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Daniel Ramirez Perez

Hashtag #Widerstand - Twitter schafft ein soziales Bewusstsein

Digitales Pfefferspray, politische Waffe der Vernetzten, Raute des Aufbegehrens: Twitter reduziert den Koordinationsaufwand und könnte so die Kommunikation grundlegend verändern. Doch es ist auch anfällig für Propaganda und typisch deutsches Besserwissertum

Autoreninfo

Alexander Pschera ist Publizist, Autor und Blogger. Er ist Geschäftsführer der Münchner Agentur Maisberger. Zuletzt erschien von ihm der Essay „Vom Schweben. Romantik im Digitalen“

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Die menschlichen abgründe des Unternehmens Facebook hat der Film „The social network“ ausgeleuchtet. Demnächst erscheint ein Buch, das ebenfalls von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat im Innern eines aufstrebenden Kommunikationsunternehmens handelt – doch diesmal heißt es Twitter. Geschrieben hat „Hatching Twitter“ der wichtigste Technologiekolumnist der New York Times, Nick Bilton. Das Buch kommt für Twitter zur Unzeit, denn man plant den Börsengang. Zugleich zeigt es, dass Twitter relevanter wird. Es könnte ein Signal dafür sein, dass bei den sozialen Medien eine Wachablösung ansteht.

Resistanbul - der Sound von 140 Zeichen


In der Wirklichkeit kündigt sie sich längst an. Der Aufstand in der Türkei – im Internetjargon: resistanbul – klang nicht nach Polizeisirenen, war auch nicht facebookblau, sondern hatte den Sound von 140 Zeichen: „Wir werden immer mehr und sind enthusiastisch. Wir sind in Alsancak. Wo seid ihr?“ „Der Internetzugang wird gesperrt. Ladet euch Programme herunter.“ „Kommt nicht in die Nähe der Polizeistation von Alsancak. Sie halten Autos an und verprügeln die Menschen.“ So klangen die Twitter-Nachrichten, die Tweets, für die türkische Demonstranten hinter Gitter wanderten.

Twitter spielte bei der schnellen Verbreitung von Informationen aus den türkischen Krisenherden eine große Rolle. Viele dieser Tweets enthielten schockierende Bilder von Polizeigewalt. Doch Erdogan hatte nicht unrecht, als er sagte, man könne auf Twitter auch „die größten Lügen“ finden. Als Informationsquelle sind die sozialen Medien genauso manipulierbar, wie es ein staatlicher Fernsehsender sein kann.

Das Risiko der Fehlinformation ist hoch: Ein Bild zeigte eine Menschenmenge auf der Bosporus-Brücke. Es wurde 500 Mal weitergeleitet – bis sich herausstellte, dass es nichts mit dem Aufstand zu tun hatte, sondern viel älter war.

Die Stärke von Twitter: Authentizität


Nicht Authentizität macht Twitter stark. Es ist sein enormes Koordinationspotenzial. Wie im ägyptischen Frühling organisierte sich auch in der Türkei der Widerstand gegen das Regime über die sozialen Medien. Demonstrationen wurden über Themenschwerpunkte, sogenannte Hashtags wie #direngeziparki, #geziparki oder #occupygezi geplant. Twitter verfügt über die politische Macht der Raute, des Hashtags (#). Mit diesem Zeichen lassen sich beliebig viele einzelne Nachrichten zu einem einzigen politischen Bewusstseinsstrom koordinieren.

Der Internettheoretiker Clay Shirky stellte folgende These auf: Politische Machthaber verfügen über definierte Kommunikationsstrukturen, die ihre Macht stabilisieren. Twitter stärkt Widerstandsgruppen, weil es den Koordinationsaufwand reduziert. Außerdem sorge Twitter für etwas, was bei militärischen Aktionen überlebenswichtig ist: für „geteilte Aufmerksamkeit“, „shared awareness“. Jeder Aktivist versteht die aktuelle Situation und weiß zugleich, dass die anderen seinen Wissensstand teilen. Das macht Gruppen stark.

