Portrait Karl Schlögel - «Der Osten ist eine Art Pompeji»

Und ewig locken Russland, Polen, Litauen: Der forschende Flaneur Karl Schlögel feiert den Transit über die Grenze und beschwört die Rückkehr des Bürgertums. Nun wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet

Berlin-Kreuzberg, irgendwann in den wilden achtziger Jahren. In einem Haus in der Köpenicker Straße, wo bis heute die letzten Reste der autonomen Hausbesetzerszene überleben, schreitet ein junger Mann zur Tat. Es ist zwei Uhr nachts, der Bildhauer veranstaltet ein Happening namens Aphasia: Sprachlosigkeit. Mit einem Flammenwerfer geht er auf ein Schwein los, das sich im Feuer in ein Kunstwerk verwandelt. Am nächsten Morgen begutachten die Bewohner der darüberliegenden Wohnung ihr Hab und Gut. Sie stellen fest, dass sich über alles ein feiner, schwarzer Fettstaub gelegt hat. In dieser Wohnung lebt mit seiner Familie Karl Schlögel, der Historiker. Er hat sich bereits daran gewöhnt, um vier Uhr in der Früh bei seinen Nachbarn zu klingeln, um geradezu auf Knien um Nachtruhe zu betteln. Beinahe alles, so erinnert sich Schlögel heute, hat er damals in diesem Haus erlebt: Schießereien, Brände; zweimal muss­­ten Frau und Tochter evakuiert werden. Er erinnert sich auch an den Aufsatz eines jüdischen Intellektuellen aus dem Jahr 1909. Die russische Intelligenz, hieß es darin, sollte dem repressiven Staat dafür dankbar sein, dass er die Juden vor einem Pogrom schützte.

Durch diesen Text fand der 1948 geborene Schlögel zu einem Ton, in dem er endlich auch über seine eigene nächste Umgebung schreiben konnte. In einem langen Artikel, der 1989 in der «Frankfurter Allgemeinen» erschien, zeichnet er das Bild des Kreuzberger Autonomen in den scharfen Konturen einer anthropologischen Typologie: «Street fighting man – die moderne Fassung des archaischen Landsknechts – hat seinen Auftritt. Aus einem Platz, auf dem soeben noch ein harmloses Fest gefeiert wurde, wird ein Kriegsschauplatz und aus der Straße das Gelände für die Straßenschlacht. Bürger werden zu Zuschauern, die nichts zu sagen haben, und Passanten werden Statisten in einem Stück, bei dem andere die Regie führen. Der Straßenkämpfer braucht keinen Plan, denn alles läuft so, wie er es haben will: die Umstehenden, die ihm soeben noch Deckung geboten haben, weichen zurück. Er braucht keine Kommandos, sondern er agiert im stillen Einverständnis mit anderen. Sein Code wird nicht verstanden. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann und wo es losgeht.»

Die Autonomen-Szene reagierte heftig auf Sätze wie diese. Dass Schlögel plötzlich vor die Kreuzberger Haustür ge­pinkelt und die Post aus dem Briefkasten geklaut wurde, dass man ihm hinterherrief, er solle sich endlich ins bürgerliche Berlin-Dahlem verziehen, wo die Freie Universität ihren Sitz hat – all das verdeutlicht die Schlagkraft seiner Provokation. Ausgerechnet Schlögel, der noch im Jahrzehnt zuvor die neu gegründete KPD mit aufgebaut hatte, solidarisierte sich hier ganz offenbar mit jenen Bürgern, in deren Namen regelmäßig die Polizei in Stellung gebracht wurde. Schlögel, der ehemalige Maoist, sprach den Autonomen, die sich doch die Revolution auf die Fahnen geschrieben hatten, den Sinn ihrer Aktionen ab.

Trifft Karl Schlögel, der in diesen Tagen mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird, der Vorwurf des Renegatentums? Hat er die linken Ideale zugunsten bürgerlicher Behaglichkeit verraten? Oder musste er, entnervt vom rasenden Stillstand einer selbstbezüglichen, längst von der Wirklichkeit und der Gesellschaft entkoppelten marxistischen Rhetorik und der zeitraubenden Gruppendynamik der mao­­istischen Kader, einen anderen Weg einschlagen; einen Weg, auf dem er zu jenem Wissenschaftler und Schriftsteller werden konnte, der heute weit über die akademische Welt hinaus gelesen und bewundert wird – aktuell für sein fulminantes Buch «Terror und Traum. Moskau 1937» (siehe „Literaturen” 1–2/2009)?


