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(Graf Verlag (Cover-Ausschnitt)) Abbild der Wirklichkeit oder schöner Schein?

Roman "Der Augentäuscher" - Der schöne Schein

Experimentieren ist Trumpf: Mathias Gatza reist in seinem neuen Roman "Der Augentäuscher" in eine ferne Epoche und findet nichts als Gegenwart. Ein barock-postmodernes Erzählpuzzle zwischen Original und Abbild

Mathias Gatza streicht sich die graue Haartolle aus der Stirn. Er ruckelt an seiner wuchtigen Brille, wie sie hier im Berliner Prenzlauer Berg, um seine Wohnung herum, viele tragen. Er lehnt sich im Wohnzimmerstuhl zurück, blickt  aus dem Fenster und beginnt zu erzählen, entwirft ein Bild des Stadtteils als Künstlerkolonie: Ein Kollege lebe gerade um die Ecke, ein Literaturkritiker von der «Welt» ein paar Straßen weiter – überhaupt sei die ganze Gegend nur von Autoren, Journalisten und Designern bewohnt, eine literarisch bereits vielfach beschriebene Kunstwelt.

In der Literaturbranche hat Mathias Gatza lange selbst gearbeitet. Beim Wagenbach Verlag hat er Verlagskaufmann gelernt, «damals noch mit Bleisatz». Danach gründete er seinen eigenen, den Gatza-Verlag, arbeitete später als Lektor bei Eichborn und im Berlin Verlag, war ein Jahr bei Suhrkamp.

In jedem Halbsatz schwingt mit: Hier spricht ein Kenner des Betriebs. Vor zehn Jahren dann wechselte er die Seiten und wurde Autor. Sein Debütroman, «Der Schatten der Tiere», erschien 2008, da war Gatza 44 Jahre alt. Nun hat er sein zweites Buch veröffentlicht, «Der Augentäuscher», ein barock-postmodernes Erzählpuzzle. Zusammengehalten und ironisch gebrochen zugleich wird es von einer Herausgeber-Figur, einer verkrachten Wissenschaftler-Existenz unserer Tage.

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Auf abenteuerlichen Wegen gerät dieser Kunsthistoriker an mehrere historische Druckbögen des Barock-Schriftsetzers Leopold sowie an einen zeitgenössischen Briefroman – zusammen mit weiteren Indizien belegen die Dokumente eindeutig, dass die Fotografie nicht im 19., sondern bereits im 17. Jahrhundert erfunden wurde, vom virtuosen Stillleben-Maler Silvius Schwarz. Diese Forscherfiktion schützt der Roman vor, um alsdann genüsslich in die Konventionen des Historien- und Abenteuerromans einzutauchen:  Schwelgerische Briefe zwischen Silvius Schwarz und seiner Cousine Sophie von Schlosser, einer begabten Mathematikerin und Gambenspielerin, breiten eine wilde Romanze aus.

Verflochten ist sie mit einer grausamen Mordserie am Dresdner Hof, hier ermittelt der Araber Muhammad al Ghazali, kühn und mit distanziertem Blick auf die eigene Zeit, «da Hexenwahn und Gravitationstheorie nebeneinander bestehen».  Ein widersprüchliches, wildes, bilderreiches und Bild-besessenes Zeitalter ist das 17. Jahrhundert in Gatzas Roman.

Jeder Zeile merkt man an, wie sehr sich der Autor die Materie einverleibt hat. «Das Barock mochte ich schon immer», sagt er und schwärmt von der Epoche, ihrer Entdeckerfreude, ihren Errungenschaften, ihrer Unersättlichkeit. Ein «extensiv-experimentelles Zeitalter» nennt er es, und es scheint, als hätte dieses Zeitalter den Spieß umgedreht und seinerseits den Autor mit Haut und Haaren verschlungen: Bevor er anfing, den Roman zu schreiben, durchforstete Gatza zwei Jahre lang Bibliotheken und Barock-Archive, auf der Suche, so sagt er, nach nicht weniger als dem, was den Menschen jenseits aller Zeitumstände ausmacht.

Mit 1000 Seiten Exzerpten tauchte er aus seinen Forschungen wieder auf, hatte sogar in zeitgenössischen anatomischen Atlanten geblättert, um zu sehen, welche Vorstellungen die Leute im Barock von ihrem Körper hatten. «Die alte Schule Hollywoods» bedeutet es für den Schriftsteller, bis ins kleinste ­Detail die Hintergründe rekonstruieren zu können.

