Zwei, Drei, Viele 68 - Der kalifornische Traum

Die eigentliche Bewegung ging nicht von Polit-Funktionären aus, sondern von Schlaffis, Hippies, Blumenkindern

Sein Leben lang wollte der Tankwartssohn den totalitären Familienverhältnissen entfliehen, der engen Etagenwohnung am Rand der Stadt, in der sein Vater jeden Sonntag Marschmusik hörte. Jetzt ist er dort, wo er ankommen wollte: Er hat Sex zu John Coltranes Saxofon-Soli und Gruppensex zu den Kollektiv-Improvisationen von «Grateful Dead». Manchmal, wenn die Platten gewechselt werden, kann er von draußen Demonstrationslärm hören. Aber daran interessieren ihn nur die bunten Farben, das entschlossene Auftreten, die fremdartigen Symbole und Forderungen. Seine Kommilitonen, sämtlich aus gutem Hause, sehnen sich nach der Diktatur des Proletariats. Der Tankwartssohn ist das einzige Arbeiterkind weit und breit, und nichts wünscht er sich weniger als das Proletariat an der Macht. «Ich will nicht von Leuten regiert werden, die wie meine Eltern und meine Großmutter sind.»

«Plötzlich ging alles ganz schnell» heißt der witzige und weise 68er-Roman, mit dem Jörg W. Gronius seine autobiografisch gefärbte Trilogie über das Westberlin der ersten Nachkriegsjahrzehnte beendet. Darin schildert er die Befreiungs- und Selbstfindungsversuche eines renitenten Arbeiterjungen. Nach der Schule will er wilder Maler werden, dann aber wendet er sich dem wilden Denken zu und der Freien Universität. «In den riesigen Hörsälen hatte Rudi Dutschke gepredigt und John Coltrane Saxofon gespielt!» Hier lehren Klaus Heinrich und – ganz in Schwarz – Jacob Taubes. Man liest die «Phänomenologie des Geistes» und «Die Funktion des Orgasmus», gründet Theatergruppen im Peter-Stein-Stil und überkippt sich zur Deklamation antiker Klassiker mit Ochsenblut. In den Seminaren wird ununterbrochen geraucht; von den hinteren Reihen aus kann man den Dozenten schon nach ein paar Minuten nicht mehr erkennen. Auch in den Studenten-WGs, in denen der Tankwartssohn seinen Gruppensex hat, lichtet sich nur selten der Nebel, der durch unentwegt glimmende Räucherstäbchen und Marihuana-Stängel entsteht.


Hendrix und Joplin statt Marx und Marcuse

Viel Rauch – aber um was? Worum ging es 1968 und in den Jahren danach? Kann man diese Zeit überhaupt als Revolte begreifen? Und wenn ja, wogegen und mit welchen Mitteln? Blickt man nicht mit den Augen des Tankwartssohns auf die Szene, sondern aus der Perspektive von Götz Aly, Peter Schneider und den anderen männlichen, heterosexuellen, aus den Debattenzirkeln des SDS stammenden, selbsternannten Erinnerungsbeauftragten des aktuellen 68er-Revivals – dann scheint diese Epoche nicht mehr gewesen zu sein als ein unermüdliches Penis-Fechten zwischen ebenso erregten wie untereinander verzank­ten Theorie-Hengsten. Interessant ist, was dabei gerade nicht in den Blick gelangt: «68» als globale Jugendrevolte und als kulturelle Revolution; als Triumph der Rockmusik und der Hippie-Bewegung; als Zeit der massenhaften Verbreitung halluzinogener Drogen und religiöser Spinnereien aller Art; als Erschütterung sexueller Rollen­bilder und unerhörter Fortschritt in der Emanzipations­geschichte von Frauen, Schwulen und Lesben. «68» als Pop kommt bei Aly & Co. nicht vor. In deren Rekonstruktion der Geschichte klettert noch einmal die vulgärmarxistische Widerspiegelungstheorie aus der Gruft, wonach alle Kultur nur ein «Überbau» ist, ein bloßer, unselbständiger Effekt der Produktionsmittel.

