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(picture alliance) Anne-Sophie Mutter

Anne-Sophie Mutter - Der verkörperte Superlativ

Unvergleichlich souverän steht die Jahrhundertgeigerin Anne-Sophie Mutter seit 35 Jahren auf der Bühne. Wer sie verstehen will, sollte Ovid lesen.

„Jeder Superlativ reizt zum Widerspruch“, hat Otto von Bismarck erkannt. Und strich alle Superlative aus den Texten seiner Mitarbeiter. Anne-Sophie Mutter müsste sich selbst rausstreichen, denn sie ist der verkörperte Superlativ. Bismarck würde es folglich nicht wundern, dass vor ihr Lobpreisungen und Schmähungen kollidieren. Doch wie kann sie dabei ihre Gelassenheit wahren?

Wir treffen uns im Garten des Münchner Hotels Palace an einem schwülen Sommertag. Sie ist genauso gekleidet, wie eine Frau mit Stil an einem schwülen Sommertag gekleidet sein sollte: Caprihosen, blumig aquarellierte Organzabluse, darauf abgestimmte Sandaletten und Kreolen. Es stimmt alles, die Intonation ihrer Begrüßung, die Choreografie der Hände, die Temperatur ihres Blickes. Nur um eine SMS ihrer Tochter zu beantworten, die ihren ersten Tag als Praktikantin an einem Theater hat, entzieht sie ihrer Gesprächspartnerin für eine halbe Minute ihre Aufmerksamkeit.

In 35 Jahren hat Anne-Sophie Mutter niemals einen Einsatz verpasst, jeden Einblick ins Privatleben versperrt, keine Entgleisung zu verantworten und weder ethisch noch ästhetisch den geringsten Makel. Mindestens vier Benefizkonzerte gibt sie im Jahr, nebenbei ist sie hingebende Mutter, liest die richtigen Bücher und lobt die richtigen Leute. Es passte so schön, wenn ihr Musikgeschmack angepasst wäre; stattdessen bricht sie, seit sie mit Witold Lutoslawski vor 25 Jahren die erste Expedition in die Gegenwartsmusik wagte, ständig zu unbekannten, oft unwirtlichen Küsten auf, an die sie Komponisten wie Sofia Gubaidulina, Henri Dutilleux, Wolfgang Rihm oder Krzysztof Penderecki locken. Es verblüfft nicht, dass diese Künstlerin einigen suspekt erscheint, denn es fragt sich: Wie hält ein Mensch das so lange durch, ohne jemals einzuknicken? Mancher, der keine Antwort darauf findet, rettet sich in jene Anwürfe, die mehr über den Werfenden als den Beworfenen verraten. Dabei hatte Anne-Sophie Mutter schon vor mehr als drei Jahrzehnten in zwei Worten den Schlüssel zu ihrem Verständnis geliefert. Leider wurde dieser von der Musikkritik in der Zwischenzeit verlegt.

Sie war 26 und gerade frisch verheiratet, als sie in den Proust’schen Fragebogen ihre Lieblingshelden in der Literatur eintrug: Philemon und Baucis. Da schwärmte eine junge Frau für das greise Ehepaar, von dem Ovid in seinen „Metamorphosen“ erzählt. Zwei arme Menschen fahren ihr Bestes und Letztes auf, um zwei Bettler zu verwöhnen, die zuvor von jedem abgewiesen worden waren und sich zu guter Letzt als Jupiter und Merkur zu erkennen geben. Philemon und Baucis begreifen sich ganz selbstverständlich als Diener einer höheren Sache, der Gastfreundschaft und der Menschenliebe. Arnold Schönberg ermahnte den Interpreten, der „heißeste Diener“ des Komponisten zu sein. Und diesen Beruf der Dienerin erfüllt Anne-Sophie Mutter mit stolz erhobenem Kopf seit Jahrzehnten, seit sie mit neun Jahren zu Aida Stucki kam, ihrer zweiten Lehrerin.

Wie Mozart hat Anne-Sophie Mutter nie eine Schule von innen gesehen, doch im Gegensatz zu ihm rempelte sie bei ihren Zeitgenossen nie an. Hat sie das von Aida Stucki gelernt? Sie lächelt wund; Aida Stucki ist vor ein paar Wochen gestorben, und in den letzten Monaten saß ihre meisterliche Schülerin oft bei ihr. „Ich frage mich: Was habe ich nicht von ihr gelernt? Sie hat mir Haltung, das Relativieren von Urteilen, Konsensfähigkeit beigebracht.“ Und italienisch zu kochen, so gut wie Aida Stucki selbst und ihr Mann, Geiger aus der Emilia Romagna, einst Konzertmeister Toscaninis. „Vor allem aber habe ich von ihr Werktreue gelernt.“ Kann ein Kind von neun Jahren denn verstehen, was das meint? „Ich habe kapiert, dass ein Werk nicht dafür da ist, dass ich an ihm meine Ausdruckswelt auslebe“, sagt die Geigerin knapp.