Fragen Gäste bei Lesungen, ob man im 17. Jahrhundert schon über Vampire geredet oder ob es in Dresden schon Straßenlaternen gegeben habe – zu allem findet er in seinen Notizen Belege, zumindest dafür, dass es so gewesen sein könnte. In seinem Kettenhemd aus historiografischer Fabulierkunst lässt Gatza keine Lücke zu. Um zu sehen, wie man solche Romangewänder schmiedet, wie historische Rekonstruktion funktioniert, hat er Historienromane gelesen, Süßkind natürlich, Stephensons «Quicksilver» und, viel mehr noch, Filme gesehen. Stanley Kubricks «Barry Lyndon», selbst ein ausuferndes Barock-Kunstwerk, war für ihn die reichste Inspiration, das größte Vorbild.

Er schaute sich Greenaways «Kontrakt des  Zeichners» ebenso an wie «From Hell» mit Johnny Depp. Und ist nun mit dem Resultat, seiner historischen Rekonstruktion, ganz zufrieden: «Ich glaube, dass ich auf allen Ebenen einen Weg gefunden habe, die Spannung zu halten, dass man den Atem dieser Zeit – mit aller Eitelkeit gesprochen – mehr zu spüren bekommt als in vielen Büchern, die sich als reine Historienromane verstehen.»

«Der Augentäuscher» versteht sich eher als Historienroman-Experiment. «Ich habe dieses Barock ja vollständig erfunden», sagt Gatza. Zusammen mit der Erfindung der Fotografie schreibt er dem Barock auch noch die erste Mondreise zu, irgendwann jagt ein Graf mit Unmengen Sprengstoff sich selbst und dazu sein ganzes Schloss in die Luft.

Auch über solche Knalleffekte hinaus ist das Barock im «Augentäuscher» vor allem eine Versuchsanordnung, um Erzählbögen zu spannen: Das, was den Autor in die Bibliotheken trieb, trägt er in seinen Roman hinein. Mathias Gatza geht es ums Größtmögliche, um die «lineare, kohärente, symbolische Welterzählung, die es seit 4000 Jahren gibt. – Wie wird diese Kulturtechnik eigentlich überleben?»

Im Gespräch erzählt er von seinem Erkenntnisinteresse, das so weit gefächert wie unersättlich scheint. Deswegen publizierte er damals im Gatza-Verlag nicht nur die Bücher junger Autoren, sondern auch Klassikerausgaben, Sachbücher, bis der Verlag am Ende bankrott ging.

So, wie er sich für den «Augentäuscher» in die Archive vertiefte, begann er für seinen ersten Roman Mathematik zu studieren: «Als Autor ist man natürlich erstmal umfassend halbgebildet.» Zum Ausgleich macht er seine Romanfiguren zu Koryphäen auf ihrem Gebiet und lässt sie rege Briefwechsel mit den großen Köpfen ihrer Epoche führen: «Newton war so liebenswürdig, mir seinen Kraftbegriff zu erklären», schreibt Silvius Schwarz’ Geliebte Sophie in einem Brief.

Muhammad, der weise Araber, ist mit Descartes persönlich bekannt, und das Stillleben-Genie Silvius lässt sich seine Kameralinsen von Spinoza persönlich schleifen, schaut Vermeer beim Malen über die Schulter und nennt Leibniz seinen «treuen Briefpartner».

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Überhaupt Leibniz. «Den finde ich so toll», sagt der Epochen-Erfinder und entwirft am Wohnzimmertisch ein ganz eigenes Porträt des größten Universalgelehrten des Barock: Ein Versager sei Leibniz gewesen, der nichts beendet habe – «alles Stückwerk bei dem!» Neben seinen grandiosen Erfindungen in Mathematik, Musik, Physik – «Leibniz war wahnsinnig wichtig für den Kraftbegriff» – habe er sich doch eigentlich als junger Mann zunächst auf den Windmühlenbau konzentriert und viel Geld verbrannt für ein Modell, von dem absehbar war, dass es nie funktionieren würde.

«Das wären heute Millionenbeträge!»  Eine Ode Gatzas an das glorreiche Scheitern ist das, im Bewusstsein dessen, dass auch er selbst in einem Experimentalzeitalter lebt. Wenn er erzählt, geht es um «irre Dinge», ist vieles «wahnsinnig wichtig» und «unglaublich gut», als würde er sich selbst ständig an den äußersten Grenzen der Erkenntnis bewegen – und an den widersprüchlichsten: Viele Sätze bricht er ab, setzt an ganz anderer Stelle neu an.

Das Experimentieren ist sein Trumpf.  42 Jahre alt war Mathias Gatza, als er anfing zu schreiben. Sein erster Roman, «Im Schatten der Tiere», ist sogar noch ausgeprägter als «Der Augentäuscher» ein Experimentalroman. Bei seinem Debüt zog es den Autor in ferne Lande, statt in die Vergangenheit, die Chronologie wird ebenso mutwillig über den Haufen geworfen wie die eindeutige Abgrenzung der Romanfiguren.

