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Die letzten 24 Stunden - „Ich würde einen Plan machen“

Am Sonntag ist die schweizerisch-deutsche Lyrikerin Nora Gomringer mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden. Uns erzählt die 35-Jährige, wie sie die letzten 24 Stunden ihres Lebens verbringen würde

Autoreninfo

Die mit vielen Preisen aus­gezeich­nete Lyrikerin wurde 1980 in Neunkirchen/Saar geboren. Sie lebt in Bamberg, leitet dort das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia. Soeben erschien „Morbus“.

So erreichen Sie Nora Gomringer:

Mir bleiben noch 24 Stunden? Jetzt ist es 10.52 Uhr, also bin ich morgen um 10.52 Uhr tot. Ich flehe wirklich darum, nicht in 24 Stunden umzukommen oder gar umgebracht zu werden. So vieles ist nicht erledigt. Man hätte dieses Wissen im Grunde ja nur, wenn man eine sehr präzise Aussage vom Arzt bekäme oder wenn man gefoltert würde und wüsste: Wenn 24 Stunden vorbei sind, werde ich getötet.

Nun gut. Ich würde einen Plan machen, und darauf wäre alles stundenmäßig getaktet, weil ich das Gefühl habe, ich müsste noch sehr viel erledigen. Ich bin ein Listenfan.

Ich würde einen letzten Willen verfassen, ganz klassisch. Bei den Büchern und Filmen kann sich jeder nach meinem Tod bedienen, aber mein Schmuck und meine Kleidung gehen an Freundinnen. Die Kunstsammlung wäre zusammenzuhalten. Auch meine unveröffentlichten Texte, damit posthum eine Gedichtsammlung erscheinen könnte. Das wäre das Dankeschön für Voland & Quist, meinen Verlag. Auf der Liste der Bedachten stehen sicherlich meine Patenkinder. Ich hätte gerne mein Versprechen wahr gemacht, ihnen möglichst lange zur Verfügung zu stehen.

Um auf die Taktung zurückzukommen: Ich würde mir gleich um 10.52 Uhr die Nägel machen lassen. Ich mag es, wenn die Fingernägel schön bemalt sind, sodass man den ganzen Tag auf sie gucken kann. Ich müsste ja viel tippen, da gefällt es mir, wenn sie schön sind. Gerne würde ich auch ein neues Kleid tragen. Ich mag bunte Farben und sehe oft aus wie ein Bonbon. Das hat wohl damit zu tun, dass meine Welt als Lyrikerin schwarz-weiß ist. Was ich hier erzähle, klingt oberflächlich, aber aufgrund der inneren Hilflosigkeit brauche ich viel Oberfläche.

Danach fange ich an, Briefe an Eltern und Freunde zu tippen, was sicherlich bis 2 Uhr nachmittags dauert. Anschließend gehe ich beichten. Ich bin insofern gläubig, als dass ich hoffend bin.

Ich würde dann mindestens eine Stunde dem Bedauern einräumen. Auf einer langen Liste stünde, was ich nicht gemacht und geschafft habe. Wieso war ich zum Beispiel nicht schlanker? Dann kommt die Stunde der Gedichte. Sie wäre sehr intensiv. William Cullen Bryants Ballade „Thanatopsis“ würde ich natürlich lesen, dann käme noch viel von Mark Strand dazu, und dann käme der Abschied von den Texten, die mir bis dato das Leben gerettet haben.

Auf meiner Liste steht noch: „Hundewelpen“. Es wäre ganz wichtig, an diesem Tag noch einmal Zeit mit einer jungen, zutraulichen Kreatur zu verbringen und ihre Körperwärme zu spüren. Ich finde es ganz toll, den Herzschlag zu fühlen, zu merken, die Kreatur ist beseelt.

Jetzt ist es bereits nach 20 Uhr. Ich versuche, die Nacht durchzumachen. Auf jeden Fall stelle ich mir den Wecker, damit ich mindestens noch von 5 bis 10.52 Uhr Zeit habe. Ich wache auf und habe immer noch die schönen Nägel. Jetzt würde ich im Pyjama bleiben und mit meinem Liebsten sehr innig sein. Dann möchte ich noch gerne einen Film anschauen. Es wäre wohl ein Musical.

Und dann ist es 10.52 Uhr, und der Tod klingelt. Oh je. Panik wäre auf jeden Fall zu vermeiden. Auch wegen des Hundewelpen, der auf dem Bett dösen würde. Ein Auflösen in Sprache und Weltwissen wäre mir das Liebste.

Aufgezeichnet von Florian Welle

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