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Die Frau des Theologen

Sieben Jahrzehnte sind eine lange Zeit. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind nicht vergangen. Ein New Yorker Schriftsteller erlebt bei einem Abendessen in Berlin im Gespräch mit seiner deutschen Tischnachbarin eine erstaunliche Überraschung.

Es war mein letzter Abend in der luxuriösen, am Berliner Wannsee gelegenen Villa der American Academy, wo ich mich über den Winter eingenistet hatte. Ein bekannter indischer Ökonom sollte eine Vorlesung halten über die Ursachen der globalen Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Dritte Welt. Soll man mich einen Drückeberger nennen, aber ich hatte keine Lust, mir die traurigen Statistiken anzuhören. Die Weltgeschichte würde sich auch ohne mich weiter entwickeln, dachte ich. Einen kleinen Imbiss wollte ich ergattern und dann unbemerkt verschwinden, um mich dem Kofferpacken zuzuwenden. Die Abendessen an der Academy sind immer eine feierliche Angelegenheit. Meine Tischnachbarin zur Linken, die Gattin eines bekannten deutschen Theologen, war eine stattliche Frau im fortgeschrittenen Alter mit hohen Wangenknochen, preußisch-blauen Augen und streng geflochtenem blonden Haar. Mit ihrer aufrechten Haltung – den Kopf hoch erhoben, als säße sie nicht am Tisch, sondern im Reitsattel – hatte sie etwas an sich, was man früher wohl aristokratisch genannt hätte. Die Vorspeise bestand aus zwei sehr lecker aussehenden gerösteten Seekammmuscheln und getrockneten Meerespflanzen. „Bon appétit!“, sagte ich. „Gesegnete Mahlzeit!“, antwortete sie. „Gesegneter Koch!“, konterte ich und bereute gleichzeitig den schnodderigen Ton meiner unüberlegten Erwiderung. „Entschuldigen Sie“, sagte ich, „aber ich bin nicht gläubig.“ Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie sich nicht angegriffen fühlte. „Religion ist eine sehr persönliche Sache. Ich fühle mich in meinem Glauben beschützt.“ „Beschützt“, dachte ich, eine seltsame Wortwahl, und bekannte: „Ich selbst habe überhaupt keine Bindung an einen Glauben.“ „Angesichts der Geschichte meiner Familie ist mir auch ein Gefühl von Beschütztsein gar nicht möglich.“ Sie schien betroffen. „Ich bin ein Sohn von Flüchtlingen“, sagte ich, um die Sache klarzustellen. „Oh?“ Ich hätte das Thema wechseln sollen, entschied aber, meine Karten offen auf den Tisch zu legen. „Die Abreise meines Vaters aus seinem Geburtsort Wien war …“ – ich suchte nach einem geeigneten Adjektiv – „überstürzt.“ „Er wurde im Beiwagen eines Motorrads mit einer im Wind flatternden Hakenkreuzfahne mitgenommen, von einem Mitglied eines Motorradvereins, der bereit war, ihn gegen Bezahlung bei Sonnenuntergang zu einem Waldstück an der Grenze zur Tschechoslowakei zu bringen.“ Ich geriet ins Erzählen. „Als es einen großen Knall gab, dachte er zunächst, das sei ein Schuss. In Wirklichkeit war es nur eine Fehlzündung des Motors. Aber plötzlich stoppte die Maschine, und mein Vater dachte schon, dass dies sein Ende wäre. Doch dann stieg der Motorradfahrer ab und kehrte mit einem blutenden Hasen in der Hand zurück, den er überfahren hatte. Er schlug das Tier mit dem Kopf gegen den Kotflügel und übergab es meinem Vater. Der sollte es für ihn festhalten, denn frisches Fleisch war Mangelware, und er wollte das Tier für das Mittagessen verwenden.“ Das Servieren des Hauptgangs – eines der Markenzeichen unseres Kochs: Wildbraten mit Himmel und Erde – kam als willkommene Unterbrechung. Meine Tischnachbarin schaute zwischen den Bissen zu mir herüber, als betrachtete sie eine seltene wilde Blume, was mein Unwohlsein nur verschlimmerte. Um meinen Abgang zu erleichtern, ließ ich die Bemerkung fallen, dass ich am nächsten Morgen sehr früh nach Pozna in Polen fahren würde und deshalb leider auf das Dessert verzichten und die Vorlesung auslassen müsse. „Nach Posen?!“, brach es aus ihr heraus, wobei sie den alten deutschen Namen der Region und der Stadt benutzte, um sich unmittelbar darauf selbst zu korrigieren, um anzudeuten, dass sie keinen heimlichen Wunsch nach Rückgewinnung hege. Ich nickte, um zu zeigen, dass ich verstanden hätte. „Ich bin auch …“, sie zögerte einen Moment, „das Kind von Flüchtlingen.