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(picture alliance/Skulptur Thomas Poggenhans) Die Piraten als Konstrukt der Moderne: mit Transparenz schaffen sie das Vertrauen ab

Transparenz und Moderne - Die Piraten schaffen das Vertrauen ab

Die Piratenpartei vollendet das Projekt der Moderne konsequent im Politischen. Alles soll klar beweisbar sein. Doch wer vollständige Transparenz fordert, beseitigt dadurch das Vertrauen. Eine Welt ohne Vertrauen aber ist zutiefst unmenschlich

Es heißt dieser Tage häufig, die Menschen hätten das Vertrauen in die Politiker verloren. Dieser Meinung ist offenbar auch die Piratenpartei, die bereits eine Lösung für das Problem parat hat: Vertrauen zu Politikern, so die gleichermaßen verführerische wie kurzsichtige Auffassung, könne einfach dadurch wiederhergestellt werden, indem das Volk alles von ihnen wissen soll. Das neue Dogma heißt Transparenz. Es erzeugt die Illusion einer vollkommen kommunizierbaren Politik.

Dabei wird übersehen, dass Vertrauen, das in der Vergangenheit zum Beispiel durch zahlreiche wertlose Ehrenwörter oder Amigo-Affären verloren gegangen ist, allein durch integres Verhalten wiederhergestellt wird – und nicht durch Allwissenheit. Doch genau die fordert der, der sich für  vollständige Transparenz einsetzt.

Transparenz bedeutet so viel wie Durchsichtigkeit, Klarheit. Die Forderung nach Klarheit ist allerdings keine Erfindung der Piraten. Bereits vor rund 400 Jahren taucht sie das erste Mal an prominenter Stelle auf: Der französische Philosoph René Descartes legte in seinen berühmten „Meditationen“ fest, dass ein wahres Urteil „klar und distinkt“ sein müsse. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]

Descartes konnte damals nicht ahnen, dass er mit genau dieser Definition das Wesen der Moderne auf den Punkt gebracht hatte. Denn modern zu sein heißt, nicht mehr nur zu glauben, was sich aus Mythen, den Worten von Autoritäten oder der Religion herleiten lässt, sondern nur das zu wissen, was man eben klar und deutlich beweisen kann. Das Wesen der Moderne ist der Kampf gegen den Glauben. Zur gleichen Zeit setzte in Europa die Säkularisierung ein. Nach moderner Lesart ist das Kriterium für gutes und richtiges Denken nicht mehr der Inhalt, also was gedacht wird, sondern nur noch die Form, wie etwas gedacht wird. Das Sein gerät zugunsten der Vernunft in Vergessenheit. Auch der Mensch selbst mit all seinen Lebensproblemen, wie auch der deutsche Philosoph Martin Heidegger betonte.

Seite 2: Die gepflegte Verantwortungslosigkeit

Die Piraten und ihre Forderung nach Klarheit sind insofern durch und durch modern. Sie verschieben die Grundlage der Politik weg vom gegenseitigen Vertrauen hin zu rein formalen Aspekten. Sie fordern vom Politiker, dass es nicht mehr das geringste Geheimnis um ihn gibt. In diesem Falle ist es aber rein begrifflich schon nicht mehr möglich, einem Politiker zu vertrauen, weil man ja alles von ihm weiß, worauf der Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han hingewiesen hat.

Wer also Transparenz fordert, schafft zugleich eine wesentliche menschliche Praxis – das gegenseitige Vertrauen – ab. An die Stelle des Vertrauens tritt umfassende Kontrolle. Doch die birgt immer die Gefahr in sich, extreme Dimensionen zu erreichen. Denn schließlich macht sich derjenige, der nicht vollkommen transparent ist, gerade dadurch verdächtig. Derart bedenkliche Züge können nur vermieden werden, wenn die Forderung der Piraten nach informationeller Selbstbestimmung für alle Menschen, also auch für Politiker, gilt. Es muss immer Sache eines jeden einzelnen Menschen sein zu entscheiden, wem er vertrauen kann. In ihrem Programm widersprechen sich die Piraten außerdem selbst: Denn die Forderungen nach mehr Freiheit und weniger Überwachung sind mit dem Anspruch vollständiger Transparenz unvereinbar.