Das ist nicht nur methodologischer Faulheit geschuldet. Man erkennt daran vor allem, wie fremd der kleinen Minderheit der Debattenredner und Wortführer die Kultur der Mehrheit stets gewesen ist. Götz Aly ist dafür ein gutes Beispiel. Bei ihm hat sich die scheinbar revolutionäre Fortschrittlichkeit schon immer mit einem rückwärtsgewandten, bürgerlichen Kulturverständnis gepaart. Seine Wahrnehmung von Kunst reicht über gelegentliche Theater- und Opernbesuche nicht hinaus. Von Jim Morrison, Arthur Lee und den «Mothers of Invention», von «Pink Floyd», der «Incredible String Band» und den «Byrds» wusste er 1968 vermutlich ebenso viel wie heute, nämlich nichts. Die Kommilitonen, die sich, statt über Marx und Marcuse zu brüten, lieber Jimi Hendrix und Janis Joplin hingaben, erscheinen in dieser Perspektive damals wie heute als konterrevolutionäre Gammler.

«Woman is the Nigger of the World»

Gerade das Gammlertum war aber eine der wesentlichen Strömungen von «68»: die Schlaffis, die Verweigerung durch Verweichlichung, der Siegeszug der Hippies und Blumen­kinder, all jene Formen des entschiedenen Passiv-Werdens, in denen junge Menschen ihren Willen zum Nicht-Mitmachen manifestierten. Wobei man im Einzelnen nicht mitmachen wollte, war dabei erst einmal egal. Da wurde zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und den antibürgerlichen Zirkeln der Alys und Schneiders kein Unterschied gemacht. Die dauer-erigierten Debatten der Protest-Rädelsführer – für die Jacques Derrida später den Begriff des «Phallogozentrismus» prägte – stieß bei der breiten Masse der 68er bestenfalls auf Desinteresse und Verständ­nislosigkeit, nicht selten auf Abscheu oder in Kunstwerken formulierte Kritik. In der wirklich «radikalen Kultur dieser Zeit», so schreibt der Künstler und Pop-Theoretiker Mike Kelley in einem äußerst lesenswerten Essay, waren die echten «Zeichen von Widerstand» gerade in der «Zurschaustellung von Feminität» als einer provozierenden Weichheit zu suchen: «Pazifismus, lange Haare, Blumen-Klamotten». Dies war die Lehre der Hippies: Wenn das größte Problem der Gesellschaft darin bestand, dass sie «militaristisch, patriarchal und männlich geprägt war, dann musste das probate Gegengift in einem Bündnis mit dem prototypisch Femininen zu finden sein».

Kelleys Text «Cross Gender / Cross Genre» ist in dem von Diedrich Diederichsen herausgegebenen Sammelband «Golden Years» zu finden. Darin wird die Geschichte der Gegenkultur um das Jahr 1968 herum als Geschichte einer allgemeinen Ent-Normierung gezeichnet. Kelley zeigt, wie die Ästhetik des erblühenden Hippieismus mit der Entwicklung von Travestie und Cross-Dressing einherging; mit dem generellen Wunsch vieler Männer – und Frauen –, zu etwas «Anderem» zu werden als zuvor. Dass dies vor allem für die Protestbewegung der USA zum Leitmotiv werden konnte, erklärt Kelley daraus, dass sich die weißen Hippies wesentlich an der ein Jahrzehnt älteren, afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung orientierten. Diese stellte die Organisationsformen, aber auch die politische Romantik zur Verfügung, die die Vietnamgegner brauchten, um ein kollektives Selbst auszubilden. «Der Pazifismus eines Martin Luther King vertrug sich gut mit den Zielen der Kriegsgegner», so Kelley. «Dieses eher zufällige Zusammentreffen von zwei sehr unterschiedlich zusammengesetzten und motivierten Gruppen trug maßgeblich dazu bei, dass sich weiße Jugendliche auf sehr weitreichende und empathische Weise mit dem Konzept von ‹Andersheit› identifizierten – und die Frau war das ‹Andere› schlechthin.»