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Auch im deutschen Wahlkampf wird Twitter eingesetzt. Einige Politiker nutzen es als Kampagnen-Plattform. Sascha Lobo rief jüngst das „Twitterbarometer“ ins Leben. Durch die Echtzeitmessung parteibezogener positiver oder negativer Schlagworte soll ein „stets aktuelles Bild der politischen Stimmung im Netz“ entstehen.
Ob das gelingt, scheint fraglich. Ein Netzmeinungsbild kann nur dann repräsentativ sein, wenn Anhänger aller Parteien gleichmäßig das Internet nutzen würden, was aber nicht der Fall ist. Damit ist einer „Netzobjektivität“, wie sie Lobo anstrebt, die Grundlage entzogen. Außerdem vereinfacht das „Twitterbarometer“ den demokratischen Diskurs zu einem Klickspiel, in dem der Impuls das politische Nachdenken ersetzt. Wer auf Twitter seine Stimme für eine Partei abgibt, der darf sich politischer Surfer nennen, aber nicht Wähler.

Twitter-Zahlen sind leicht manipulierbar


Im Frühsommer stieg Peer Steinbrück zum erfolgreichsten Twitter-Politiker auf. Mit 44 000 Followern überholte er Twitter-König Peter Altmaier von der CDU (42 800) und Marina Weisband von der Piratenpartei (39 200). Aber es kam heraus, dass 20 000 dieser Twitter-Follower gekauft waren – von wem, ist bis heute unklar. Man hatte sie dafür bezahlt, dem Kandidaten Steinbrück zu folgen, wozu bekanntlich nur ein Klick notwendig ist.

Twitter-Zahlen lassen sich leicht manipulieren – und sie sagen wenig über die aktuelle politische Stimmung, noch weniger über den Wahlausgang aus. Ein Zusammenhang zwischen der Anzahl an Twitter-Followern und abgegebenen Stimmen an der Urne ließ sich in den USA, wo Twitter im Wahlkampf eine große Rolle spielt, trotz intensiver statistischer Erhebungen nicht nachweisen.

Twitter transportiert keine eindeutigen Informationen und keine präzisen Absichten. Es ist ein Medium der Koordination. Seine Stärke besteht darin, Gleichzeitigkeit herzustellen. Twitter synchronisiert eine asynchron gewordene Gesellschaft.

Um Twitter zu erklären, hat der dänische Kommunikationsprofessor Jesper Taekke von der Århus University deshalb Niklas Luhmanns Systemtheorie zurate gezogen. Aus dem Blickwinkel Luhmanns betrachtet, koppelt Twitter Ich und Welt neu aneinander. Twitter schafft ein soziales Bewusstsein, wo Verrohung um sich greift.

Zusammenfinden im digitalen Raum


S-Bahn Berlin: Eine junge Frau wird belästigt. Niemand hilft. Verzweifelt zückt sie ihr Smartphone, setzt Tweets ab: „Ich werde von 4 Typen in der S-Bahn als Hure u Fotze beschimpft. Einer zündet ne Kippe an und sagt, er wird sie auf meiner Muschi ausdrücken.“ „Er holt seinen Schwanz raus, ich schreie ihn an. Die S-Bahn ist voll. Niemand geht dazwischen.“ „Er macht die Hose zu und geht auf mich zu. Seine Kumpels halten ihn ab. Ich steige an der nächsten Haltestelle aus und heule.“

 

 

Twitter funktioniert wie digitales Pfefferspray. Das Bild des Aggressors, via Twitter ins Netz gewandert, hält ihn von Schlimmerem ab. Twitter kann leisten, was unsere Gesellschaft nötig hat: eine Ad-hoc-Synchronisation von Ich und Masse. Es schafft einen digitalen Raum, der eine in Subkulturen zerfallene Gesellschaft verklammert.

Immer mehr junge Menschen kehren Zuckerbergs Netzwerk den Rücken. Im ersten Halbjahr 2013 hat Facebook in den USA 9 Prozentpunkte an Wertschätzung eingebüßt, wie eine Trendstudie herausfand. In einer neuen Harvard-Befragung gaben 40 Prozent der Jugendlichen an, wesentlich weniger Zeit auf Facebook zu verbringen als zuvor. 61 Prozent sagten sogar, sie würden sich immer häufiger längere Facebook-Auszeiten nehmen.