Ein Raum mit unbekannten Dimensionen

Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, im Januar. Wir treffen uns in friedlicheren Zeiten – im Regionalzug von Berlin nach Frankfurt/Oder, wo der Historiker an der Europa-Universität Viadrina einen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte innehat. «Wolke 7» – so hat die Marketingabteilung der Deutschen Bahn das Erste-Klasse-Abteil dieses Zuges getauft. Es ist der Montagmorgen nach den Weihnachtsferien, eiskalt und so strahlend schön, dass man immerzu in die Pulverschneelandschaft hineinblinzeln möchte, die draußen vorbeizieht. Für Schlögel, den Professor, heißt es jetzt: sich warmlaufen, umschalten von der heimischen Klausur auf den Unibetrieb. Seit es die Viadrina gibt, rauschen die meisten Studenten, Dozenten und Professoren während des Semesters zweimal täglich durch Orte, in denen sie niemals aussteigen würden: Fangschleuse, Hangelsberg oder Pillgram. Morgens hin, um achtzehn Uhr zurück. Aus dem Geist dieser Pendelei kann unmöglich eine Alma Mater entstehen, stellt Schlögel fest. Dabei klagt er doch sonst wie kein anderer über die «Verhocktheit» von Akademikern und beschwört das Unterwegssein auf dem Kontinent, den «Planeten der Nomaden», die «Kriechströme».

Schlögel war seit 1990 Professor in Konstanz, kam 1994 nach Frankfurt/Oder und hat die Gründungsphase der Viadrina maßgeblich geprägt – auch wenn er seine kleine Mietwohnung in der 60.000-Einwohner-Stadt inzwischen aufgegeben hat. Die alltägliche Normalität, mit der sich Berufspendler heute zwischen Berlin und Frankfurt bewegen, macht jenen historischen Bruch beinahe vergessen, der Schlögels Arbeit und Denken seitdem vorangetrieben hat wie kein anderes Ereignis: 1989 – also just in jenem Jahr, in dem er die Kreuzberger Autonomen aufs Korn genommen hatte – öffnete sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Forschungsgelände, dem der Historiker bis heute treu bleiben sollte.

«Das ganze östliche Europa ist eine Art Pompeji», sagt Schlögel, «die Dialektik der Gegenwart arbeitet für die gedankliche Wiederkehr des Ostens – des deutschen Ostens, des polnischen Ostens, des Ostens schlechthin.» Dass er diese Euphorie für einen zwischenzeitlich ver­lorenen Raum mit jenen teilt, die sogleich bedenkliche Besitzansprüche auf die ehemalige Heimat anmeldeten, weiß er. Und doch sei der verlorene «deutsche Osten» zu wichtig, um ihn den Vertriebenen zu überlassen. Das Interesse des Historikers verdankt sich hingegen einer intellektuellen Neugier. Und ist damit dem Staunen Heiner Müllers verwandt, der 1990 – von der anderen Seite der Mauer aus – die Faszination des zusammenwachsenden Europa beschrieb: «Eine Zeitmauer ist gefallen, und wir alle stehen sozusagen über Nacht in einem Raum mit unbekannten Dimensionen.» Dieser Satz ist ganz in Schlögels Sinn. Mit der Losung «Im Raume lesen wir die Zeit» (2003) machte er sich für einen spatial turn in der Geschichtsschreibung stark: Geschichte, davon ist er überzeugt, wird erst am Ort lebendig, und der Historiker kann sich daher nicht allein aufs Archiv verlassen; er muss zum Reisenden und Wanderer werden, zu einem forschenden Flaneur.


