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(picture alliance) Der ungarische Journalist und Autor Péter Nádas

Schriftsteller Péter Nádas - „Der Tod war das schönste Erlebnis“

Der europäische Mensch habe mit seinem Begriff des barmherzigen Gottes eine unglaubliche Pest in die Welt gesetzt, sagt der ungarische Autor Péter Nádas im CICERO-Interview über Gottesfurcht, den Tod und seinen neuen Roman "Parallelgeschichten"

Herr Nádas, Sie haben an Ihrem Roman „Parallelgeschichten“, der dieser Tage in einer Länge von mehr als 1700 Seiten in deutscher Übersetzung erscheint, 18 Jahre lang gearbeitet. Können Sie den Schreibtisch beschreiben, an dem das Buch entstanden ist?
Wenn Péter Esterházy zu Besuch kommt und sich meinen Schreibtisch anschaut, dann lacht er immer. Und wenn ich seinen sehe, dann lache ich auch. Esterházys Schreibtisch, sein ganzes Schreibzimmer ist chaotisch, undurchschaubar, von Papieren und Zetteln und Zeitungen übersät, während meines unglaublich ordentlich ist. Ich habe einen großen Tisch und noch dazu verschiedene Flächen, wo meine Papiere, Notizen, Bilder und andere Materialien, die ich für die Arbeit benötige, ausgelegt werden. Außerdem habe ich meine Handbibliothek, also verschiedene Lexika, Bücher zur Geschichte und zur Philosophie.

Bei Erscheinen der ungarischen Originalausgabe im Jahr 2005 sagten Sie, Ihre „zwanghafte geometrische Ordnung“ sei der schwache Versuch, „des riesigen Durcheinanders Herr zu werden“. Können Sie das Chaos beschreiben, das in Ihr Leben einbrechen würde, wenn Sie Ihre selbst auferlegte Ordnung aufgäben?
Dieser Satz war nicht persönlich gemeint. Jeder von uns kennt dieses Chaos und versucht, seiner Herr zu werden. Man hat dazu verschiedene Methoden, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur stehen. Ich habe aufgrund verschiedener Erfahrungen meine eigene Methode entwickelt, mich in „Parallelgeschichten“ jedoch dazu entschlossen, das Chaos nicht zu bändigen, sondern zu zeigen. Es gibt einen Ordnungssinn, der sich das Leben zwischen den Gegensätzen von Geburt und Tod, Freude und Trauer vorstellt, aber das ist der Erfahrung nach nicht so. Vielmehr werde ich als Mensch in eine vollkommen fertige Welt hineingeboren, und wenn ich sterbe, besteht das Chaos fort. Wir bewegen uns nicht im Raum der geordneten Strecken, wie es der Roman des 19. und 20. Jahrhunderts vorgibt. Und das schulmeisterhafte Schrei­ben von Romanen, in denen die Figuren geboren werden, heiraten, ihre ehelichen Konflikte haben und sterben, als ob dies ein kausaler Zusammenhang wäre, ist todlangweilig. Ich wollte mich bei der Arbeit an „Parallelgeschichten“ jedoch nicht langweilen, sondern eher grundsätzlicheren, wichtigeren Lebenserfahrungen nachgehen, bevor ich sterbe. Und eine dieser grundsätzlicheren Erfahrungen ist, dass mit der Geburt nichts beginnt und mit dem Tod nichts endet. Das Leben ist ein Fluss, und in diesem Fluss sind wir orientierungslos. Wir lügen uns eine Orientierung und eine Organisation herbei, um uns nicht diesem Chaos zu übergeben, und das ist auch in Ordnung, das ist richtig. Aber als Schriftsteller bin ich nicht dazu da, dieser Konvention kleine süße Geschichten oder auch kleine tragische Geschichten zu liefern.

„Es ist mir das Gleiche, woher ich aus­gehe; denn dort werde ich auch ankommen“, so das Zitat des Parmenides, das Sie „Parallelgeschichten“ vorangestellt haben. Weshalb haben Sie sich dennoch entschieden, Ihren Roman im Berlin des Dezembers 1989 beginnen zu lassen – bevor er sich im dritten Kapitel dann zurück ins Budapest des Jahres 1961 bewegt und anschließend an die deutsch-niederländische Grenze, wo der Leser im Februar 1945 dem Vater des Studenten begegnet, der zu Beginn im Berliner Tiergarten die Leiche eines Unbekannten entdeckt?
Aus historischen Gründen. Einerseits natürlich, weil 1989 eines der wichtigsten historischen Daten ist, wenn man hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hat. Andererseits aber auch, weil dieses 20. Jahrhundert ohne deutsche Geschichte nicht vorstellbar ist. In Südostasien vielleicht schon, in Europa aber nicht – nicht einmal in Afrika. Die von Ihnen angedeutete Rückwärtsbewegung der Erzählung hat nur deshalb ein Ende, weil ich den Roman nicht bis an mein Lebensende hätte weiterschreiben können – zumindest erschien mir diese Vorstellung unsinnig und sinnlos. Ansatzweise bin ich bis zur Türkenzeit zurückgegangen, bis zur Römerzeit. Ich habe sehr viele Zeit­ebenen eingeschaltet, aber Hauptschauplatz von „Parallelgeschichten“ ist das 19. Jahrhundert bis zum Mauerfall, der mitteleuropäische Raum mit den zwei Weltkriegen.