Twitter wurde durch Barack Obama zum öffentlichen Medium


Facebook hat ein Problem. Steckt dahinter eine generelle Unlust am digitalen Leben? Mitnichten. In den USA werden 2013, neuen Hochrechnungen zufolge, 164 Millionen Menschen soziale Netzwerke nutzen. Das entspricht einem Wachstum von 4,2 Prozent. Immer neue Kommunikationsangebote locken ins Netz. Kanäle wie Instagram, Vine, Tumblr, Reddit und Happier buhlen um die Gunst der müden Facebooker.

Der 2006 gegründete Microblogging-Dienst wurde erfunden als schlichte Internet-SMS, die darüber Auskunft gibt, wo man gerade ist und was man gerade tut. Dann wurde Twitter durch Obama zu einem öffentlichen Medium. „Thinking we’re only one signature away from ending the war in Iraq“. So lautete der erste Obama-Tweet am 29. April 2007, und er zeigt, was Twitter in der Politik leisten kann – eine gespaltene Gesellschaft mit einem einzigen Satz zu synchronisieren.

Facebook bleibt hinter Twitter zurück


In Deutschland hat Twitter im vergangenen Jahr seine Präsenz verdoppelt. Mittlerweile gibt es rund 825 000 aktive deutsche Twitter-Nutzer, mehr als die Hälfte davon nutzt Twitter mobil. Die mobile Qualität der Twitter-App mag einer der Gründe für den Aufwärtstrend sein. Denn bis heute hat Facebook es nicht geschafft, eine stabile Smartphone-Applikation auf den Markt zu bringen. Facebook auf dem Handy ist immer noch akut absturzgefährdete Fingergymnastik.

Hinter der Migration zwischen den Kanälen stehen Vorlieben des Lebensstils, die nichts mit den Inhalten der Medien zu tun haben, sondern mit den Medien selbst, mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Aura, ihrem Style. Wer soziale Medien nutzt, bewegt sich immer in der Sphäre der Ich-Repräsentation. Er gibt ein Bild von sich ab. Facebook verlangt von seinen Nutzern dafür viel Zeit. Damit das eigene Profil attraktiv bleibt und der eigenen Reputation entspricht, muss man es regelmäßig pflegen.

Wer Facebook ernst nimmt – viele nehmen ihr digitales Gesicht sehr ernst –, für den ist es ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeit wie Mode oder Frisur. Facebook erzeugt dadurch digitalen Repräsentationsstress. Dieser Druck wird von vielen nicht mehr als Herausforderung wahrgenommen, sondern als Belastung. Es droht der Facebook-Burnout. Die Migration zu Twitter ist dann eine Entlastung.

Der Soziologe Jan-Hinrik Schmidt von der Universität Hamburg bestätigt den Trend, wenn er sagt, Twitter sei in Deutschland noch „Medium einer Minderheit“. Und er fügt hinzu: „Ich glaube, dass es einen gewissen Kern der deutschen Twitter-Nutzer gibt, der ein geteiltes, also gemeinsames Identitätsverständnis hat. Diese Gruppe ist füreinander und für andere Twitter-Nutzer sehr sichtbar, sodass sich das diffuse Gemeinschaftsgefühl und eben auch eine gewisse Übereinstimmung im Selbstverständnis herausbilden können. Aus meiner Sicht ist das eine kommunikative Avantgarde.“

Twitter herrscht über den Second Screen


Twitter beschleunige, sagt Schmidt, die Herausbildung „alltagsästhetischer Communities“. So wie es früher die Hippies, die Punker und die Popper gab, so wird es bald die Facebooker, die Instagramer und die Twitterati geben, die sich einem jeweils anderen digitalen Lebensstil verschreiben.

