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Die Flüchtlingsschule - Wo Muttersprachler die Minderheit sind

Die Wolfsburger Oberschule nimmt ständig neue Flüchtlinge auf. Drei Viertel der Schüler haben bereits einen Migrationshintergrund. Ein Besuch

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Irgendwann standen sie vor der Tür von Schuldirektor Udo Fiedler. Es war schon September, das Schuljahr hatte begonnen, und sie kamen täglich an die Wolfsburger Oberschule. Flüchtlingskinder, oft ohne Eltern, manchmal vier auf einmal.

Fiedler, ein besonnener Onkeltyp mit Graubart und Brille, weist niemanden ab. Trotz Nöten. Die Räume sind übervoll, im regulären Lehrbetrieb fehlen ihm auch Vertretungslehrer. Ganze 90 Wochenstunden.

Trotzdem ist hier fortlaufend Schuleinführung.

Der Stadtteil Westenhagen ist umgeben von Plattenbauten. Das Asylbewerberheim ist zehn Minuten entfernt, eine Brücke bleibt wegen Einsturzgefahr gesperrt.

Schüler aus 35 Nationen


Udo Fiedler hat schon viel erlebt; an einer anderen, mittlerweile geschlossenen Schule unterrichtete er mal einen Jungen, der sich später dem „Islamischen Staat“ anschloss. „Der ist jetzt tot.“

Seine Schüler kommen aus 35 Nationen. Der Direktor sieht das als Vorteil: „Die Neuen haben nicht das Gefühl, hier bin ich ein Exot“.

Mittlerweile sind es 80 Flüchtlinge, von 700 Schülerinnen und Schüler. Er teilt die Neuankömmlinge in fünf Sprachlernklassen auf, die das Kultusministerium finanziert. Im Deutschunterricht sitzen Kinder und Jugendliche aus beiden Schulzweigen seiner Einrichtung, Realschule und Gymnasium.

In ganz Niedersachsen hat sich binnen zwei Jahren die Zahl dieser Klassen verfünffacht – auf jetzt 300. Demnächst sollen es 550 sein. Für Sprachförderung sind zusätzliche 7.500 Stunden vorgesehen.

Folgt man Marcus Hasselhorn vom Leibniz-Forschungsverbund, ist das der ideale Weg zur Integration. Flüchtlingskinder, vor allem in Kitas und an Grundschulen, sollten „so schnell wie möglich in den Klassenverband“ kommen, bei weiterführenden Schulen „nach einer kurzen Phase des gezielten Spracherwerbs“.

Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass allein in diesem Jahr 325.000 Flüchtlinge im schulpflichtigen Alter nach Deutschland kommen. Allerdings dürfte diese Zahl noch zu niedrig sein.

Sprachlernklassen für Analphabeten von elf bis 17 Jahren


Allerdings kommen da nicht nur Hochgebildete: An der Wolfsburger Oberschule gibt es unter den Flüchtlingskindern auch zehn Analphabeten. Sie müssen nicht nur Deutsch lernen, sondern auch Lesen, Schreiben, Rechnen.

In der Sprachlernklasse 1 steht Mathe auf dem Lehrplan, die Zahlen von null bis hundert. Der Unterricht findet nicht im Schulgebäude statt, wegen der Platznot, sondern in der nahe gelegenen Volkshochschule.

Natascha Rode, blonde Haare, Pferdeschwanz, malt ein Quadrat an die Tafel. Vier mal vier Kästchen, darin zufällige Ziffern, darüber das Wort „Bingo“. Sie verteilt Arbeitsblätter, erklärt die Spielregeln.

Dann die erste Zahl: „Eins.“

Mohammed, elf, aus Syrien, Berufswunsch: „Haarschneider“, schaut auf seine Kästchen und trommelt mit den Fingern auf die Schulbank.

Abbas, 17, aus dem Irak, lächelt, kreuzt seine „1“ an. Er markiert noch drei andere Zahlen darunter mit einem roten „X“ und verbindet alles zu einer senkrechten Linie.

Rode schaut ihm erstaunt über die Schulter: „Warum sind hier überall Kreuze?“

Für Natascha Rode, 29, ist es der erste Mathekurs für Flüchtlinge. Sie hat sich freiwillig gemeldet, ohne Zusatzausbildung. „Manchmal rede ich nur mit Händen und Füßen“. Sie beklagt, „dass es kein Mathebuch für Sprachlernanfänger gibt“.