Wenn sich Sowjets in den USA zu Hause fühlen

Als Karl Schlögel 1984 sein erstes Moskau-Buch vorlegte – «Moskau lesen» – ließ er es deshalb beim Lesen nicht bewenden: Mit Walter Benjamins «Moskauer Tagebuch» in der Tasche machte er sich vor Ort an eine Spurensiche­rung und rekonstruierte, auch anhand eines Stadtplans aus den zwanziger Jahren, die historischen Schichten dieser «Steinlandschaft», die so nur im Geiste eines totalitären Monumental-Strebens zur Zeit des großen Umbaus entstehen konnte. Wenn Schlögels neues Moskau-Buch, «Terror und Traum», vor allem das Produkt einer exzessiven Archivarbeit ist (der Autor hat Memoiren, Tagebücher, Gerichtsakten, Verhörprotokolle, das Moskauer Adressbuch, Stadtführer, insbesondere aber Tageszeitungen aus den dreißiger Jahren gewälzt), ist es doch ohne diese Vorarbeit, ohne das Erwandern seines Forschungsterrains, kaum denkbar. Bevor Schlögel sein in cinemascope-artiger Opulenz gehaltenes Bild der stalinistischen Metropole zur Zeit der Schauprozesse zeichnen konnte, hat er die Stadt Straße für Straße abgeschritten.

«Terror und Traum» ist ein Geschichtsbuch mit den Qualitäten eines Romans. Es ist die Summe der Stadterfahrungen ganz unterschiedlicher Protagonisten des Jahres 1937. Wir sehen den Schauplatz Moskau, sein Relief und seine Topografie aus der Vogelperspektive, wie Margarita am Ende von Michail Bulgakows Roman. Wir verfolgen die monumentale Umgestaltung der Stadt – Abriss, Sprengungen und Neubau – und vollziehen den Schock nach, den deren Komplexität zugezogenen Dörflern verursacht haben muss. Und gnadenlos schlägt der stalinisti­sche Terror seinen Takt: Moskau 1937, das ist ein «Baccha­nal der Selbstzerstörung», ein «Exzess im Exzess», die Stim­mung ist «bis zum Zerreißen angespannt». Die «Hass­ener­gie», schreibt Schlögel, «triefte aus den Poren einer im Alltags­stress fast um ihren Verstand und ihre Selbstbeherrschung gebrachten Bevölkerung». Akribisch rekonstruiert der Autor Kino-, Theater- und Radioprogramme und zeigt, wie jedes bedeutende Ereignis jener Monate einen Reflex in den Massenmedien hervorruft. Dabei kommen überraschende Ergebnisse zutage: etwa eine leidenschaft­liche Debatte über Jazz und die Geschichte der Amerika­begeisterung unter sowjetischen Architekten und Ingenieuren, die sich, ihrem Antikapitalismus zum Trotz, gerade in Amerika wie zu Hause fühlten. In diesem Einwanderungsland trafen sie überall auf Amerikaner, deren Wurzeln auf dem Terrain des alten Russischen Reichs lagen. So erklären sich nicht nur die formalen Ähnlichkeiten zwischen sowjetischer und amerikanischer Wolkenkratzer-Architektur; in der «Prawda» erschien unzensiert die Reportage «Einstöckiges Amerika» – eine unumwundene Huldigung ländlichen Bauens in den USA und eine Hommage an den American Way of Life.

All dies findet statt in einem gespenstischen Klima allseitiger Denunziation, in einem Moment, da der größte Teil der Menschen durch die Bewältigung des Alltags bis zum Umfallen müde und erschöpft war. Durch die prismatische Bündelung von Ort und Zeit – Michail Bachtin prägte dafür just 1937 den Ausdruck «Chronotopos» – zeigt Schlögel die überraschende Gleichzeitigkeit vermeintlicher Widersprüche. Damit gelingt es dem Leser wenigstens für einen Moment, in die Welt einzudringen, «von deren unmittelbarer Wahrnehmung wir naturgemäß ausgeschlossen sind».

Keiner schreibt über Städte so wie Karl Schlögel, und es ist nicht leicht, dieses Schreiben auf den Punkt zu bringen. Denn ebenso unübersehbar wie die stilistische Brillanz, die literarische Qualität des Autors ist sein geradezu demonstratives Vermeiden griffiger Thesen und eines theoretischen Überbaus. «Dieses Buch», so heißt es in «Terror und Traum», «kann nach den verschiedenen Stationen, die es durchwandert hat, keinen Schluss bieten, es hat keine These, die alles zusammenhält, sondern hält gerade dadurch das Rätsel­hafte fest, das Moskau 1937 bis heute von vielen anderen historischen Desastern unterscheidet.» Schlögel – das wird im Gespräch immer deutlicher – ist in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind. Es gab in seiner Biografie eben auch einmal einen auffälligen Überschuss an ideologischen Projektionen, darunter die verbissensten. Wenn er nun aus dem «roten Jahrzehnt» (Gerd Koenen) der Siebziger erzählt – von jener Zeit der KPD/AO (die sich später KPD nannte), von der Selbstkritik, den Maoisten und den Reisen nach China, der Überwachung durch die Polizei und den späteren Berufsverboten –, dann vermittelt er nicht das Gefühl, er bereue etwas. Im Gegenteil.