Die Musik wurde ihre Schule des Lebens in jeder Hinsicht. Im Klaviertrio fragten die Partner sie: „Musst du denn immer so laut spielen, sogar wenn deine Stimme gar nicht wichtig ist?“ Da begriff sie, dass sie nicht immer die Wichtigste war. „Es gibt für den Interpreten, wenn ihm Werktreue ein Anliegen ist, keinen Spielraum für das Ego. Damit hatte ich nie ein Problem.“ Ein Problem aber hat sie mit Interpreten, für die Werktreue kein Thema ist. „Die pinseln noch eine weitere Seerose in Monets Nymphéas-Komposition.“ Durch ihre Sammlung von Faksimiles erkannte Anne-Sophie Mutter, was originale Notenschrift an Einsichten beschert. „Schade, dass die Komponisten meiner Generation fast nur noch am Computer arbeiten“, bedauert sie. „Ein Autograf macht so vieles vom Schaffensprozess sichtbar, es zeichnet sich das Ringen darin ab.“

Ihr selbst ist derartiges Ringen eben nicht anzusehen. Jemand wie ihr kurzfristiger zweiter Ehemann und langfristiger Verehrer André Previn bewundert das. Andere stört es, dass sie bestenfalls die Stirn runzelt, aber sonst keine Indizien innerer Kämpfe offenbart. „Ich ringe vorher. Wenn ich auf die Bühne gehe, befinde ich mich nicht mehr unten, sondern auf einem Zwischenplateau. Ich weiß, was unter mir liegt, aber sehe auch noch, was vor mir aufragt.“

Anne-Sophie Mutter nennt ihr Verhältnis zur Geige „eine Liebesbeziehung“. Eine, in der sie so treu ist wie Baucis ihrem Philemon. Die beiden Alten werden, weil es ihr Wunsch war, nicht in das Grab des anderen schauen zu müssen, am Lebensende gleichzeitig in einen Baum verwandelt. Anne-Sophie Mutter findet es berechtigt, dass der Stimmstock der Geige im Französischen „l’âme“, die Seele, heißt, und sorgt dafür, dass sie nicht das Verenden ihrer Stradivari Lord Dunn Raven erlebt. Zweimal im Jahr wird sie auf eine exklusive Kur geschickt, „zu Etienne Vatelot, einem Geigengenie“. Ebenso wenig soll die Geige das Absterben ihres Könnens erleben. „Aufhören zum richtigen Zeitpunkt“, das hat sie sich schon mit 15 vorgenommen, damals aber dachte sie noch, dass es an ihrem 40.Geburtstag so weit sei.

Philemon und Baucis sind bei Ovid nicht nur einander, sie sind sich selbst und ihren Überzeugungen treu. Alles andere wäre Verrat dessen, was den armen Schluckern kostbar ist. Was bei Ovid rührt, sorgte bei Anne-Sophie Mutter für Aufsehen, sogar für Unverständnis: nach der Generalprobe zum Violinkonzert von Sibelius kündigte sie dem großen Dirigenten Sergiu Celibidache die Zusammenarbeit auf. „Es so zu spielen, wie er wollte, wäre gewesen, als hätte ich mich freiwillig mit Fußfesseln und ohne Atemmaske in den Hudson River werfen lassen.“ Als sie absagte, spürte sie bei Celibidache jedoch „einen Nanosplitter von Respekt vor jemandem, der seiner Werkauffassung treu bleibt“. Treue, auch Werktreue, ist für Anne-Sophie Mutter die Voraussetzung, um miteinander vertraut zu werden. „Etwas anders zu spielen, nur um anders zu sein, ist eine Art von Betrug.“ Jene Originalität, die sie sucht, kann nur durch geduldige Annäherung an das Stück entstehen, nicht durchs Originellseinwollen.

Das aber macht weniger her. Anne-Sophie Mutter verweigert es, als Künstlerin und als Frau, den Sensationshunger zu füttern. Familienkrach, Streit, Scheidung, darüber schweigt sie. Treue Ehepaare lassen die Boulevardpresse blass werden, also werden sie für langweilig erklärt. Vielleicht erwächst die Kritik, Anne-Sophie Mutter fehle „Sand in der Feinmechanik ihrer Psyche“, ihr Spiel erschüttere nicht, sondern fließe ab wie Öl, aus demselben Grund. Sie erregt sich nicht darüber, schon weil ihr die Kritik immer nur so viel wert ist wie deren Absender. Für Lob gilt dasselbe.

"Glücklich hat mich gemacht, als Juri Baschmet, der beste Bratscher weltweit, zu mir gesagt hat: ‚Du spielst dasselbe nie gleich.‘“ Nicht einmal innerhalb eines Stückes. Sie spielt ein Thema in der Reprise immer mit einem anderen Fingersatz, mit anderer Gestik als in der Exposition. Das meinte wohl Joachim Kaiser, als er 2008 in seiner Laudatio bei der Verleihung des Ernst-von-Siemens-Preises an Mutter sagte, sie kenne die „Verpflichtung zur Verwandlung“. Nur so bleibt eine Frau für ihren Mann, ein Mann für seine Frau begehrenswert.