Wie entsteht in einem Autor der Anspruch, das eigene Leben für ein solches Mammutwerk aufzugeben?
Das ist weder Aufgabe noch glaube ich, dass dies erlernbar ist. Ich bin durch meine frühen Erlebnisse geformt worden. Ich habe sehr früh meine Eltern verloren, ich habe sehr früh viele Menschen sterben sehen – viele Tote. Ich bin im Krieg geboren, meine erste Erinnerung ist ein Bombenangriff. Ich war ein ganz normales Kind, aber dieses normale Kind dachte von Beginn an nicht wie ein Kind. Die Infantilität war mir ausgetrieben, und die Infantilität meiner Kommilitonen war mir schon als 14-Jähriger unheimlich – ihre Ahnungslosigkeit: dass sie am Rande der Katastrophe, am Rande eines Vulkans ein blödsinniges Spiel spielen konnten. So ergeht es mir noch heute: Ich platze vor Freude, wenn ich einen James-Bond-Film sehe, aber wenn ich die Leichtigkeit, die Nonchalance, mit der 007 über Leichen geht, mit anderen Augen betrachte, bin ich erschreckt. Wenn ich James Bond als Kultobjekt einer Gesellschaft nehme oder sehe, wie jeder Fernsehsender jeden Abend jeden Fernsehzuschauer mit der Vorstellung überfüttert, dass wir in ständigen Verbrechen und einem ständigen Aufdecken des Verbrechens leben, dann bekomme ich eine Gänsehaut. Das ist ein Spiel mit den größten Gefahren – ein abgekartetes, ganz böses Spiel.

„Siehst du, so ein eingebildetes Tier ist der Mensch, er glaubt, selber über sein Leben verfügen zu können“, heißt es in „Ende eines Familienromans“, Ihres Anfang der siebziger Jahre entstandenen, bis zur Veröffentlichung 1977 von der ungarischen Zensur unterdrückten ersten Buches: „Als wäre das Leben eine Angelegenheit des Willens.“ Welche Kräfte halten den Einzelnen in unseren heutigen freiheitlichen europäischen Gesellschaften davon ab, über sein eigenes Leben zu verfügen?
Je kräftiger eine Gesellschaft ist und je durchsetzungsfähiger, desto konventioneller ist sie. Mir ist es fast unheimlich zu sehen, wie sich die Menschen mit ihren starken, ausgeprägten Eigenschaften unter Konventionen zurechtfinden können und sich noch dazu als frei erklären. Man kleidet sich gleich, trägt entweder schwarz, so wie Sie und ich heute, oder man trägt eine Jeans und einen Pullover und versucht, diese etwas merkwürdig, etwas anders zu tragen. Das ist Freiheit. In Wahrheit laufen die Menschen in Uniformen herum – alles ist vorgeschrieben, alles ist Konvention.

Sie glauben nicht an die Freiheit des Konsumenten?
Es gibt auch Nichtkonsumenten, aber selbst diese folgen einer Art vorgeschriebenem Muster und werden in die große Gesellschaft und den Konsum eingebaut. Es gibt natürlich noch andere, größere Kräfte, aber davon wird entweder nicht Notiz genommen, oder wenn Notiz genommen wird, gibt es Krieg oder andere große Ereignisse, die die ganze Gesellschaft zerstören.

Welche Kräfte meinen Sie?
Naturkräfte. Wenn der Mensch ein Tier wird und zu morden beginnt – diese Naturkräfte. Diese Kräfte existieren in allen Gesellschaften: Sie sind besser oder schlechter gebändigt, aber sie sind in allen Gesellschaften spürbar – selbst in einer Gesellschaft, die sich die Menschen als unabhängige, selbstständige Individuen vorstellt und diesen Individuen Rechte gibt, die diese dann missbrauchen. Sie können gar nicht anders, weil diese Individuen an das Tierische, das Animalische gebunden sind, das dann zusammen mit den Rechten entfesselt wird. Wir leben gerade in einer entfesselten Phase des Kapitalismus: Es gibt Versuche, ihn zu bändigen, aber das kann niemand – zumindest nicht, wenn man mit der einen Hand versucht, etwas zu bändigen und mit der anderen versucht, diesen Kräften freien Lauf zu lassen. Das geht nicht: entweder – oder. Alle Fundamentalismen der Welt haben unbändige, ins Chaos führende mörderische Kräfte in sich, die gegen einzelne oder andere Gruppierungen von Menschen gerichtet sind, und offensichtlich ist ein Fundamentalismus, der diese animalischen Triebe besser kanalisiert, kräftiger als eine Gesellschaft, die dies nicht macht und schutzlos ist.