Die Geiselnahme eines Klassikers

Ohne diese Lehrjahre, ohne diese Innenansichten des Parteikommunismus, sagt Schlögel, hätte er zum Beispiel «Terror und Traum» nicht schreiben können. Und auch nicht einen Essay wie den über den marxistischen Theoretiker Georg Lukács, der fast dreißig Jahre lang in einer Wohnung mit Balkon am Donau-Ufer lebte, von wo aus er ganz Budapest überblicken konnte. Doch diese Welt kommt im Werk des Ungarn nicht vor. Lukács, klagt Schlö­gel, verhält sich in seinen Texten nicht zu «Realia als Realia». «Der Blick vom Balkon, der Blick auf die Stadt hat ihm anscheinend nichts bedeutet, es sei denn als Pause, Entspannung und Ablenkung, nach der man zurückkehrt zum Wesentlichen: zu den Büchern, zur Literatur, zur Arbeit am Begriff.»

Auch wenn der frühere Agitator den revolutionären Kampf längst hinter sich gelassen hat, war ihm die K-Gruppen-Zeit doch eine Schule des Sprechens – ein rhetorischer Grundkurs, der eben nicht vom Katheder herab vermittelt wurde, sondern von den Protagonisten der Bewegung selbst. Die großen Theoretiker und Dema­gogen hätten damals den gesamten Denk- und Sprachraum transformiert; und genau darin habe die große schulbildende Leistung der Berliner Freien Universität in den frühen siebziger Jahren bestanden – auch wenn sich für ein ordentliches geisteswissenschaftliches Studium die Universitäten Bonn oder Heidelberg vielleicht besser geeignet hätten.
 

Lebenskünstler, die die Starre vergessen machen

Moskau, das ist unverkennbar ein Lebensthema Karl Schlögels. Moskau, das ist der Kulminations- und Fluchtpunkt des Ostens, ein magnetischer Pol, der diesen Autor stärker anzog als andere Generationsgenossen, die stattdessen nach Paris oder New York schauten. Und während Schlögel unermüdlich den Magnetismus des Ostens beschwört, verschiebt sich überhaupt sein Bild von Mitteleuropa. Ihn faszinieren verlorene Landstriche und verwunschene Städte, Truck-Terminals und die vibrierenden Basare, auf denen alle nur erdenklichen Güter umgeschlagen werden; die neuen Routen und Verkehrswege, auf denen die «Ameisenhändler» und Improvisationskünstler Osteuropas die Agonie des Kalten Krieges vergessen machen. «Wir müssen», so insistiert Schlögel, während sich der Zug nach einer guten Stunde Fahrt allmählich der Oderstadt Frankfurt nähert, «den Ortsvorteil nutzen, um etwas begreifen zu können.» Die Europa-Universität in dieser deutsch-polnischen Stadt sei ein idealer Standpunkt, um die gesamte Region zu begreifen: die Messe in Posen, Schloss Neuhardenberg, das Kloster Neuzelle und Grünberg (Zielona Góra), wo der Künstler Henry van de Velde um die Jahrhundertwende prächtige Innenarchitekturen hinterließ, die völlig in Vergessenheit geraten sind. Schlögel will die Reste einer versunkenen bürgerlichen Kultur auftreiben. Warum, fragt er sich daher, richtet die Universität keine Stelle zur Sicherung der märkischen Herrenhauskultur ein? Hier könnten Nachlässe gesammelt werden, während die Studenten in «Exkursionswissenschaften» geschult und Masterclasses in den Disziplinen «Exploration» und «Erschließen» belegen würden.

