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KZ-Überlebende erinnert sich an Bergen-Belsen - „Der unterste Teil der Hölle“

Am 15. April jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch die britische Armee zum 70. Mal. Der Autor sprach mit einer Überlebenden aus seinem Familienkreis, der Musikerin Zuzana Ruzickova

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Vogl, Frank

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Ich schreibe diese Kolumne, während ich eine vor Kurzem erschienene Supraphon-CD höre. Auf dem Album spielt meine Cousine, Zuzana Ruzickova, Johann Sebastian Bachs „Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll“. Zuzana ist heute 88 Jahre alt und lebt in Prag. Fast 60 Jahre lang war sie einer der weltweit meist gefeierten Cembalo-Spielerinnen, bis sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzog.

Ihr internationaler Erfolg ist umso bemerkenswerter, als sie über 40 Jahre lang in der Tschechoslowakei unterdrückt wurde, weil sie sich als Jüdin weigerte, der kommunistischen Partei beizutreten. Sie überlebte Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen. Zur Zeit ihrer Befreiung war sie 18 Jahre alt und wog 30 Kilo.

Allen Widrigkeiten zum Trotz


Zuzana und ihre Mutter, Poldi, überlebten die Konzentrationslager, unter anderem die vier Monate in Bergen-Belsen. Sie sagt: „Der Geist von Bach war immer bei mir und hielt mich am Leben“.

In Interviews erinnert sich Zuzana an die Tage der Befreiung: „Wenn Auschwitz die Hölle war, dann war Bergen-Belsen eine andere Hölle – der unterste Teil der Hölle. Niemand wollte, dass wir überleben. Die schwachen und kranken Gefangenen sollten nicht überleben. Aber wir taten es trotzdem“.

„Wir wohnten in Militärbaracken – vielleicht 500 oder sogar 700 Menschen in einer Baracke – so dass es nicht möglich war, sich hinzulegen. Wenn du schlafen wolltest, musstest du dich wie eine Sardine in den Schoß einer anderen Person legen.

Massen von toten Körpern lagen schon herum. Niemand gab uns etwas zu essen oder zu trinken. Da waren Haufen von Leichen. Die Deutschen dachten wahrscheinlich schon, das Ende des Krieges würde kommen, also errichteten sie Scheiterhaufen aus den toten Körpern und verbrannten sie.

Wenn man sich freiwillig meldete, um die Toten auf die Scheiterhaufen zu legen, bekam man einen Teller Suppe. Meine Mutter war zu schwach zu jener Zeit, aber ich meldete mich und manchmal bekam ich einen Teller Suppe für sie und für mich. Aber dann hörte auch das auf und wir mussten hungern.“

Erschöpft und krank, aber gerettet


„Als die Briten ankamen, waren wir alle völlig ausgehungert. Wir hatten nichts zu essen. Nichts. An diesem Abend hörten wir einige LKWs und Panzer. Weil ich etwas Englisch konnte, hielt ich einen LKW an und fragte: ‚Können Sie Hilfe für meine Mutter holen?‘ Das ganze Lager war mit Typhus und anderen Krankheiten infiziert.

Meine Mutter war sehr krank. Ich war auch krank, aber nicht so schlimm. Wir flehten alle um Essen. Sie gaben es uns, aber das war tödlich für manche Menschen, denn sie konnten die Nahrung nach so vielen Jahren des Hungerns nicht verdauen.

Die Briten brachten meine Mutter ins Krankenhaus. Die Ärzte sahen, dass ich Fieber hatte. Sie dachten, es sei Malaria und dass ich sterben würde. Irgendwie wurde ich aber wieder gesund. Es dauerte fast drei Wochen, bis ich meine Mutter fand.

Auf einer Krankenstation fand ich meine Cousine Dagmar. Sie hatte das letzte Tuberkulose-Stadium erreicht. Also verbrachte ich die letzten drei Tage mit ihr. Ich tröstete sie. Sagte ihr, dass wir nach Pilsen gehen würden, in die Tschechoslowakei.

Meine Mutter war sehr krank und sie erholte sich nur langsam. Da sie in Quarantäne bleiben musste, konnten wir bis August nicht nach Pilsen zurückkehren. Auch dann noch fühlte sie sich zu schwach, um zu reisen. Sie hatte auch Angst vor der Rückkehr, denn sie befürchtete, jeder, den wir kannten, könnte getötet worden sein. Aber ich überzeugte sie, indem ich sagte, dass sie mir zuliebe nach Hause gehen sollte.“

Die Briten kommen


„Weißt du, die Engländer waren wunderbar. Diese Organisation! Das war eine kämpfende Armee aus nur wenigen Ärzten und Krankenschwestern, aber jeder half, mit den vielen Soldaten, die als männliche Krankenschwestern einsprangen. Jeder war so effizient. Sie haben das so schnell organisiert bekommen an einem Ort mit tausend kranken Menschen und tausend herumliegenden Leichen.

Sie gaben mir Kleidung und als es mir etwas besser ging, übersetzte ich für sie. Eines Abends gaben sie mir ein riesiges Essen und sie brachten mich in ein Zelt, um einen Film zu sehen. Das war das erste Mal, dass ich einen Film in Farbe sah.

Zuerst spielten sie ‚God Save the King‘ – das werde ich niemals vergessen. Später ging ich zurück zu meinen Baracken und war sehr krank. Mir war die ganze Nacht übel und ich dachte, ich müsste sterben. Aber ich war auch glücklich – wir waren frei.“

1956 gewann Zuzana Ruzickova den Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München. Damit begann ihre Karriere. Sie würde oft in Bachs Heimatland Deutschland auftreten.

„Als mein Vater (1943 in Theresienstadt) starb, sagte meine Mutter zu ihm: ‚Ich hasse alle Deutschen und werde mich für deinen Tod rächen‘. Mein Vater sagte: ‚Hasse nicht. Hass vergiftet deine Seele. Überlass die Rache Gott.’”

Zuzana fügte hinzu: „Ich fühle immer noch, dass man sich selbst vergiftet, wenn man jemanden hasst. Hass ist etwas Negatives. Du solltest Hass vermeiden. Manchmal fühlte ich mich ein bisschen charakterlos, weil ich die Deutschen nicht so sehr hasste wie ich es vielleicht gesollt hätte. Aber hassen ist ein sehr negatives Gefühl.

Ich wurde oft gefragt, ob ich einem Deutschen vergeben könnte. Ich sagte, zuerst müsste er mich um Vergebung bitten. Und dann würde ich überlegen, ob ich die Stärke hätte, zu vergeben. Aber manchmal könnte ich vielleicht verzeihen. Aber nicht vergessen, niemals vergessen.“

Der Artikel erschien zuerst beim Onlinemagazin „The Globalist“.

Übersetzung Lena Guntenhöner

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