handeln: Buchmacher - Die Heilige Ursula der Poesie

Eine Symbiose aus Geld und Geist: Die Mäzenatin Ursula Haeusgen hat das Münchner «Lyrik Kabinett» zur ersten deutschen Adresse für Dichtkunst gemacht. Ein Porträt von Alexander Cammann

enn es abends dunkel wird, fangen die Glasvierecke in träumerischer Bläue an zu leuchten. Es sind im Boden eingelassene kleine Wegweiser: als Verführung für diejenigen, die sich vielleicht neugierig auf diesen Abweg bringen lassen, zwischen der Snackbar «Pasta e basta» und dem Thairestaurant – oder als Verheißung für alle Wissenden, die zielbewusst in diese Toreinfahrt in der Amalienstraße 83a einbiegen. Alle paar Schritte ist das Wort «Poesie» in das Pflaster gemeißelt. An den Wänden des Durchgangs sind Tafeln mit Wortreihungen montiert, die mehr oder minder vertraut klingen, aber ohne Titel und Zuordnung – was auch so sein soll, denn es ist ein Rätsel aus diversen Gedichtzeilen. Solcherart sind die Zeichen, die hier in der Münchner Innenstadt zu einem der ungewöhnlichs­ten Orte führen, die der deutsche Literaturbetrieb zu bieten hat. Denn auf dem efeubewachsenen Hof, mit Magnolienbaum und einer Skulptur von Horst Antes, stößt man schließlich auf einen kubusförmigen Bau in edlem Anthrazit, mit transparenten Glasfronten. Das ist das «Lyrik Kabinett» – gewidmet ausschließlich der Dichtung; privat finanziert, einzigartig in Deutschland, in Europa. Es beherbergt eine öffentlich zugängliche Privatbibliothek von mittlerweile 40.000 Bänden ausschließlich zur deutschen und internationalen Lyrik. Und es ist ein Ort, an dem Dichtung regelmäßig in Lesungen und schönen Editionen präsentiert wird.

Hier sind wir verabredet mit derjenigen, die dieses Haus vor fünf Jahren hat bauen lassen und die auch ansonsten durch ihr Geld und ihren Geist die Dichtung in den vergangenen Jahrzehnten wie wohl niemand sonst hierzulande befördert hat. Ursula Haeus­gen ist gleichwohl nur Insidern ein Begriff – was äußerst ungerecht ist, aber sie selbst hat es ganz gern so. Leicht schnaufend und vor sich hin grummelnd kommt sie auf uns zu, denkbar unglamourös in Jeans, schwarzem Sweatshirt und Windjacke, mit Umhänge­tasche und Kurzhaarschnitt, dabei geschäftig ächzend unter der Last des Poesie-Organisations-Alltags. Sogleich übernimmt die Hausherrin die Führung durch ihre überfüllte Wunderkammer: Nach hinten reihen sich die riesigen, verschiebbaren Bibliotheksregale aneinander, an den Wänden die bekannten Dichterporträts von Isolde Ohlbaum, eine kleine Bühne gibt es für den Dichterauftritt vor Publikum; an PCs kann der Besucher recherchieren und in Glasvitrinen begierig auf kostbare Künstlerbücher in Kleinstauf­lagen starren. Überhaupt die Kunst: Da hinten hängt unverkennbar ein überlebensgroßer Baselitz, aber was ansonsten alles so herumsteht und -hängt, das entgeht dem Nichtkenner leicht. Ursula Haeusgen ist keine, die sich durch übermäßige Zurschaustel­lung ihrer Schätze inszenieren würde.


