Das Journal - Der Präsident mit der Trillerpfeife

Schreckgespenst, Kasper, Visionär: Christoph Twickel schreibt eine faire Biografie über Hugo Chávez

Gäbe es keine Fotos, die Hugo Rafael Chávez Frías Arm in Arm mit Fidel Castro zeigen, und wüssten wir nicht, dass sie Zeit­ge­nossen sind – man könnte an Re­in­kar­­nation glauben. Beide Staatschefs sind Charismatiker, beide verfolgen revolutionäre Ab­sichten, beide verorten ihren politischen Erzfeind in den Vereinigten Staaten, beide verfügen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und beide spalten die öffentliche Meinung so sehr, dass eine neutrale Betrachtung unmöglich scheint.

Im Westen überwiegt selbst bei liberalen Medien das Bild von Hugo Chávez als «Schreckgespenst an der Ölquelle», wie die «Süddeutsche Zeitung» einmal schrieb. Damit ist ein wesentlicher Grund benannt, wes­halb die Auseinandersetzung mit dem Vene­zolaner dringlicher ist als die mit Fidel Castro in Kuba, Evo Morales in Bolivien oder den Zapatisten in Mexiko: Chávez hat Öl – also Geld und damit auch Macht. Diese in den Händen eines Mestizen aus einfachsten Verhältnissen zu wissen, der in nationalfarbenen Blousons von bedenklichem Schnitt auftritt, in seiner Fernsehshow «Aló Presidente» Ölmanager per Trillerpfeife entlässt, seine Petro-Dollars in Alphabetisierungsprogramme investiert und sich über das Protokoll hinwegsetzt, indem er Monarchinnen Wangenküsse abringt – all dies macht vielen Menschen Angst, vor allem solchen, die ebenfalls Geld und Macht haben. Dies erklärt aber auch seine Popularität bei jenen Vene­zolanern der Unterschicht, um deren Recht auf Bildung und Gesundheit sich vor Chávez kein Machthaber gekümmert hat.


Zensur und Kampagnen-Journalismus

Schwätzer oder Visionär? Spinner oder Didaktiker? Anmaßung oder Angeberei? In seiner Biografie «Hugo Chávez» entzieht sich Christoph Twickel dem Zwang zum eindeutigen Pro- oder Contra-Bekenntnis. Schon das ist ein Verdienst. Wie er die jüngste vene­zolanische Geschichte schildert – kenntnisreich und detailliert, ohne einen undurchdringlichen Strudel aus Namen, Begriffen und Daten zu erzeugen –, erlaubt es dem Leser, sich ein eigenes, differenziertes Bild über Chávez’ Politik zu machen. Twickel berichtet vom «Caracazo», dem 1989 blutig niedergeschlagenen Aufstand in Caracas, von der gescheiterten Erhebung der Militärs um Chávez im Februar 1992, von der 1998 gewonnenen Präsidentschaftswahl, von Putsch und Gegenputsch im April 2002 sowie von jenem Referendum, bei dem die Opposition mit dem Versuch scheiterte, den Präsidenten aus dem Amt zu wählen. Obwohl deutlich wird, dass Twickel Chávez gelegentlich gegen seine Kritiker verteidigen will, kann man ihm kaum vorwerfen, tendenziös zu berichten. Er argumentiert mit Fakten – auch solchen, die in der Tagesberichterstattung selten Erwähnung finden.

Beispiel Pressefreiheit. Natürlich un­terhält der venezolanische Präsident zweifel­hafte Beziehungen zu den Medien des Landes – er erlaubt sich, seine Reden in besonde­ren Fällen nicht nur im staatlichen, sondern auch in sämtlichen privaten Fernsehsendern zu schalten. Über die Meinungsvielfalt, theo­retisch ein unverzichtbares demokratisches Gut, setzt sich Chávez in der Praxis mitunter hinweg. Andererseits gibt es in Venezuela – wie auch in vielen anderen Staaten Lateinamerikas – kein Gesetz, das die hohe Konzentration von Zeitungen und TV-Sendern in der Hand weniger privater Eigentümer untersagte. Diese verfolgen ihre eigenen politischen Interessen und betreiben oft kaum verhohlenen Kampagnen-Journalismus, nicht zuletzt gegen den Präsidenten. Das macht Kritik an Chávez’ Medienpolitik nicht unzulässig. Aber man muss sehen, dass eben jene Medien-Oligarchen, die am lautes­ten über «Zensur» klagen, sich am allerwenigsten um Informationsfreiheit bemühen.

Der unbestimmte Artikel im Untertitel, «Eine Biographie», deutet auf Bescheidenheit – nicht zu Unrecht. Denn Twickels Darstellung fußt zwar auf Interviews mit Militärs, Politikern, Sozialwissenschaftlern, Historikern und Stadtteilaktivisten sowie umfassendem Quellenstudium; aber mit Chávez selbst hat er nie gesprochen. Dieses Manko, das nirgends erläutert wird, ist umso unverständlicher, als der amtierende Präsident dem Journalisten Twickel ein Interview eigentlich hätte gewähren müssen.

Auch haben sich hie und da Detailfehler eingeschlichen. So war es nicht der der­zeitige Präsident Álvaro Uribe, der im Nachbarland Kolumbien die Friedensverhandlungen mit der Guerilla abgebrochen hat, sondern dessen Amtsvorgänger Andrés Pastrana. Insgesamt aber ist diese Chávez-Biografie ein aufschlussreiches, gründliches und gut lesbares Buch. Es erklärt, warum einige ihn als «Kasper der lateinamerikanischen Präsidentenrunde» sehen. Und warum andererseits viele Chávez-Anhänger bekennen, sie seien erst in seiner Gefolgschaft zu «politischen Subjekten» geworden.


Christoph Twickel
Hugo Chávez. Eine Biographie
Edition Nautilus, Hamburg 2006. 337 S., 19,90 €

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