Eine Rezensentin warf dem Roman vor, er sei so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er sich nicht für den Leser interessiere. Gatza zuckt mit den Schultern. Das war eben eine Suchbewegung, so sei das nun einmal bei ersten Büchern.  Dass er das Schreiben natürlich immer noch übe, keine feste «Denkgrammatik» habe, könne man aber auch so sehen:

«Für mich ist der Vorteil, dass ich auf einer viel größeren Klaviatur spielen kann.» Ob sein Versuch, verschiedene Register zu ziehen, nun Unentschiedenheit oder eine Form von Professionalität sei, noch nicht einmal das könne entschieden werden. Dieses Denken, Sprechen und Schreiben in mehreren Entwürfen spiegelt sich auch in Gatzas Wohnraum. Seit drei Jahren wohnt er hier im Prenzlauer Berg.

Aber seine Welt sei das nicht wirklich, sagt er, er könnte sich bald wieder in weniger beschriebene Gegenden orientieren. Fast scheint es, als wäre die Wohnung deswegen so spartanisch eingerichtet. Im Wohnzimmer ein Sofa, ein langer Tisch, daran mehrere Stühle, keine Bilder an den Wänden.

Zuerst habe er hier sogar möbliert gewohnt, eine temporäre Unterkunft inmitten von Beständigkeit: Die anderen Wohnungen im Haus sind Eigentumswohnungen, Anlageobjekte von Spaniern, Holländern – mitunter sei er tagelang der Einzige im Haus. Wie Leopold, der barocke Schriftsetzer aus seinem Roman, habe er sich gefühlt, als er am «Augentäuscher» schrieb: Nacht für Nacht Buchstaben zu Papier bringend, in aller Einsamkeit in seine Smith Corona-Schreibmaschine tippend und auf diese Weise ein physisches, beständiges Original herstellend.

So spiegelt sich der Themenkreis des «Augentäuscher» zwischen Original und Abbild, Beständigkeit und Vergänglichkeit in der Entstehung des Romans selbst. Leopold, der seinen Bericht in Bleilettern setzt, war auf diese Weise ein Verbündeter, ebenso aber auch eine Maske, hinter der Mathias Gatza sich mit seinem eigenen Schreiben verstecken konnte.

Er scheint sich in seinem Roman geradezu zu verschanzen, denn es gibt ja außerdem noch die historische Fiktion – und gleich noch eine weitere Maske des Autors, nämlich diejenige des Herausgebers. In seinem Forscherdrang trägt dieser sozial Gescheiterte die historischen Dokumente zusammen und veröffentlicht sie schließlich mangels Publikations-Alternativen im Netz.

Gatza erfand ihn, um seine einjährige Schreibblockade zu bewältigen – ein alter Trick von Joseph Conrad, wie er verrät –, und zieht mit dieser Erfindung nun gleichzeitig einen Bogen von den Frühzeiten der Buchdruckerkunst bis zum heutigen Stand der Technik. Ganz unmaskiert weist der Verfasser damit auf die Umbrüche im Buchwesen hin.

Dies nämlich ist ein drittes Thema, das ihn umtreibt: wie sich die Verlagsbranche, die doch nach wie vor die seine ist, entwickeln wird. «Da sieht man mal, dass man sich in dem alten Medium mit den Problemen des neuen beschäftigen kann.» Geradezu diebisch ist Gatzas Freude darüber, dass auch er nun den digitalen Spieß herumgedreht hat und dem Leser anstatt eines Hypertext-Experiments im Netz die Print-Fiktion eines Blogs serviert, den es im Netz nie gegeben hat.

Aber einen «Beharrungskampf», den möchte er doch nicht führen. «Ich glaube, für uns Autoren wird es schon schwierig in den nächsten Jahren», neue Ideen brauche man da, zum Beispiel könnte man doch Bleisatz in exklusiver Kleinstauflage machen, «und dann richtig teuer».

Im Netz will er auch etwas machen, «was Auffälliges» natürlich. Mehr jedoch will er darüber nicht verraten. Wohl aber über seine nächsten Schreibprojekte. Gatza arbeitet an drei Romanentwürfen gleichzeitig und kann sich nicht entscheiden, welchen er weiter verfolgen soll: die Fortsetzung des «Augentäuschers» vielleicht?

Denn wenn man schon Mantel-und-Degen-Bücher schreibe, brauche man doch, wie bei den «Drei Musketieren», eine Fortsetzung, die zwanzig Jahre später spielt. Dann gibt es aber auch noch ein Projekt, in dem sich alles ums Autofahren dreht, und darüber hinaus einen Science Fiction-Roman. Die Schreibblockade scheint also überwunden, dank Conrads Erzähler-Trick – und dank der Schreibmaschine des Autors. «Die ist super, die Maschine», sagt er «weil sie so schön laut ist. Die wird warm, dann riecht sie nach einer alten Autowerkstatt. Da merkt man richtig, dass man arbeitet.»

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