Die ganze Palette

Vielleicht besteht gerade darin das Erfolgsgeheimnis dieser Frau: In einer Welt voller Eitelkeiten wie dem publizitätssüchtigen Literaturbetrieb, in der Zampanos und Windmacher ihre Pirouetten drehen, wirkt hier eine zähe, gänzlich unprätentiöse Dienerin ihrer Sache, der Poesie. Begeisterte Loblieder stimmen jedenfalls alle Kundigen an. «Ursula Haeusgen war immer die Erste», erinnert sich Durs Grünbein: «Lange bevor ‹Lyrik› zur Boombranche wurde, hatte sie ihre auf Poesie spezialisierte Kellerbuchhandlung in der Münchener Maximilianstraße.» Der noch weithin unbekannte Grünbein las dort vor ein paar Gästen im Herbst 1993, ein paar Schritte vom legendären «Schumann’s» entfernt; da war das Gedichteschreiben noch kein «Trendsport» (Grünbein). Und seine damals in München lebende Kollegin Ulrike Draesner schwärmt von vielen Lesungen in Haeusgens «Schatzhaus», dessen Betreiberin «Ermutigung und Bestätigung» sei: «Manchmal windet sich der Weg, aber mit Beharrlichkeit und Eigeninitiative lassen sich Dinge umsetzen, bei denen die anderen erst, wenn sie existieren, bemerken, wie sehr sie sie vermissten, als sie noch nicht da waren.» Für den dichtenden Hanser-Verleger Michael Krüger ist sie schlicht die «Heilige Ursula der Poesie», in deren Körper ein Geist lebt, der sich von nichts und niemandem abhalten lässt: «Ihre Energie in den letzten zwanzig Jahren war unerschöpflich.»

In ihrem Büro im zweiten Stock flucht die Heilige Ursula zunächst einmal über dem Faxgerät, das wieder einmal nicht so will wie sie. Papiere und Bücher stapeln sich auf den Schreibtischen ihrer Mitarbeiter, überall kleben Erinnerungszettel; einer der vielen Leitz-Ordner im Regal trägt die Aufschrift «Absagen». «Ja, das ist die Kehrseite des Erfolgs», bedauert Haeusgen in kräftigem Münchnerisch, nachdem sie gerade jemandem am Telefon einen Korb geben musste: «Man kann nicht mehr alle Wünsche nach Veranstaltungen befriedigen»; mehr als einmal in der Woche sei nicht publikumskompatibel. Ihr poetisches Programm ist breit gefächert, quer durch alle Generationen und Stile, Klassisches und Unbekanntes: «Ich will keine Schulen oder Tendenzen abbilden, sondern die ganze Palette von Dichtung, wenn sie denn eine bestimmte Qualität erreicht.» Obwohl die öffentliche Resonanz für Lyrik sich in den letzten Jahren wieder deutlich gebessert hat, bleibt sie die Sache einer Minderheit. Ursula Haeusgen lacht: «Wie eine Puffmutter stehe ich dann bei Lesungen draußen und schaue, wie viele kommen.»


Ästhetische Energieübertragung

Dass aus ihrer Liebhaberei eine literarische Institution wurde, ist ein kleines Wunder, auch wenn die 1942 geborene Kettenrau­cherin mit der Reibeisenstimme kaum Aufhebens davon macht: «Es hat sich halt irgendwie so entwickelt.» Das «Lyrik Kabinett» ist, nebenbei gesagt, auch ein Raucherparadies, weil die üblichen Verbote fehlen. 1989 eröffnete die Mutter dreier Söhne – mittlerweile ist sie Witwe und Großmutter von sieben Enkelkindern – ihre Buchhandlung: «Ich hatte in anderen Buchläden Gedichte immer nur in der hintersten Ecke und in kleiner Auswahl gefunden – da wollte ich mit meiner Buchhandlung ausschließlich für Poesie endlich ein Zeichen setzen.» Geschäftlich scheiterte sie mit diesem Konzept, doch aus der Not machte sie eine Tugend («heute bin ich heilfroh, dass es vorher nicht geklappt hat»): Sie gründete 1994 zunächst den Verein, später die «Stiftung Lyrik Kabinett», sammelte weiterhin Gedichtbände aller Art und beschloss nach jahrelangem Hin und Her den Bau des Hauses; die Münchner Universität hatte ihr das Grundstück mit einem verfallenen Atelierhäuschen auf 66 Jahre verpachtet.