«Woman is the Nigger of the World», wie Yoko Ono zu sagen pflegte – man mag diese Gleichsetzung verfehlt finden. Aber ohne den offensichtlichen Wunsch, «anders» zu werden, sich mit dem «Anderen» zu identifizieren, ist die Bewegung der 68er nicht zu verstehen: diese Dialektik aus Protest und Eskapismus, aus Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinsverlust, aus ernsthafter Analyse der entfremdeten Verhältnisse und exotistischem, obskurem, okkultem Kitsch. «Das Andere», das man werden wollte, das war «die Frau» ebenso wie die unbekannte, spirituell erscheinende Kultur des Mittleren und Fernen Ostens. Oder: das Böse, die gefährliche Pose; der Satanismus, mit dem etwa die «Rolling Stones» um den Jahreswechsel 1967/68 auf ihrem Album «Their Satanic Majesties’ Request» flirteten – und mit dem die Anhänger des Hippie-Gurus Charles Manson entsetzlichen Ernst machten, indem sie 1969 die Schauspielerin Sharon Tate ermordeten.


Trau keinem, der einfach lange Haare trägt

Manson hatte sich ursprünglich als Komponist freudianischer Selbstfindungslieder versucht («Old Ego is Too Much A Thing»). 1968 kam er mit einer Kommune leicht verführbarer junger Menschen aus San Francisco nach Los Angeles, um dort als Rockstar Karriere zu machen. Anfänglich erregte er durchaus das Interesse der örtlichen Szene. Er befreundete sich mit Neil Young und John Phillips von den «Mamas and Papas» und begann im Studio von Dennis Wilson, dem Schlagzeuger der «Beach Boys», ein Album aufzunehmen – bis er wegen unkontrollierbaren Verhaltens hinausgeworfen wurde und sich mit seiner «Family» in einer aufgelassenen Ranch in den Bergen verkroch. Für die Hippies der späten 60er Jahre war Manson zugleich eine typische Figur und ein Menetekel. Dass ein charismatischer, aber künstlerisch mittelmäßiger Freak wie er so viele Anhänger um sich scharen und so viel Unheil anrichten konnte, das wäre «weder in den Fünfziger- noch in den Siebzigerjahren möglich gewesen», schreibt der Pophistoriker Barney Hoskyns in seinem Buch «Hotel California».

In diesem Buch erzählt Hoskyns die Geschichte der kalifornischen Hippie-Szene, beginnend im Jahr 1965, als sich der Schwerpunkt der amerikanischen Musikindustrie von New York nach Los Angeles zu verlagern beginnt. Dort beherrschen bis dahin seichte Surfpop- und Teenie-Idole die Popkultur. Der Erfolg von New Yorker Künstlern wie Bob Dylan führt vielen jungen Folk- und Country-Sängern vor Augen, dass man mit Popmusik «Mädchen rumkriegen konnte», ohne den neuerdings «hippen Touch» politischen Engagements zu verlieren. Ehemalige Surfpopper wie P. F. Sloan beginnen, Protestsongs im Folkrock-Stil zu schreiben. Sloans «Eve of Destruction» wurde zur ersten Hymne der kalifornischen Hippies, neben «California Dreamin’» von den «Mamas and Papas». Die Warnung vor dem Atomkrieg wie die Freude an Sonnen­schein und paradiesischen Stränden – bei den 68ern von Los Angeles waren das keine Gegensätze, wie Hoskyns ausführlich erläutert. Hedonismus und Politisierung gingen hier Hand in Hand; das leichte Leben, das Südkalifornien versprach, wurde als Bedingung begriffen, um sich «selber finden» zu können und auf diese Weise zu einer wahrhaft politischen Existenz vorzustoßen.

