Kurzgeschichte - Die ganze Nacht

Am späten Nachmittag hatte es angefangen zu schneien. Er war   froh, dass er sich den Tag freigenommen hatte, denn der Schnee fiel sofort so dicht, dass er nach einer halben Stunde schon die Straße bedeckte. Vor dem Haus sah er den Hausmeister den Gehsteig kehren. Er trug eine Kapuze und führte auf einer kleinen, dunklen Insel einen vergeblichen Kampf gegen den stetig fallenden Schnee.

Am späten Nachmittag hatte es angefangen zu schneien. Er war   froh, dass er sich den Tag freigenommen hatte, denn der Schnee fiel sofort so dicht, dass er nach einer halben Stunde schon die Straße bedeckte. Vor dem Haus sah er den Hausmeister den Gehsteig kehren. Er trug eine Kapuze und führte auf einer kleinen, dunklen Insel einen vergeblichen Kampf gegen den stetig fallenden Schnee.
Es war gut, dass er diesmal nicht zum Flughafen gefahren war, um sie abzuholen. Das letzte Mal hatte er ihr Blumen aus dem Automaten gekauft und sie dazu überredet, die lange Fahrt nach Manhattan mit der U-Bahn zu machen. Als sie dann vor einigen Tagen telefoniert hatten, hatte sie gemeint, es sei nicht nötig, dass er sie abhole, sie werde ein Taxi nehmen.
Er stand am Fenster und schaute hinaus. Selbst wenn der Flug pünktlich war, würde sie frühestens in einer halben Stunde hier sein. Aber er war jetzt schon unruhig. Er verwarf Sätze, die er sich in den vergangenen Wochen ausgedacht und immer wieder vorgesagt hatte. Er wusste, dass sie eine Erklärung verlangen würde, und wuss­te, dass er keine hatte. Er hatte nie Erklärungen gehabt, aber er war sich immer sicher gewesen.
Eine Stunde später stand er wieder am Fenster. Es schneite noch immer, heftiger als zuvor, es war ein richtiger Schneesturm. Der Hausmeister hatte seinen Kampf aufgegeben. Alles war jetzt weiß, selbst die Luft schien weiß zu sein oder vom hellen Grau der einsetzenden Dämmerung, das kaum zu unterscheiden war vom Weiß des fallenden Schnees. Die Autos fuhren langsam und mit großer Behutsamkeit. Die wenigen Passanten, die noch draußen waren, stemmten sich gegen den Wind.
Er schaltete den Fernseher ein. Auf fast allen Kanälen war vom Sturm die Rede, und es war seltsam, dass man ihm schon einen Namen gegeben hatte, den alle Stationen zu kennen schienen. In den Außenbezirken, hieß es, sei das Chaos noch größer als in der Innenstadt, und von den Küsten kamen Meldungen über Hochwasser. Aber die Moderatoren, die man hinausgeschickt hatte und die, dick angezogen, in Mikrofone mit groteskem Windschutz sprachen, waren guter Laune und warfen Schneebälle in die Luft und wurden nur ernst, wenn sie von Sach- oder Personenschäden zu berichten hatten.
Er rief die Fluggesellschaft an. Der Flug, sagte man ihm,
sei wegen des Schneesturms nach Boston umgeleitet worden. Kaum hatte er aufgelegt, klingelte das Telefon. Sie rief aus Boston an, sagte, sie müsse gleich weiter. Es gebe Gerüchte, dass der ­Kennedy Airport wieder offen sei. Vielleicht müssten sie aber auch in
Boston übernachten. Sie sagte, sie freue sich auf ihn, und er sagte, sie solle auf sich aufpassen. Sie sagte, bis später, und legte sofort auf.
Draußen war es dunkel geworden. Der Schnee fiel unaufhörlich, er fiel und fiel, und außer einigen Taxis, die im Schritttempo fuhren, waren keine Autos mehr zu sehen.
Er hatte mit ihr essen gehen wollen, jetzt hatte er Hunger. Und es würde noch Stunden dauern, bis sie hier war. Im Kühlschrank waren nur ein paar Dosen Bier, im Gefrierfach eine Flasche Vodka und Eiswürfel. Er dachte, dass er etwas einkaufen sollte. Sie würde bestimmt hungrig sein nach der langen Reise. Er zog seinen warmen Mantel an und Gummistiefel. Er hatte keine anderen hohen Schuhe, und die Stiefel hatte er kaum getragen. Er nahm einen Schirm und ging hinaus.
Es war einfacher, vorwärts zu kommen, als er gedacht hatte. Der Schnee lag hoch, aber er war nicht schwer und ließ sich mit den Beinen leicht beiseite pflügen. Alle Geschäfte waren geschlossen, nur in wenigen hatte sich das Personal die Mühe gemacht, auf einem improvisierten Schild den Grund für den frühen Ladenschluss zu nennen.
Er ging quer durch die Stadt. Die Lexington Avenue war schneebedeckt, auf der Park Avenue sah er in einiger Entfernung die orangen Blinklichter der Schneepflüge, die in einem Konvoi die Straße heraufkamen. Die Madison und die Fifth Avenue waren irgendwann gepflügt worden, aber sie waren schon wieder weiß. Hier musste er über hohe Schneewälle steigen. Er sank ein, und Schnee drang in die Schäfte seiner Stiefel.