„Nationalismus ist eine Ideologie der Banalität“, so der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš in seinem Buch „Anatomiestunde“: „Nationalismus ist Kitsch.“ Wie banal sind die gegenwärtigen nationalistischen Umtriebe des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán?
Nationalismus wird natürlich ausgenutzt oder aufgewärmt und zu diesem ganzen Theater gebraucht. Aber mit diesem Begriff kann man das nicht beschreiben, in Ungarn passiert etwas ganz anderes. In den EU-Statuten ist sehr viel vorgeschrieben, man kann nur mit Gesetzen Mitglied werden, die mit der demokratischen Auffassung der anderen EU-Staaten abgestimmt wurden. Mit dem Grundgesetz, das ab dem 1. Januar 2012 in Ungarn gültig ist, mit dem Pressegesetz, dem Wahlgesetz, dem Arbeitsgesetz, könnte Ungarn nicht mehr Mitglied der Union werden. Das ist ein Problem der Union, ein Problem des deutschen Botschafters in Budapest, der allem Anschein nach seiner Regierung über die Ereignisse nicht Bericht erstattet oder falsche Informationen weitergibt. Es ist ein Problem von Herrn Barroso und Frau Merkel, die keine Notiz nehmen, und vielleicht ein Problem der deutschen und westeuropäischen Steuerzahler, die eine Situation richtig finden, weil sie ihnen Vergünstigungen bringt. „Ich beherrsche die ungarische Wirtschaft, ich beherrsche die Elektrizität und das Fernmeldewesen. Ich will meine Gewinne aus dem Land schaffen, ich will meinen Urlaub haben. Für das, was hinter den Vorhängen passiert, habe ich kein Interesse.“ Das ist eine Ignoranz ohnegleichen. Es geht um wirtschaftliche Interessen, um ein sehr kompliziertes Geflecht von Problemen, das hinter Begriffen wie „Nationalismus“, „Faschismus“ und ich weiß nicht was nur verdeckt wird.

Ist es für den Einzelnen möglich, die ganzen Zusammenhänge, in denen er in seiner Zeit existiert, zu durchschauen – „vom Hochsitz meiner Jahre und Erfahrungen“, um eine Formulierung aus „Buch der Erinnerung“ zu verwenden?
Nein, das ist unmöglich. Auch habe ich keinen Hochsitz, so etwas gibt es bei mir nicht. Ich bin ein Student, ich studiere ständig. Ich habe Ängste, ich sehe nichts. Man denkt, weil ich bald 70 Jahre alt werde, wisse ich etwas mehr. Auch das ist eine Konvention.

Lassen Sie uns dennoch auf den 14. Oktober 1942 zurückblicken, an dem Sie in Budapest zur Welt kamen: „An jenem Mittwoch“, um den Titel eines Essays zu zitieren, an dem „die ganz normalen Männer“ des Hamburger Reserve-Polizei-Bataillons 101 im polnischen Mizocz das Ghetto liquidierten und mehr als 1200 Juden ermordeten. In welchem Zusammenhang sehen Sie diese „Parallelgeschichten“, wenn Sie den erschreckenden Satz schreiben, dass Ihre Geburt angesichts der „Summe der Morde dieses Tages“ in den Augen Gottes ihren Sinn verloren habe?
Es ist richtig, dass dieser Satz Sie erschreckt, denn es ist ein gotteslästerlicher Satz. Aber es tut mir leid, ich kann hier wirklich keinen Gott sehen – beziehungsweise ich sehe den Gott des Kulturkreises der Europäer, und das ist ein sehr böser Gott. Es ist eine Lüge, dass er barmherzig sei, denn dieser Gott erlaubt jedem zu tun, was er will, und das ist zu viel. Ich bin gar nicht ungläubig, aber vom Hochsitz meines Alters erweist sich dieser Gott als ein grausamer, gnadenloser Gott. Meine Eltern haben die Ideologien ihrer Zeit nicht hingenommen, sie haben nicht akzeptiert, dass sie ausgestoßen seien, keine Rechte hätten und wie die Tiere verfrachtet und hingerichtet werden müssten. Sie haben Widerstand geleistet, aber so klug waren sie auch wieder nicht: Sie haben ein Kind in die Welt gesetzt, und das war verantwortungslos. Das war ohne Sinn. Sie wussten, was sie taten, und eigentlich steckt darin etwas sehr Schönes, eine Art Zuversicht, eine Art Hoffnung, die in meinem Fall begründet war, weil ich am Leben geblieben bin. Aber es ist auch eine Verdammnis, in eine Welt hineingestoßen zu werden, in der diejenigen, die als Juden benannt werden, vernichtet werden. Ich bin nichtjüdisch erzogen worden, ich bin getauft worden, schon meine Urgroßeltern waren Freidenker: Aber was nützt diese Art von Freiheit in einer Welt, in der Rassismus ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung ist? In der man sich als Jude bekennen muss oder als Christ oder Muslim, in der man zu einer Herde gehören muss und nicht außerhalb der Herde herumlaufen darf. Ich bin verdammt dazu, zu keiner Herde zu gehören, frei herumzulaufen. Das ist ein schweres Leben, und es gibt keine Rückkehr. Wohin sollte ich zurückkehren?

