun ausführt, machte sich Markhams Protégé Robert Scott das Ethos seines Mentors gehorsam zu eigen: „Keine Reise, die je mit Hunden unternommen wurde“ , schrieb er pathetisch, „kann dem Gipfel jener schönen Vorstellung nahe kommen, die erreicht wird, wenn eine Gruppe von Männern loszieht, um sich aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe Entbehrungen, Gefahren und Schwierigkeiten zu stellen.“

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Die Architekten großer und kleinerer Menschheits-Katastrophen sterben für gewöhnlich hoch betagt in ihren Betten. Clements Markham macht da keine Ausnahme. Er schied im biblischen Alter von 85 dahin – in einem Bett allerdings, das lichterloh in Flammen stand. Noch im Weltkriegsjahr 1916 – die elektrisierte Moderne hatte längst begonnen – bestand der Nostalgiker darauf, beim Schein von Kerzenlicht zu lesen. Die Glühbirne, die er nicht hatte anschalten wollen, hing wie ein Fanal über seinem verkohlten Bett.

Philipp Felsch ist Juniorprofessor für Kulturwissenschaft an der Berliner  Humboldt-Universität. Zuletzt erschien sein Buch «Wie August Petermann den Nordpol erfand».

Christian Jostmann: Das Eis und der Tod. Scott, Amundsen und das Drama am Südpol, C.H. Beck, München 2011. 320 S., 19,95 €

Kari Herbert, Huw Lewis-Jones: 77° Süd – Entscheidung am Südpol, Aus dem Englischen von Simone Gruber und Frank M. von Berger. Theiss, Stuttgart 2011. 192 S., 29,90 €

Diana Preston: In den eisigen Tod. Robert F. Scotts Expedition zum Südpol, Aus dem Englischen von Sylvia Höfer. DVA, München 2011. 366 S., 22,99 €

Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt. Kapitän Scotts Tagebuch, Marixverlag, Wiesbaden 2011. 316 S., 24 €

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