Schließlich höhlt das Programm der Piraten das Konzept politischer Verantwortung aus. Denn wenn jeder politische Prozess basisdemokratisch und transparent sein soll, überträgt sich dadurch die Verantwortung für politische Entscheidungen auf jeden einzelnen. Es ist kein großes Geheimnis, dass nur die wenigsten Menschen Zeit und Gelegenheit haben, die entstehende Datenflut zu bewältigen und sich adäquat zu informieren. Es wird immer wenige geben, die besser informiert sind und die daher Entscheidungen in ihrem Sinne herbeiführen können. Auf diese Weise entsteht der Beruf des Politikers.

Doch in einer vollkommen transparenten Demokratie nach dem Modell der Piraten können Berufspolitiker nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil die Entscheidungen formal ja von allen getroffen werden. Die Folge ist die Herrschaft der besser Informierten. Dies ist im Übrigen das Problem, vor dem bereits Jean-Jacques Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag stand. Als oft übersehene Reaktion auf das Problem, Verantwortung nicht klar zuschreiben zu können, schlug er die Wahl von Abgeordneten vor. Er sah außerdem ein, dass ein derartiges Politikkonzept allenfalls für sehr kleine Staaten von wenigen tausend Einwohnern möglich sein könnte.

Seite 3: „Vernetzung produziert nicht Über-Intelligenz, sondern Banalität.“

Aber nicht nur bei den Fragen nach Transparenz und Verantwortung laufen die Piraten Gefahr, Form und Inhalt zu verwechseln – sondern auch bei der Fixierung auf eine fiktive Parallelwelt namens Internet: Denn nicht Maschinen generieren Inhalte, sondern Menschen. Doch die hochkomplexe Fähigkeit des Menschen zur Kommunikation wird drastisch eingeschränkt, wenn eine primitive Technik (wie ein Computer) als Vermittlungsmedium zum Einsatz kommt. Missverständnisse sind dann meist unvermeidlich. Da helfen auch aufgereihte Satzzeichen nichts, die offenbar von vielen schon mit einem angemessenen Ausdruck von Gefühlen verwechselt werden. Das Internet hat zweifellos seine Vorteile, die man als heute lebender Mensch sicherlich zu nutzen wissen sollte. Man darf dabei nur nicht die Beschränktheit dieser und jeder anderen Technik für Fragen menschlicher Lebensprobleme vergessen.

Auf die überschätzen Möglichkeiten des Internets hat auch der US-amerikanische Informatiker und Autor Jaron Lanier hingewiesen: „Die weltweite Vernetzung von Intelligenz produziert nicht Über-Intelligenz, sondern Banalität.“ Als Beweis dafür genügt ein Blick in die – unmoderierten – Kommentare zu den allermeisten öffentlichen Artikeln, Filmen, Fotos oder Blogeinträgen, die überwiegend nach demselben Schema ablaufen und deren Erkenntnisgewinn praktisch nicht vorhanden ist.

Die formalen Fragen danach, wie Politik gemacht wird und wie Kommunikation geschieht, können nur in einem Kontext betrachtet werden, in dem auch Inhalte Relevanz haben. Mögliche Antworten auf diese Fragen zeigen sich in Handlungen und Haltungen, also dort, wo Inhalt und Form zwangsläufig miteinander verbunden sind.

Das Paradox, in dem die Piraten sich befinden, ist also dieses: wollen sie Ernst genommen werden, müssen sie glaubwürdig sein. Glaubwürdigkeit ist mit Transparenz allein nicht zu erreichen. Dazu bedarf es nach wie vor einer vertrauenswürdigen Haltung.

Vertrauen lässt sich aber weder virtuell noch formal herstellen. Zieht man vom Themenkanon der Piraten die aus humanistischer Sicht problematische Forderung nach Transparenz und die Überbewertung des Internets für die Lösung menschlicher Lebensprobleme ab, kommt eine ganz gewöhnliche Partei zum Vorschein. Eine Partei, die sich wie alle anderen um das Vertrauen ihrer Wähler bewerben muss. Ob die Piraten dazu genügend echte Inhalte und kompetentes Personal haben, müssen sie erst noch beweisen.

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