In „Parallelgeschichten“ gehen Sie derart weit über die Konventionen dessen, was wir herkömmlich als Roman bezeichnen, hinaus, dass sich manche Leser von dem Buch überfordert oder verunsichert fühlen. Ist „Freiheit“ auch eine Kategorie des Schreibens?
Freiheit ist ein politischer Begriff, ein ideologischer Begriff, der sich aber auch theologisch betrachten lässt. Weil es unmöglich ist, nach zwei Weltkriegen die Bosheit dieses Gottes nicht zu kennen, ist mir dieser theologische Freiheitsbegriff jedoch suspekt. Der Mensch der europäischen Kultur hat mit seinem Gott – dem Begriff eines „barmherzigen Gottes“, gepaart mit einer auf eigenen Vorteil bedachten Intelligenz – eine unglaubliche Pest in die Welt gesetzt. Afrika ist zerstört worden und wird bis heute durch europäische Interessen zerstört, Südostasien ist zerstört. China wird jetzt irregeführt, was die ganze Welt in unglaublich große Gefahren bringen wird. Wenn erst einmal jeder Chinese sein eigenes Auto hat, geht die Welt kaputt. Wie wäre diese Entwicklung zu stoppen, ohne abermals Hunger und Armut herbeizurufen? Die Entwicklung ist nicht zu stoppen. Man kann dies alles aber auch als anthropologisches Problem betrachten, und das habe ich in „Parallelgeschichten“ versucht: Wenn ich die Grenzen des Tierischen oder Animalischen und des Humanen nicht kenne, bin ich verloren. Dann bin ich als Person verloren und trage dazu bei, dass auch die Kultur verloren geht. Ich muss beim Schrei­ben also abtasten, wo das Menschliche und das Tierische liegen, das Egoistische oder Individuelle und das Kollektive. Es kann sein, dass dabei ein Eindruck von Freiheit im Sinne einer bestimmten Romanauffassung entsteht. Es war mir wichtig zu sehen, wo die Grenzen eines Menschen liegen, die Grenzgebiete eines Körpers – wie sich die tieferen Schichten eines Menschen, einer menschlichen Gesellschaft treffen und berühren und wieder ablösen.

Sie haben den Mauerfall als Schlüsselerlebnis während der Arbeit an „Parallelgeschichten“ bezeichnet. Kommt dem Nahtoderlebnis des Herzinfarkts, den Sie im Frühjahr 1993 erlitten, eine ähnliche Bedeutung zu?
Vielleicht sogar eine noch grundlegendere. Das Jahr 1989 war eher eine sehr gute Überraschung – ein Sieg der Vernunft, auch wenn die Macht der Vernunft im Kapitalismus lediglich lokal und nur von Fall zu Fall die Oberhand gewinnt. Aber das Erlebnis meines klinischen Todes war noch grundsätzlicher, weil es mir zeigte, dass der Mensch auch vor seinem Tod über alle seine Bewusstseinsinhalte verfügt: dass man nie etwas vergisst. Vergessen ist Absicht, Erinnerung und Vergessen sind den jeweiligen Interessenlagen ausgeliefert, aber im Augenblick des Todes ist der ganze Umfang der Bewusstseinsinhalte abrufbar wie in einem Computer. Zu erleben, dass meinem Gehirn alle Inhalte zur Verfügung stehen und zwar gleichzeitig, das ist wirklich großartig. Der Tod war das schönste Erlebnis, das ich im Leben hatte.

Das Gespräch führte Thomas David

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