Wenn sich zwei nichts mehr zu sagen haben, liegt das an der erlahmenden Neugier. Das lässt sich auf Werk und Interpret übertragen. Anne-Sophie Mutter nennt sich „äußerst dialogfreudig“. Kein Zufall, dass Wolfgang Rihm ihr das Stück „Dyade“ zum 35.Bühnenjubiläum widmete, das er in einem Brief an sie als „eine Zweierbeziehung mit allem Drum und Dran“ bezeichnet hat. Anstrengender findet Mutter es, einem Werk neue Fragen zu stellen, dessen Komponisten sie nicht mehr befragen kann. Auf manche Fragen bringt sie erst das Leben. Weil es ihr „völlig fremd“ war, hatte sie es strikt abgelehnt, Alban Bergs Violinkonzert einzuspielen, das dieser „dem Andenken eines Engels“ gewidmet hatte, der mit nur 18 Jahren verstorbenen Manon, Tochter von Alma Mahler und dem Architekten Walter Gropius. „Dann kam 1991 meine Tochter Arabella zur Welt. Plötzlich habe ich verstanden, was der Verlust eines Kindes bedeuten kann – und auch diese Musik.“

Anne-Sophie Mutters Auftritt ist fotogen, vom Dekolleté bis zum Absatz. Heute ist so etwas üblich; vor 25 Jahren, als sie vom rundlichen Teenager in Unbeholfenheiten zur Diva in Dior mutierte, war es das nicht. „Die Verwandlung hatte mit meiner Verheiratung zu tun. Ich war eine Ehefrau und wollte meinem Mann gefallen.“ Karajan hatte gemurmelt: „Mit Ihren Kleidern, da müssen Sie mal was machen.“ „Da bin ich in Paris zu Chanel, weil ich nichts anderes kannte, und habe im Ausverkauf eingekauft.“

Wer Anne-Sophie Mutter Kritik an Karajan entlocken will, ist so erfolgreich, als fragte er nach hormonellen Beschwerden, Ehekrächen oder Gemeinheiten ihres Vaters. „Gut, uneitel war Karajan nicht, aber kann so ein Mann denn uneitel sein? Der Wunsch, sich gut beleuchtet zu sehen, ist ja durchaus professionell. Das will ich auch.“ Dem Orchester sei die Frisur egal, das spiele nur, was der Dirigent transportiere. „Ich habe von ihm gelernt, dass auch kleine Gesten äußerst wirksam sein können. Beim Pianissimo sackte sein kleiner Finger nach links, das wirkte wie ein Donnerschlag. Manche Hupffrösche heute finde ich albern. Ihr Sport bringt der Ausdrucksfähigkeit des Orchesters gar nichts.“

Dass ihr der filmreife Auftritt mit filmreifen Gesten den Vorwurf der Glätte einbringt, quittiert die 48-Jährige lächelnd: „Was das Gesicht angeht, kann man mir den schon mal nicht mehr machen.“ Und wenn man ihr Perfektion vorwirft? „Dann liegt das an der mangelnden Fantasie des Urteilenden. Der ahnt nicht, wie weit mein Abstand von dort noch ist. Monet hat 40 Jahre mit den Nymphéas zugebracht, ich ringe schon fast 40 Jahre um Mozart. Angekommen bin ich noch nicht.“

Die heikelste Übung der Treue ist, nicht in Gewohnheit zu erstarren, das immer Wiederkehrende mit neuem Blick zu betrachten, die Begrenzung nicht als Unfreiheit, sondern als Chance zur Vertiefung zu erleben. So liegen auch für Anne-Sophie Mutter Glück und Gefahr in dieser Treue: Sie könne nicht komponieren, nicht improvisieren, nicht wirklich dirigieren, nicht Klavier spielen, eigentlich nichts als Geigen, sagt sie. „Perfektionsdrang ist einfach eine Sehnsucht nach der endgültigen Wahrheit.“ Mit solchen Sätzen, mit diesen schön verpackten Nettigkeiten, die sie abliefert wie Kurzvorträge, reizt sie selbst Verehrer, die nicht nur Bruch von ihr wollen, sondern Brüche. Besteht die einzige Schwäche der Anne-Sophie Mutter darin, keine zuzugeben, bis auf jene kleidsame Allerweltsschwäche der Ungeduld? Befragt nach dem, was Beat Wyss die „Trauer der Vollendung“ nannte, und seiner Einsicht, dass das Perfekte eigentlich tot und gar nicht erstrebenswert sei, legt sie den Kopf schräg. Die Augen werden dunkler. „Stimmt. Und der Tod ist eine Katastrophe, überall. Aber die Vollendung ist eben eine Fata Morgana, die mich durchhalten lässt auf dem Weg durch die Wüste.“

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