Woher das Geld und die Leidenschaft für dieses Projekt? Als Ingenieurstochter ist sie im Münchner Stadtteil Haidhausen aufgewachsen, damals ein proletarisch geprägter Bezirk. Gelesen habe sie schon als Kind viel, erzählt sie – «schon als Heranwachsende fand ich Gedichte wunderbar». Mit Anfang zwanzig hei­ratet sie, zieht später ihre drei Söhne groß – und beginnt dann allmählich etwas Neues. Sie studiert Mitte der achtziger Jahre Philosophie: «Die Kommilitonen haben sich schon gewundert, dass da so eine ältere Frau im Mercedes vorfuhr», erinnert sie sich. Und schließlich fängt das Abenteuer Poesie an, ohne dass sie wusste, wo das einmal enden würde. Die finanziellen Mittel stammen bis heute aus ihrem Privatvermögen; ihr Vater gründete 1949 in München die Firma HAWE Hydraulik, die bis heute als global operierendes Unternehmen mit 1800 Mitarbeitern floriert. «Dort werden hochspezialisierte Hydraulik-Vorrichtungen produziert; einige sollen größtmögliche Kraftwirkungen erzeugen, andere sollen äußerst sensibel reagieren wie zum Beispiel in Windkrafträdern, damit diese schon bei kleinen Luftbewegungen möglichst effizient Strom erzeugen.» Unversehens hat sie damit im Grunde das Prinzip ihrer poetischen Privatmission beschrieben: Energieübertragung, auf zarten ästhetischen Windhauch reagierend und kraftvolle Entfaltung bewirkend.

Ob ihre Familie sich nie beschwert hat, weil sie das Geld so verpulvert? «Eher selten, wir halten zusammen», kommt prompt als Antwort, und überhaupt: «Ich bin halt a bisserl stur.» Ihre Augen blitzen frech, während sie an der Zigarette zieht. Ihr Sohn Karl Alexander, der in die Firma der Familie eingetreten ist, sitzt jeden­falls neben seiner Mutter im Stiftungsvorstand. So recht reden möchte sie über Finanzen nicht, aber es ist ohnehin klar, dass diese Mäzenin in das «Lyrik Kabinett» im Laufe der Jahre sehr, sehr viel Geld gesteckt hat. Alles hat sich zu einem eigenen mittelständischen Unternehmen ausgewachsen, mit mehreren Mitarbeitern und der einzig gehandelten Ware Poesie. Unabhängigkeit, die kostet und lohnt und von der Stadt in einzelnen Projekten auch unterstützt wird. Und auch, wenn es mal im Etat der Stiftung nicht mehr vorgesehen war, musste sie dann doch diese oder jene antiquarische Rarität für die Bibliothek erwerben, «es ist ja mein Geld»: Erstaus­gaben von Klopstocks Oden (1771), Droste-Hülshoffs Gedichten (1844) und Alexander Bloks Poem «Die Zwölf» (1918) findet man hier ebenso wie eine vorzügliche Dante-Sammlung, Moses Mendelssohns Psalmen-Übersetzung von 1783 oder eine Vergil-Aus­gabe von 1583 – die Liste der Kostbarkeiten ließe sich endlos fortsetzen. Und damit ist es noch längst nicht genug: Wenn man im Gespräch zufällig auf einen jungen, profilierten Berliner Verlag kommt, so offenbart sie nebenbei, dass sie dort stille Teilhaberin ist – «aber das ist nichts für die Öffentlichkeit».


Poetry-Slam-Ausstattung aus dem Baumarkt

Natürlich bekommt auch die Stiftung die Krise zu spüren, doch nach Lage der Dinge scheint für die dauerhafte Existenz dieses Hauses gut vorgesorgt. Vieles will unterhalten werden; neben Veranstaltungsprogramm und Bucherwerb gibt es das erfolgreiche Schulprojekt «Lust auf Lyrik» und diverse Publikationen, durchweg in edler Typographie und Ausstattung: die «Münchner Reden zur Poesie», die von prominenten Gästen auf ihre Einladung hin zweimal jährlich gehalten werden (unter anderem zur Eröffnung im Jahr 2005 Martin Mosebach, später Marcel Beyer, Friedhelm Kemp, Ernst Osterkamp, Heinrich Detering); die «Edition Lyrik Kabinett» im Hanser Verlag; die Zeitschrift «Der Titan», die sich ausschließlich dem Übersetzer, Dichter und Essayisten Rudolf Borchardt (1877–1945) widmet. Daneben erscheinen einzelne Bände, und wer erlebt, mit welcher Begeisterung Ursula Haeusgen einem die vergriffene Anthologie «Namenlose Liebe» über Homoerotik in der spanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts in die Hand drückt («solche Liebesgedichte werden hierzulande nicht geschrieben»), wie vertraut sie von Rudolf Borchardts Übertragungen der amerikanischen Dichterin Edna St. Vincent Millay (1892–1950) erzählt (2004 bei ihr erschienen), der spürt, dass hier eine glücklich besessene Missionarin ihre eminente Kennerschaft auslebt.

