- Die Generationen-Erzählerin
Nora Bossong hat den Roman der Stunde geschrieben. Es geht um Väter und Söhne, um Generationen und wie schwer es ist, die eigene soziale Stellung zu schultern. Der Held ihres gerade erschienen Romans ist ein Froteewarenhändler
Es ist einer dieser Berliner Sommervormittage, an denen man sich wundert, dass die Stadt nicht am Meer liegt, so badestrandversessen sehen die Cafébesucher mit ihren Flipflops und kurzen Hosen aus. Auch der leichte norddeutsche Tonfall von Nora Bossong hat mehr mit der Küste als mit Berlin zu tun. Bossong, Jahrgang 1982, wuchs zwischen Bremen und Hamburg auf. Einen Moment lang denkt man bei ihrem klaren, durchscheinenden Gesicht an die Gemälde der Präraffaeliten. Der Eindruck des Ätherischen verfliegt sofort, denn die junge Autorin, die nicht nur Prosa, sondern auch Gedichte schreibt, hat etwas erfrischend Diesseitiges. Nach ihrem Abschluss am Leipziger Literaturinstitut und dem Studium der Kulturwissenschaften ging sie für eine Recherche länger nach Rom. „Wenn ich Heimweh bekam, las ich immer die Buddenbrooks“, sagt sie. Dies sei der Auslöser für ihren dritten Roman gewesen, in dem ein Familienunternehmen im Mittelpunkt steht.
Tietjen & Söhne ist eine kleine Firma für Frotteeware mit 250 Angestellten. Kurt Tietjen, Enkel des Gründers und mittlerweile fast im Pensionsalter, hat mit seinem Schwager das Unternehmen an den Rand der Insolvenz gebracht. In einer Kurzschlussreaktion taucht er in New York ab. Seiner Tochter Luise, die gerade an einer Abschlussarbeit über Horkheimer sitzt, bleibt nichts anderes übrig, als die Geschäfte zu übernehmen. „Wie wird Macht vererbt und weitergegeben? Das hat mich interessiert“, meint Bossong. So egalitär wie die Bundesrepublik immer tue, sei sie gar nicht. „Schon achtjährige Kinder wissen genau, wo sie sozial stehen.“ Ohne dass ihr Vater sonderlich arm gewesen wäre – er hat als Sozialwissenschaftler für den Hamburger Senat gearbeitet –, gehörte die Familie in Blankenese eher zur Unterschicht. „Das wurde mir in der Schule signalisiert; da funktionieren bestimmte Codes“, sagt Bossong. „Bei denjenigen aus den großen Hamburger Familien war klar, was ihnen zusteht.“ Aber Reichtum und Einfluss sind nicht nur ein Geschenk, sondern auch ein Fluch. Kurt Tietjen, der plötzlich die Freiheit der Besitzlosen ahnt und versucht, in einer schäbigen Mietwohnung in Brooklyn ein neues Leben anzufangen, entkommt seinem Schicksal natürlich nicht. Selbst seine billig blondierte neue Freundin weiß genau, wen sie vor sich hat.
Seite 2: „Eine herausragende soziale Stellung muss man schultern“
Als Inhaber eines Unternehmens habe man schließlich auch eine Verantwortung, sagt Bossong, die für ihre Recherche den Aufstieg der Krupps studierte und Joseph Schumpeter, Friedrich August von Hayek und Alexis de Tocqueville las. „Eine herausragende soziale Stellung muss man erst einmal schultern. Man kann sich nicht indifferent verhalten. Selbst wenn ich 50 Millionen Euro verschenke, löst das eine Kette von Handlungen aus.“ Luise Tietjen, die sich mithilfe des aufstiegsbewussten Managers Krays bemüht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, geht mit diesem Krays auch noch ein Liebesverhältnis ein, was die vollkommene Verschmelzung von Beruf und Privatsphäre unterstreicht.
„Schon Luises Großvater nimmt seinen Sohn Kurt nicht als
liebenswertes Wesen, sondern als seinen besten Angestellten wahr.
Die Zusammenhänge des Wirtschaftslebens verdrängen die
Zusammenhänge des Familienlebens“, meint Bossong. Im vergangenen
Jahr schrieb sie für die Zeit ein FDP-Gedicht und traf mehrere
Politiker in ihrem Alter, bei denen ebenfalls kaum eine Trennung
zwischen Privatem und Öffentlichem herrsche. Die Geschwindigkeit,
mit der diese Leute Familienfotos zückten und auf dem iPhone
Lieblingslieder und Youtube-Videos abspielten, hat Bossong geradezu
erschüttert. Nach 15 Minuten wusste sie, wie Frau und Kinder
aussahen. „Da wird eine Nähe inszeniert, die sich nicht einmal
künstlich anfühlt. Das finde ich unheimlich.“ Präzise
diagnostiziert sie in ihrem spannungsgeladenen Roman den Zustand
solcher Beziehungen. Ihre Figuren sind allesamt Gefangene.
Wirtschaftliche, private und politische Interessen verschwimmen in
einer wabernden Grauzone.
Auch Luise Tietjen entkommt dieser Gefangenschaft nicht. Eine Weile
lang beißt sie sich erfolgreich durch, am Ende stolpert sie aber in
eine Falle ihres Vaters. Väter und Töchter stehen schon in Bossongs
Romanen „Gegend“ (2006) und „Webers Protokoll“ (2009) im
Mittelpunkt, ein Thema, an dem sie sich offensichtlich abarbeitet.
„Auch für Frauen meiner Generation“, meint sie, „sind bei der
beruflichen Orientierung die Väter entscheidend. Meine Mutter war
auch immer berufstätig, aber sie musste sich rechtfertigen.“ Wenn
ihr Vater eine Packung Miracoli kochte, erzählt sie, verschaffte
ihm das Respekt bei ihren Großeltern. Dass ihre Mutter ebenfalls
keine besonders gute Köchin war, galt als Skandal.
Solche Muster zeitigen natürlich Folgen. Ihre Freundinnen,
beobachtete Bossong später, hätten trotz bester Leistungen enorm
unter Druck gestanden und seien mit Ende zwanzig dann erschöpft
gewesen. Ihre männlichen Altersgenossen schonten ihre Ressourcen
und starteten dann zum Berufseinstieg durch. „Selbst von meiner
Mutter höre ich vollkommen inakzeptable Bemerkungen wie: „Nora, du
musst dich entscheiden. Entweder Beruf oder Glück in der Liebe.“ Da
sage ich dann: „Moment mal, nee.“ Wir unterhalten uns noch eine
Weile über Rollenmuster und ihre Beständigkeit. Dann bezahlen wir
unseren Kaffee und genießen die Freiheit.
„Gesellschaft mit beschränkter Haftung" heißt der jüngste Roman von Nora Bossong. Er ist bei Hanser erschienen.
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