journal, belletristik, sachbuch - Die Hure Babylon hat jetzt Internetanschluss

Eine andere Welt ist möglich, und genau das ist das Problem: Jonathan Lethems großer Wurf über die paranoische Moderne

Auf Manhattans Upper East Side wird kein Feld bestellt, rauchen keine Fabriken. Hier lebt in ätherischer Blässe das Geld, das bekanntlich eine Fiktion ist, und hier wohnt die Kunst, die bekanntlich Fiktionen zu Geld macht. Es gibt wohl nur wenige Orte auf der Erde, die so sehr der Natur enthoben sind wie New Yorks hyperventilierendes Edelrevier, das damit die natürliche Kulisse bildet für Jonathan Lethems neue, seine früheren New-York-Romane noch einmal virtuos übersteigernde Zeichnung der «Kapitale des Kapitals» als paranoische Geisterstadt. Die halb lethargischen, halb sich auflehnenden Helden verheddern sich in Rekursionsschleifen, bis sie sich – negative Erleuchtung – der bezwingenden Logik der Parallelwelt-Theorie ergeben. Kein Kraut ist gegen die Ahnung gewachsen, programmierte Staffage zu sein, Avatare in der Originalversion von «Second Life», die hier «Yet Another World» heißt.

Stilistisch kennzeichnet diese große Phantasmagorie ein hinterrücks zustechender Humor. Er trifft insbesondere die Medien: Das aus abgedruckten PR-Mitteilungen bestehende Feuilleton der «New York Times» ist «natürlich unbrauchbar» – dabei handelt es sich schon um die «kriegsfreie Ausgabe». Der stumpfen Medienkritik ergeht es kaum besser. So tippt einer der Protagonisten die Artikel des «New Yorker» ab und druckt sie «in einer einfachen Courier» aus, um «das repressive Bezugssystem der Zeitschrift aufzulösen». Köstlich parodiert ist auch die Seuche esoterischer Ersatz-Transzendenz: Hier erweist sie sich in der ekstatischen Anbetung von Blumenvasen.

Zentralgestirn des «Chronic City»-Universums ist der migräne- und schluckaufgeplagte Perkus Tooth, um die vierzig Jahre alt, ehemaliger Rockkritiker – überall ragen hier Ruinen der Popmoderne auf – und eine Art Inkarnation des Internets und Virus im System. Als «Superhochleistungsautist» kleistert Perkus die Stadt mit Verschwörungstheorie-Plakaten zu und ist auf der Suche nach «Gnuppets», flauschigen Zombies außerhalb der Simulationen. Jede Information vernetzt er mit jeder anderen, was beinahe zur Überhitzung des Apparates führt, von der altehrwürdigen Hure Babylon dann aber doch locker weggesteckt wird. Dem Verglühen dieses Genies – und seiner Spezies – setzt das Buch ein Denkmal.

Erzählt wird zumeist aus der Perspektive von Chase Insteadman, einem weiteren taumelnden Anti-Helden, der sich soeben mit Perkus befreundet hat und, ohne recht zu wissen, weshalb, eine sterbende Verlobte im All besitzt, die ihm über die Presse Liebesbriefe aus ihrer verunglückten Raumstation zukommen lässt. An der Seite des Ex-Ex-Linken Richard Abneg und einiger Frauen beginnt Chase unter der Anleitung von Perkus und «Chronic» – schlichtem Marihuana –, die Dinge zu durchschauen. Jedenfalls scheint es ihm so.


Die Natur holt sich die Stadt zurück

Poetologisch handelt es sich hier um ein Wimmelbild voller grotesker Miniaturen: Künstler haben künstliche Fjorde, eigentlich Müllhalden, mitten in die Stadt gesetzt; ein gigantischer Tiger, der aber auch ein Tunnelbohrer sein könnte, verwüstet ganze Viertel. Überhaupt holt eine fratzenhafte Natur sich die Stadt zurück, die alles fatalistisch erträgt. Im Sommer fällt Schnee. Adler, Zwergwale und Kojoten besiedeln den Hochglanz-Sündenpfuhl. Aber die eigentliche Bedrohung kommt doch von innen, vom institutionalisierten Trug.

Der Clou ist natürlich, dass diese cannabisschwüle, traumlogische Welt der Psyche Manhattans, will sagen: der Seele des Kapitalismus, viel eher gerecht wird als jeder Naturalismus. Den Staub der stürzenden Türme zu perpetuieren – als ewiger Nebel hat er sich über den Finanzdistrikt gelegt –, ist nur eine dieser Verzerrungen der Wirklichkeit zur Wahrheit hin. Aberhunderte realer und imaginärer Verweise sind klug ineinander geschachtelt, und doch handelt es sich nicht um einen konstruktivistischen Essay. Die erzählerische Meisterschaft Lethems zeigt sich vielmehr darin, dieses im Sinne Pynchons und DeLillos dekonstruktive Setting mit Schicksalen zu beleben, die einem nahegehen. Die Figuren besitzen keine Bodenhaftung, gehen aber geradezu zärtlich miteinander um. Man wünscht ihnen, dass sie nie erwachen – und dann vielleicht in einer Fabrik schuften müssen.    
 

Jonathan Lethem
Chronic City. Roman
Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und
Michael Zöllner. Tropen, Stuttgart 2011. 495 S., 24,95 €

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