“ Sie wirkte verlegen und stolz zugleich. „Ich entstamme einer langen Linie deutscher Adliger, dem Landadel von Pozna, Posen, wie es damals hieß.“ Und dann erzählte sie ihre Geschichte. „Der Krieg war praktisch vorbei. Die Russen drangen vom Osten vor. Der Winter war so bitterkalt, die Kinder brachen die Eiszapfen von den Fensterbänken ab und lutschten sie wie Bonbons. Ein hochdekorierter Panzerkommandeur der Wehrmacht, der schon lange Zeit fort war und den die Familie schon tot geglaubt hatte, durchbrach auf wundersame Weise die feindlichen Linien und rollte mit seinem Panzer in der Dunkelheit der Nacht auf das Familiengut.“ Was folgte, beschrieb sie mir in deutlichen Details, wie ein Augenzeuge, und doch mit einer gewissen Distanz in der Stimme. „Der Offizier sprang heraus in einer ordentlich gebügelten Uniform, tippte zum Gruß an sein schräg aufgesetztes Käppi und drückte seine beiden Söhne sowie seine zitternde Frau, die meinte, seinen Geist zu sehen.“ Sie machte eine Pause. „In dieser Nacht, sagte der Offizier zu seiner Frau, wolle er eine blonde, blauäugige Tochter zeugen. ‚Bist du verrückt?‘, protestierte die Frau flüsternd, um die Kinder nicht zu wecken. ‚Der Krieg ist verloren, wir haben schon zwei Söhne, die wir großziehen müssen. Warum dann noch ein Kind in diese Welt bringen?‘ Aber der Offizier bestand darauf, und seine Frau wagte nicht, es ihrem hochdekorierten Mann zu verweigern.“ Die Frau des Theologen wandte sich ab und senkte den Kopf. „Am nächsten Morgen in der Frühe“, fuhr sie fort, während ihre Stimme einen seltsam feierlichen Ton annahm, „zog der Vater seine perfekt gebügelte Uniform an, setzte das Käppi im richtigen Winkel auf, stoppte kurz vor Mutters Frisierspiegel, um sein Aussehen zu überprüfen, sagte, er würde nur eine Minute fort sein, und als Mutter ihm vom Schlafzimmerfenster aus nachschaute, lächelte er, klopfte auf die aufgerichtete Kanone, hob die Luke an, stieg hinein, setzte den großen Panzer in Bewegung, steckte seinen Kopf heraus und winkte ihr am Fenster ein letztes Mal zu. Dann sprang er heraus und warf sich unter die rollende Panzerkette.“ Der Tisch wurde abgeräumt und das Dessert serviert. Keiner von uns beiden rührte das Wildbeeren-Parfait an. „Hat Ihre Mutter um ihn getrauert?“, fragte ich. „Da war keine Zeit zum Trauern“, schüttelte meine Tischnachbarin den Kopf. „Die russische Artillerie kam immer näher. Sie riss sich zusammen, nahm eine Spitzhacke, beerdigte Vaters Überreste und floh mit nichts als den Kleidern auf dem Leib mit meinen beiden Brüdern im Schlepp und dem Samen eines Kindes in ihrem Schoß den ganzen Weg zu Fuß nach Berlin. Vaters Wunsch wurde ihm posthum erfüllt. Ich war blond und ich war blauäugig.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wir vier wohnten zusammen in einer engen Dachstube, in der es durch die Decke regnete und schneite. Ich fühlte mich trotzdem beschützt. Als ich erwachsen war, traf ich meinen Mann und heiratete ihn.“ Sie nickte zu dem Theologen hinüber, der ob unserer angeregten Unterhaltung zunehmend besorgtere Blicke in unsere Richtung warf. „Ich wurde Kindergärtnerin, hatte ein langes Berufsleben und bin erst letztes Jahr in Rente gegangen.“ Nun, in ihren „goldenen Jahren“, hoffe sie, ehrenamtlich bedürftigen Kindern helfen zu können. Ich war zu lange geblieben, um der Vorlesung des Ökonomen entgehen zu können. Aber ich war so in meinen Gedanken verhangen, dass ich mich an keines seiner Worte erinnerte, die er über die gegenwärtige Krise und unsere Zukunft verlor. Ich schaute weiterhin zu meiner Gesprächspartnerin, die nun neben ihrem Mann saß, ihre Hand in der seinen. Obwohl Kinder zweier gegensätzlicher Legenden, fühlten wir uns durch ineinander verflochtene Tragödien verbunden. Und obwohl ich immer noch nicht ahne, was es bedeutet, sich beschützt zu fühlen, und bezweifle, dass ich es je wissen werde, gibt es bei aller Verschiedenheit unserer Schicksale doch eine unleugbare Parallele zwischen dem Motorrad, das meinen Vater in die Freiheit brachte, und dem Panzer, der ihrem Vater eine andere Form der Freiheit einbrachte. Auf beiden fuhr die Geschichte mit. Aus dem Amerikanischen von Werner Rauch Zurück zur Homepage

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