Moskauer Büchersendung an den Bauernsohn

Wenn Karl Schlögel von diesen Dingen erzählt und sein Gegenüber dabei durch die runde Hornbrille fixiert, trägt ihn die Begeisterung fort. Eine ansteckende Begeisterung – und doch bleiben Zweifel: Ist es tatsächlich möglich, eine 22-jährige Studentin, deren hauptsächliche Sorge der Pflege ihres Myspace- oder Facebook-Profils gilt, für die Bedeutung der märkischen Herrenhauskultur zu interessieren? Auf welche Reisen lassen sich die Kinder der Datenautobahn überhaupt entführen? «Bei vielen», meint Schlögel, sei «die unmittelbare Beziehung zu den Dingen abgetötet». Dennoch: er will ihre Sinne schärfen und ihr Zutrauen in eine eigenständige Weltwahrnehmung. Als wir den Zug verlassen, sagt er einen Satz, den man von Karl Schlögel öfter hört: «Einer muss es ja tun.» In einer halben Stunde wird er eine Vorlesung über das osteuropäische Judentum halten.

Drei Tage später treffen wir uns wieder, diesmal bei dem Historiker zu Hause. Nicht in Dahlem, wohin ihn die Kreuzberger Autonomen damals so gern überführt hätten, sondern in Wilmersdorf. Es ist dieselbe Straße (Schlö­gels Recherche-Begeisterung wirkt ansteckend), in der Walter Benjamin gewohnt hatte, bevor er Berlin 1933 verlassen musste. Wir sitzen in würfelförmigen Corbusier-Sesseln in einem Arbeitsraum, der nach hinten in ein ge­räumiges Berliner Zimmer übergeht. Braune Samtvorhänge, Balkon, die hellen Bücherregale reichen bis zur Decke. Es gibt Kaffee. Warum eigentlich zieht es ihn in den Osten? «Das fing schon in der Kindheit an», sagt Schlögel, «da, wo die Gegenstände zum ersten Mal an einen heran­reichen.» Aufgewachsen auf einem Bauernhof im schwäbisch-bayerischen Hawangen, erinnert er sich gut an jene Familien, die aus dem mährischen Znaim, aus Karlsbad oder Breslau kamen und nach dem Krieg dort einquartiert waren. Sie sprachen ein anderes Deutsch: das Deutsch urbaner Kulturmenschen. Die Frauen – darüber staunte Karl, der Bauernsohn, nicht schlecht – hatten nicht nur rot lackierte Fingernägel, sie rauchten auch. Dann die Klosterschule Ottobeuren, das humanistische Gymnasium Scheyern: ein Mathematik­lehrer, der aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war; der polnische Russisch- und Sportlehrer, das byzantinische Seminar. Die Klasse organisiert eine Exkursion nach Russland. Mit 15 Jahren schreibt ein bereits entflammter Karl Schlögel einen Brief an Nikita Chruschtschow und bekommt im Gegenzug ein Buchpaket geschickt, die in der Sowjetunion sogenannte «gemisch­te Sendung», zwei Bücher in braunem Packpapier: ein Band über den «Tag der Poesie» am Majakowski-Denkmal; der zweite: ein dicker Roman des stalinis­tischen Autors Kotschetow. Auch wenn dieses Buch bis heute ungelesen im Regal steht – die Faszination für Russland und das Interesse am Stalinismus hatten schon früh ihre Wurzeln geschlagen.

Während wir die Kaffeekanne bald geleert haben und hinter den Fenstern der großzügigen Altbauwohnung langsam die Dämmerung anbricht, gibt sich Karl Schlögel den Erinnerungen hin. Es gab da diesen Studenten, ein Mitglied der «ROTZEG» (Rote Zelle Germanistik): Während der Besetzung des Germanistischen Seminars in der Boltzmannstraße – die Polizei war aufgezogen und hatte das Gebäude umstellt – saß er leger im Fenster und hielt die Cotta’sche Goethe-Ausgabe in die Höhe. Und er hielt eine glänzende demagogische Rede, die damit schloss, dass dieser Goethe ins Feuer wandern werde, sobald die Polizei durch das Tor da unten schreite. Doch nicht dieser Akt selbst, die Geiselnahme eines Klassikers, hat Schlögel so stark beeindruckt. Es war die Rede, die einen brillanten Bogen von der deutschen Klassik zur Polizei und zur Gesellschaft spannte. Schlögel seufzt und sagt erneut einen Lieblingssatz: «Es gab schon damals die, die etwas machten, und die, die nichts machten.»