Fast nebenbei revolutioniert Twitter das Fernsehen – also genau dasjenige Medium, das für den ersten gemeinsamen virtuellen Erlebnisraum sorgte. Twitter beherrscht den Second Screen, den zweiten Bildschirm, der neben dem Fernsehprogramm läuft und auf dem sich die Zuschauer über ihre aktuellen Eindrücke austauschen. Twitter hat Facebook hier den Rang abgelaufen. Laut dem Bundesverband Digitale Wirtschaft ist heute jeder zweite Deutsche manchmal online, während er TV sieht; 2010 surfte nicht mal ein Fünftel parallel zum Fernsehen.

Das diesjährige Champions-League-Finale wurde von 4,6 Millionen Tweets begleitet. „Twitter und TV passen zusammen wie Fred Astaire und Ginger Rogers – oder wie Jay Z und Beyoncé“, formulierte ein amerikanischer Medienanalyst. Aber warum? Weil Twitter sich mit seinem semantischen Stakkatostil – immer nur 140 Zeichen – für Spontankommentare (wenigstens eine szene mit den stadtmusikanten … bitte. #tatort) ebenso eignet wie für plötzliche Gefühlsausbrüche (Na, dann kann ich jetzt ja die Spülmaschine einräumen gehen #UCLfinal).

Soziale Realität im digitalen Raum bleibt lokal


So wird aus einer simplen Fernseh­serie ein multimedialer Echtzeitevent mit Zuschauerbindung. Der Hokuspokus um die sonntäglichen Fernsehkrimis hat viel zu tun mit der eingeschworenen Twitter-Community, die sich um das Format herauskristallisiert. Fernseh-Tweets sind digitale Querschläger aus dem Hirn des Konsumenten. Das Gesendete prallt am Betrachter ab und kommt zurück – als Meinung, Stänkerei, Belehrung. Das Publikum weiß mittlerweile sehr genau, wie es sich den Ablauf einer Serie vorstellt: Die Schauspielkunst im heutigen #Tatort erinnert mich stark an Aktenzeichen XY – und die Innenaufnahmen an Ikea.

Soziale Realität, auch wenn sie sich digital ereignet, ist zutiefst lokal verwurzelt. Wenn Twitter ein neues soziales Bewusstsein schafft, dann fühlt sich das in Detmold und Goslar anders an als in Wuhan und Nairobi. Twitter hat hierzulande durchaus einen strengdeutschen Geruch und verfällt nicht selten in einen Duktus des „Was ich schon immer mal sagen wollte …“

Die Twitter-Überwachung des Tatorts


Ein gut germanisches Beispiel für die Nutzung von Twitter ist der von den Grünen betriebene „Tatortwatch“ (Darf der Tatort das? @tatortwatch). Hier werden „Bürgerrechtsverletzungen“, die sich in die Krimiserie eingeschlichen haben, „live“ per Twitter dokumentiert: das Überwachen von Wohnungen, Verhörpraktiken der Polizei, der Umgang mit Verdächtigen stehen auf dem Second Screen unter Beobachtung.

Alles, was im „Tatort“ nicht ganz grün scheint, wird sofort festgenagelt und einer juristischen Prüfung anempfohlen. Twitter scheint auch deswegen in Deutschland beliebter zu werden, weil es sich für Gesinnungsschnüffelei und moralisches Besserwissertum eignet.

Twitter verändert die Politik, die sozialen Milieus und das Fernsehen. Es macht aber auch vor der Kunst nicht halt. Ai Weiwei spielte kürzlich geschickt mit dem kalligrafischen Gestus von Twitter, als er in einer Videoinstallation für die Ausstellung „Freiheit!“ in Erlangen an seine ständige Überwachung durch die chinesischen Behörden erinnerte.

Im Twitter-Kunstwerk zeigte er Überwachungsvideos von seinem Hausarrest, zugleich liefen seine aktuellen Tweets aus China unter dem Hashtag #weiweicam über einen riesigen Monitor. Das Twitter-Protokoll mutierte zu einer unendlichen Schriftrolle, zu einem meditativen Bewusstseinsstrom. Vielleicht ist Twitter also auch das: ein neues Yoga. 

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