Hinter ihrem burschikosen Charme, ihrem angenehm unelitären Auftritt verbirgt sich eine filigrane Seele, die denn auch freimütig eigene lyrische Versuche einräumt: «Jeder macht das doch mal; aber meine Gedichte sind nur für mich bestimmt.» Und im nächsten Moment kramt sie, immer noch amüsiert, die glitzernden Lichterketten für den letzten Poetry Slam im «Lyrik Kabinett» hervor, die sie neulich im Baumarkt besorgt hat.


Vom Glück, eine Passion zu haben

So bedauerlich wie bezeichnend ist bei alledem die Tatsache, dass Ursula Haeusgens Beispiel bislang keine Schule gemacht hat. Im Be­reich der Bildenden Kunst undenkbar: Die Mäzenin ist in der deutschen Literaturlandschaft eine Ausnahmeerscheinung geblieben – vielleicht, weil man hier weniger zur Schau stellen kann, vielleicht, weil es nicht um Rekordsummen geht, die das eigene Ego streicheln können. Aus der Literaturszene der Republik ist ihr Kabinett jedoch nicht mehr wegzudenken, an internationaler Strahlkraft hat es kontinuierlich gewonnen: Alles, was Rang und Namen hat in der Welt der Gedichte, war hier zu Gast. Und die Schöpferin ist mittlerweile Ehrensenatorin der Münchner Universität, mit Bundesverdienstkreuz und Bayerischem Verdienstorden.

Erfolg ruft nach Zukunftssicherung, und Ursula Haeusgen scheint auch da eine ideale Lösung gefunden zu haben: Ab Dezember wird Maria Gazzetti, nach fünfzehn Jahren als Chefin des Frankfurter Literaturhauses, nunmehr das «Lyrik Kabinett» leiten; Gründerin Haeusgen zieht sich dann vom Tagesgeschäft auf den Vorstand der Stiftung zurück. Die allseits hochgeschätzte Maria Gazzetti ist froh über ihre Aufgabe an dieser besonderen Institution und ihr «Glück, einen Ort zu finden, an dem Konzentration möglich ist», inmitten eines Literaturbetriebs, der ansonsten immer stärker von Eventkultur und allmächtiger Wachstumsideologie aufgefressen wird. Die künftige Arbeit, die Gazzetti vielleicht etwas extrovertierter gestalten dürfte als die Gründerin, werde weiterhin auf den drei Säulen Bibliothek – literarisches Programm – Editionen ruhen. Arbeit ist genug vorhanden; da das Haus schon jetzt aus allen Nähten platzt, muss man sich beispielsweise bald über neue Räume Gedanken machen. Und wovon träumt Ursula Haeusgen, die «das Glück hat, eine Passion zu haben», wie Maria Gazzetti treffend formuliert? Ein «Poet in Residence»-Programm, das wäre vielleicht noch etwas Schönes für das Lyrik Kabinett, murmelt die Hausherrin, die ansonsten die Hoffnung hat, künftig wieder mehr zum Lesen zu kommen. Ideen wird die nachtaktive Gründerin in ihren schlaflosen Stunden zweifellos genügend haben – das Gedichträtsel in der Tordurchfahrt hat sie sich mit all seinen Verszeilen in einer einzigen Nacht ausgedacht.

Ihre Idee führte auch zu einer besonderen Toilettenausgestaltung (die jeweiligen Türen sind markiert durch ein Foto von Ricarda Huch beziehungsweise Oscar Wilde): Gegenüber dem Badspiegel steht dort in Spiegelschrift – und somit lesbar beim Blick in denselben – ein Wort von Cees Nooteboom: «Das Gedicht ist ein Kosmos / Die Welt ein Wort.» Entsprechend war die Begeiste­rung Nootebooms, als er hier einmal die Toilette aufsuchen musste: Selbst das Örtchen ein poetischer Ort, geadelt durch eigenes Dichterwort – gelobt sei die Heilige Ursula.

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