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() (l.) Jürgen Habermas, (m.) Ernst-Ludwig Winnacker, (r.) Hans Mommsen
Deutschlands wichtigste Vordenker

Im Auftrag von Cicero ermittelte eine Studie, welche Wissenschaftler und Intellektuellen Deutungsmacht beanspruchen können, weil sie am häufigsten in Leitmedien und wissenschaftlichen Publikationen zitiert werden. Im akademischen Lager tobt unterdessen der Streit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften um Einfluss und Ressourcen. Eine Debatte mit politischer Sprengkraft

Lesen Sie auch: Christoph Stölzl: Unsere Vergangenheitsdeuter Jürgen Habermas: Der Intellektuelle Mit Bandagen wird hier nicht gekämpft, das Florett sucht man vergebens. Doch die Geistes- und die Naturwissenschaften rüsten zum Showdown. Im Herbst 2008 ist der Stand der Eskalation folgender: Geisteswissenschaftler, so das vernichtende Fazit eines der Kontrahenten, seien eher faul denn arbeitsam, politisch naiv statt klug und im strengen Sinne gar keine Wissenschaftler. Sie wendeten nur Worte hin und her, fischten im Trüben, segelten im Nebel. Der Wirklichkeit stellten sich – im Experiment – allein die fleißigen, selbstlosen Naturwissenschaftler, die deshalb fortan Realwissenschaftler zu nennen seien. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt der bekannte Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera in einem Streit, der die universitäre Elite spaltet. Auf dem Spiel steht die Zukunft eines weithin für grundlegend gehaltenen Forschungszweiges, der Wissenschaft vom Menschen und seinem Denken – ob als Philosophie, Geschichte, Theologie, Literatur- oder Kulturwissenschaft. Die Deutungshoheit über unseren Begriff von Bildung wird neu verhandelt: Sollen die Probleme und Erkenntnisse der Geisteswissenschaften weiterhin für allgemein wissenswert gehalten werden? Haben viele ihrer Hervorbringungen nicht einen allzu subjektiven, ja, privaten Charakter? Der Konflikt im Wissenschaftsmilieu ist alles andere als ein Streit im Elfenbeinturm. Er verfügt über eine enorme ökonomische und politische Sprengkraft. Warum etwa, ließe sich fragen, soll der Staat sein Subventionsfüllhorn über Fakultäten ausgießen, an denen hauptsächlich leeres Stroh gedroschen wird, bar jeder Aussicht auf Anwendung, Verwertung, Fortschritt? Kutschera, Professor an der Universität Kassel, hatte in einem Beitrag für das unter Biologen weitverbreitete Laborjournal geschrieben: „Während der Naturwissenschaftler real existierende Dinge erforscht – vom sub-atomaren Teilchen bis hin zur Biodiversität von Regionen –, beschäftigt sich der Verbalwissenschaftler bevorzugt damit, das, was andere über reale Sachverhalte gedacht und geschrieben haben, gegeneinander abzuwägen, neu auszulegen und zu kommentieren.“ In den Vereinigten Staaten halte sich der Geisteswissenschaftler aus den „inneren Angelegenheiten und Fragestellungen der ‚Sciences‘“ heraus. In Deutschland hingegen müsse Kutschera erleben, „dass sich Verbalwissenschaftler, die sich mit menschlichen ‚Geistes-Produktionen‘ befassen, immer wieder über jene Personen erheben wollen, die unter Einsatz enormer persönlicher und technischer Aufwendungen reale Phänomene der Natur erforschen“. Damit habe Schluss zu sein, denn „nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie“. Zur Feder gegriffen hatte Kutschera, weil er über einen Historiker erbost war, der sich in seinen Augen – ebenfalls im Laborjournal – nicht hinreichend vom Kreationismus distanziert hatte. Weit über diesen Anlass hinaus greift jedoch das Plädoyer für jene prinzipielle Scheidung in Verbal- und Realwissenschaften, die der philosophische Bestsellerautor Richard David Precht („Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“) für „grandios dumm“ hält. Precht wirft den Naturwissenschaften vor, „über ihre Geschichte, die oft eine Geschichte der bombastischen Irrtümer ist, viel zu wenig nachzudenken.“ Er erinnert an die „Arroganz“ der Biologie des 19. Jahrhunderts, die „nachher in Rassentheorie und Sozialdarwinismus als Legitimationen für den Holocaust ‚entartet‘ ist. Auch die Rassentheoretiker haben gedacht, sie betreiben Wissenschaft.“ Außerdem verlasse jeder Naturwissenschaftler das Feld der nackten Fakten, sobald er seine Daten interpretiert: „Beweisführung ist immer Geisteswissenschaft.“ Fotos: Picture Alliance

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