Befeuert von solchen Erlebnissen, ließ er es bei seinen Besu­chen zu Hause auf dem Dorf auf Auseinandersetzungen mit seinen Eltern ankommen: bewusste Kränkungen und Verletzungen, die ihn im Rückblick dann doch beschämen. «Wenn du einmal an die Macht kommst», so klagte der von seinem kommunistischen Sohn enttäuschte Vater, «dann wirst du mir oder deinem Bruder den Hof wegnehmen.» Durch seine Politisierung wurde der junge Karl zwangsläufig zum verlorenen Sohn. Etwa bei jenem Weih­nachtsfest, als er noch während des feierlichen Dorfkonzertes – einen auffälligeren Moment hätte er sich nicht aussuchen können – die Tasche packte und zum Bahnhof fuhr. Er musste nach Dortmund, wo er seinerzeit Bürodienst in der Parteizentrale der KPD zu verrichten hatte; auch über Weihnachten. Die maoistischen Jahre waren eine Einübung in emotionaler Kälte. Es war, sagt Schlögel mit einem lakonischen Schulterzucken, «Kampf und Krampf».

Noch einmal: Haben die Autonomen aus der Köpenicker Straße am Ende Recht behalten? Ist aus Karl Schlögel der schärfs­te Kritiker der Elche geworden, einer jener selbstgerechten Renegaten, wie sie zuletzt im 68er-Gedenkjahr so unangenehm auffielen? Dieser Vorwurf liefe ins Leere. Zwar stimmt es, dass Karl Schlögel die Radikalität und den Dogmatismus der frühen Jahre hinter sich gelassen hat. Seinen Themen aber ist er treu geblieben, auch wenn er den Sozialismus heute nicht mehr als Projekt und realitäts­fähige Idee verfolgt, sondern ihn in die Begriffe von Realgeschichte zurückübersetzt. Der Historiker ist vom Hochsitz der Ideo­logie herabgestiegen zu den Dingen selbst. So ist er zum Archäologen der Obsessionen Osteuropas geworden. Dabei geht er weit hinter die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zurück und beschwört die Rückkehr des Bürgers auch in solchen Regionen, in denen andere heute nichts als eine turbokapitalistische Verwüstung von Landschaften und Städten sehen, soziales Rattenrennen, deprimierenden Kultur- und Identitätsverlust. Schlögel, könnte man meinen, schaut durch eine Röntgenbrille, mit der die verschütteten Schichten überhaupt erst sichtbar werden. Er ist ein Meister der lebendigen Beschreibung, ein Sprachkünstler, der den Leser in seinen Bann schlagen kann; er ist aber auch ein Künstler der Einbildungskraft. Und nicht selten ein Schwärmer.

Die Gegenstände seiner Schwärmerei können von diesem Talent nur profitieren. Liegt es doch nicht auf der Hand, einen Truck-Terminal in Frankfurt/Oder als kleines Weltwunder unserer Tage zu erkennen. «Ich möchte», sagt Karl Schlögel, «dass die Leute sehen, was ich sehe.»

 

Stefanie Peter, Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin, wuchs in Dortmund auf und lebt als freie Autorin in Berlin. 2007 erschien «Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch».

 

Karl Schlögel
Terror und Traum. Moskau 1937
Hanser, München 2008. 812 S., 29,90 €

Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2008. 254 S., 9,95 €

Marjampole oder Die Wiederkehr Europas aus dem Geist der Städte
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2009. 318 S., 12,95 €

Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik
Hanser, München 2003. 567 S., 25,90 € (als Fischer TB 14,95 €)

Petersburg. Das Laboratorium der Moderne. 1909–1921
Hanser, München 2002. 702 S., 34,90 €

Promenade in Jalta und andere Städtebilder
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2003. 311 S., 9,95 €

Moskau lesen. Die Stadt als Buch
btb, München 2000. 224 S. (antiquarisch erhältlich)

Karl Schlögel, Willi Jasper, Bernd Ziesemer
Partei kaputt. Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken
Edition Vielfalt, Berlin 1981. 141 S. (antiquarisch erhältlich)

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