«Hotel California» zeichnet die Geschichte dieser politisch-hedonistischen, durch Popmusik vermittelten Selbst­findungsideologie nach – vom «Summer of Love» 1967 über das Jahr 68 hinaus bis in die siebziger Jahre hinein. Die Manson-Morde bilden hier den entscheidenden Wen­depunkt. Danach, so Hoskyns, herrsch­te Paranoia: «Niemals wieder würde man jemandem trauen, nur weil er groovy aussah und seine Haare lang trug.» Stattdessen war es nun an der Zeit, «runterzukommen» und sich zu besinnen. «Take it easy», lautet die Parole in der Zeit nach Manson. Das Misstrauen gegenüber charismatischen Kommune-Gründern wie ihm weitete sich schnell zu einem Generalverdacht gegen alle Formen des «kommunalen», idealistischen, politisch engagierten Daseins aus.


Damals wie heute: Take it easy

Diese historische Monografie ist der Idealfall eines 68er-Buches: Sie beschreibt die kulturellen Bedingungen für Politisierung und Entpolitisierung, ohne die Parolen der Zeit überzubewerten. «Die Politik» der 68er nimmt sie ernst, indem sie sie entschieden relativiert – als eine Form der Suche nach einem guten Leben, ein Medium des Selbstausdrucks unter vielen: eine bestimmte Facette im Kontext größerer kultureller Entwicklungen.

Hoskyns’ detailreiche Studie konzentriert sich auf die Szene von Los Angeles. Eine historische Gesamtdarstellung über das Jahr 1968 aus popkultureller Perspektive ist hingegen nirgendwo zu entdecken, und schon gar nicht in deutscher Sprache – abgesehen von Daniel Gäsches flott im Internet zusammengestoppeltem, leider völlig indiskutablem Büchlein «Born to be wild oder Die 68er und die Musik». Unter den ernstzunehmenden Neuerscheinungen zum Thema gibt es eine einzige, die das Feld der Jugendkultur und des Pop überhaupt in den Blick bekommt: Norbert Freis «1968. Jugendrevolte und globaler Protest». Was die Details der popkulturellen Entwicklungen angeht, ist seine Darstellung kaum mehr als kursorisch, die Fakten sind oft löchrig. So führt er den Londoner UFO-Club – damals das Zentrum der psychedelischen Bewegung, erster Auftrittsort von «Pink Floyd», «Soft Machine» und anderen stilprägenden Bands jener Jahre, aber auch Zentrum der politischen Gegenkultur Großbritanniens – schnöde als «Kleinkunstbühne». Aber immerhin kommt der UFO-Club hier vor, ebenso wie die Hippie-Kommunen in Haight-Ashbury, das Monterey Festival und schließlich Woodstock. «There is a whole generation / with a new explanation» steht als Motto über Freis erstem Kapitel: die Schlagzeile aus Scott McKenzies 1967er Hippie-Hymne «San Francisco».

Dass sich die Jugend der westlichen Welt erstmals als ein und dieselbe «Generation» begriff: diese globale Perspektive ist den nationalen Sonderwegsdenkern, die die deutsche 68er-Debatte bestimmen, bis heute fremd. Mögen sie sich noch so sehr als Renegaten gerieren – in der Ahnungslosigkeit gegenüber dem Pop, gegenüber der Befreiung des Daseins durch den Einsatz von Musik und Stil, sind sie bis heute die bürgerlich-bornierten SDS-Kader ihrer Jugend geblieben. «Take it easy», möchte man ihnen während der Lektüre ihrer Bücher immer wieder zurufen. Und diesen einen Satz, den Jörg W. Gronius’ Tank­wartssohn bei dem unvergessenen Jacob Taubes lernt: «Sei schlau – und lern beim Überbau.»

 

Jens Balzer ist Pop-Redakteur im Feuilleton der «Berliner Zeitung.

Jörg W. Gronius
Plötzlich ging alles ganz schnell. Roman
Weidle, Bonn 2007. 149 S., 21 €

Diedrich Diederichsen u. a. (Hg.)
Golden Years. Materialien und Positionen zu queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974
Edition Camera Austria, Graz 2006. 382 S. (antiquarisch erhältlich)

Barney Hoskyns
Hotel California
Harper Perennial, London 2007. 316 S., 13,90 €

Daniel Gäsche
Born to be wild oder Die 68er und die Musik
Militzke, Leipzig 2008. 352 S., 24,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.