Über den Times Square lief ein Langläufer. Die Leuchtreklamen blinkten, als sei nichts geschehen. Er ging weiter, den Broadway hinauf. Kurz vor dem Columbus Circle sah er die erleuchteten Fenster eines Cafés. Er war schon früher dort eingekehrt, der Geschäftsführer und die meisten der Kellner waren Griechen, und das Essen war gut.
Im Restaurant saßen nur wenige Gäste. Die meisten saßen allein an einem Tisch bei einem der Fenster, die bis zum Boden reichten, tranken Kaffee oder Bier und schauten hinaus. Die Stimmung war festlich, niemand sprach, es war, als seien sie alle Zeugen eines Wunders.
Er setzte sich an einen Tisch und bestellte ein Bier und ein Club Sandwich. Der Schnee in seinen Stiefeln begann zu schmelzen. Als der Kellner das Bier brachte, fragte er ihn, weshalb das Lokal noch offen sei. Sie hätten nicht mit so viel Schnee gerechnet, sagte der Kellner, jetzt sei es zu spät. Sie wohnten alle in Queens, und dort hinauszukommen sei im Moment unmöglich. Da könnten sie das Lokal ebensogut offen lassen.
«Vielleicht die ganze Nacht», sagte der Kellner und lachte. Draußen war es dunkel geworden.
Als er sich ein Sandwich für sie einpacken ließ, merkte er, dass er nicht wusste, was sie mochte. Er nahm eins mit Schinken und Käse. Keine Mayonnaise, keine Pickles, das wusste er noch.
Sie hatte ihm auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. Einen Flug habe es nicht gegeben, jetzt sei auch Boston zu. Man bringe sie zum Bahnhof, von dort solle es einen Zug geben. Sie werde, wenn alles gut gehe, in drei Stunden in Manhattan sein. Der Anruf war vor einer Stunde gekommen.
Er schaltete wieder den Fernseher ein. Ein Mann stand vor einer Karte und erklärte, dass der Sturm der Küste entlang nach Norden ziehe. Er habe inzwischen Boston erreicht. In New York sei das Schlimmste vorbei, sagte er und lächelte, aber es werde wohl noch die ganze Nacht schneien.
Er schaltete den Fernseher aus und trat wieder ans Fenster. Er dachte nicht mehr an seine Sätze, schaute nur hinaus auf die Straße. Er löschte das Deckenlicht und zündete die Schreibtischlampe an. Dann machte er Tee, setzte sich aufs Sofa und las in einem Buch. Um Mitternacht ging er zu Bett.
Als es an der Tür klingelte, war es drei Uhr. Bevor er an der Tür war, klingelte es wieder. Er drückte auf den Türöffner und wartete einen Augenblick. Dann trat er, obwohl er nur in Shorts und T-Shirt war, hinaus auf den Flur und ging zum Lift. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er kam.
Natürlich wusste er, dass sie es war, aber er war doch erstaunt, als die Lifttür sich öffnete und er sie dort stehen sah. Sie stand einfach nur da neben ihrem großen, roten Koffer und wartete. Er trat auf sie zu. Als er sie küssen wollte, umarmte sie ihn nur. Die Lifttür schloss sich hinter ihm. Sie sagte: «Ich bin so unglaublich müde.» Er drückte auf den Knopf, und die Lifttür öffnete sich wieder.
Sie teilten sich das Sandwich, und sie erzählte, wie der Zug aus Boston auf halber Strecke im Schnee steckengeblieben sei, wie er Stunden so gestanden habe, bis endlich ein Pflug das Gleis freigemacht hatte.
«Natürlich hat niemand etwas gewusst», sagte sie. «Ich hatte Angst, dass wir die ganze Nacht da stehen würden. Wenigstens habe ich warme Kleider dabei.»
Er fragte, ob es immer noch schneie, schaute dann hinaus in die Nacht und sah, dass es fast schon aufgehört hatte.
«Das Taxi hat mich an der Lexington ausgeladen», sagte sie. «Er konnte nicht in die Straße rein. Ich habe ihm zwanzig Dollar in die Hand gedrückt und gesagt, bringen sie mich zu 138 East, egal wie. Er hat den Koffer zu Fuß hierher geschleppt. Ein kleiner Pakistani. Ein netter Mann.»
Sie lachte. Sie hatten Vodka getrunken, und er schenkte noch einmal ein.
«Nun», sagte sie, «was ist es denn so Dringendes, worüber du mit mir sprechen willst?»
«Ich liebe Schnee», sagte er, stand auf und trat zum Fenster. Der Schnee fiel nur noch in kleinen Flocken, die vom Himmel schwebten und im Weiß der Straße untergingen. «Ist er nicht wunderschön?»
Er drehte sich um und schaute sie lange an, wie sie da saß und an ihrem Vodka nippte. Dann sagte er: «Ich bin froh, dass du da bist.»

Peter Stamm, geboren 1963, lebt nach längeren Aufenthalten in Paris,
New York und Skandinavien als freier Schriftsteller und Journalist in Winterthur. Bekannt wurde er durch seinen 1998 im Arche Verlag, Zürich, erschienenen Roman «Agnes» und die ein Jahr später veröffentlichten Erzählungen «Blitzeis». 1998 erhielt er den Rauriser Literaturpreis.

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