Migranten-Obergrenze bei 30, 40 Prozent?


Der Leibniz-Pädagoge Hasselhorn betont, dass der Anteil der Analphabeten bei den Flüchtlingen – etwa 15 Prozent – etwa jenem der deutschen Bevölkerung entspricht. Trotzdem sieht er Grenzen: Wenn der Prozentsatz von nicht-deutschsprachigen Schülern in einem Klassenverband 40 Prozent übersteige, „dann ist es zu viel“.

Eine Migranten-Obergrenze für Schulklassen? Hasselhorn erwähnte das auf einer Pressekonferenz beim „Bildungspolitischen Forum“ in Berlin Anfang Oktober. Es waren viele Journalisten anwesend; trotzdem nahm da niemand an seiner Aussage Anstoß.

Das Thema wurde erst zwei Wochen später eines, als sich der Chef des Deutschen Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger, zu Wort meldete. „Schon wenn der Anteil von Kindern nicht-deutscher Muttersprache bei 30 Prozent liegt, setzt ein Leistungsabfall ein“, sagte Meidinger. Er ergänzte, schlagzeilenträchtig: „Wir wollen keine Gettos.“

„Deutsch als Zweitsprache“ mit Obst-Kärtchen


Die Frage, ob zu viele Migranten deutschen Schülern schaden, entzweit die Wissenschaft. Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass nicht die Muttersprache, sondern vor allem die soziale Herkunft eines Schülers das Lernklima beeinflussen. Tatsache ist: Die Leistungen von Schülern mit Migrationshintergrund haben sich seit der ersten PISA-Studie 2001 stetig verbessert.

Direktor Udo Fiedler sieht die Obergrenze für seine Klassen ebenfalls bei einem Drittel. An der Wolfsburger Oberschule sind schon jetzt die Muttersprachler in der Minderheit. Drei Viertel haben einen Migrationshintergrund.

Heidi Rosenthal unterrichtet „Deutsch als Zweitsprache“ mit Kärtchen. Darauf sind Äpfel abgebildet, Bananen, Erdbeeren, einer schreibt: „Ärdbeireen“. Rosenthal sagt: „Es funktioniert nicht, wenn hier ständig ein Kommen und Gehen ist.“ Eine Gruppe müsse schon zusammenbleiben, bis sie das gewünschte Bildungsniveau erreicht habe. „Wenn jetzt einer neu dazu kommt und nichts kann, dann bräuchte ich mehr Zeit oder eine weitere Lehrkraft. Andernfalls bremst das die Stärkeren aus.“

Kultusminister fordern 2,3 Milliarden Euro mehr


Die Kultusministerkonferenz fordert 20.000 zusätzliche Pädagogen, um die Integration zu schaffen. Sie veranschlagt dafür Mehrkosten von 2,3 Milliarden Euro für das laufende Jahr. Der Philologenverband, der die Gymnasiallehrer vertritt, fordert sogar 25.000 Lehrkräfte.

Jedoch: Mit mehr Geld und mehr Stellen allein wird es auch nicht getan sein. Was sich ebenfalls wandeln muss, sind die Lehrpläne. Die pädagogischen Konzepte.

Die didaktische Leiterin der Schule, Gabi Schmitt-Leupold, erzählt, wie einer ihrer Deutschlehrer mit seinen Schülern einmal das Wiegelied „Der Mond ist aufgegangen“ besprechen wollte. Doch dann sei er erstaunt gewesen: „Das kannte in seiner Klasse niemand.“

Dass Wissenslücken bei deutschem Volksgut einer Bildungskarriere nicht abträglich sein müssen, zeigt die Zahl der Wolfsburger Übergänger auf höhere Schulen: Im vergangenen Jahr schafften 50 von 160 Schülern den Wechsel auf das hauseigene oder andere Gymnasien der Stadt.

In jedem Fall bringen die Flüchtlingskinder etwas mit, was manch strenger Oberstudienrat längst als vermisst beklagt hat: „Respekt.“ Sagt die Französischlehrerin. „Die Neuen sind viel besser erzogen als unsere Schüler.“

Und in der regulären Klasse 9e – Übungsstunde Prozentrechnung – findet der Mathelehrer nur lobende Worte: „Sehr helle“ seien seine beiden syrischen Flüchtlinge. „Top-Kinder.“

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