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(picture alliance) Szene aus dem Theaterstück "Viel Lärm um Nichts". Das Stück ist eine Kombination aus Shakespeares Drama und Texten aus "Jeff Koons" von Rainald Goetz

30 Jahre Rainald Goetz - Der Ekstasetester

Rainald Goetz ist akribisch. Jahrelange Detailrecherche liegen seinem neuesten Roman zugrunde. In den gefühlten zweihundertfünfzig, tatsächlich gut zwei Dutzend Goetz-Büchern fehlt: Frauen, Sex, Kinder, Familie, Liebe in Gestalt ihrer zweigliedrigen Privatheit. Ein Essay

Die Wirtschaft produziert unentwegt und vieles. So gut wie alles, könnte man meinen, am Ende gar die Liebe und die kleinen Kinder. Sie produziert vor allem aber, gut sichtbar, Sieger und Verlierer. Von einem war in den letzten Wochen viel die Rede: vom Sieger Mathias Döpfner, seit zehn Jahren Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG. Er erhielt zum 70. Geburtstag seiner Chefin Friede Springer ein Aktienpaket im Wert von 73 Millionen Euro geschenkt, obwohl er für die Firma vor fünf Jahren 600 Millionen Euro versenkt hat, als er den Postdienst PIN kaufte. Was hat das mit Rainald Goetz zu tun?

Nun, die Verhältnisse an der Spitze großer Medienfirmen sind das Thema seines neuen Romans «Johann Holtrop», von dem zu sagen, er sei Goetz´ erster richtiger Roman, nicht ganz falsch wäre. Es geht um Gier, Neid und Ich-Sucht, um Macht, Intrigen, Günstlingswirtschaft, es geht um potente Firmenbesitzerehefrauen, um deren Auserwählte, und es geht in Umrissen nebenbei auch um Mathias Döpfner, im Roman ist er so groß, wie er wirklich ist, genauso mächtig und so smart. Und doch ist er ein kleines Romanlicht im Vergleich zum großen Verlierer, dem Titelhelden Holtrop. Und damit sind wir auch schon bei der zentralen poetologischen Frage von Rainald Goetz, der Frage nach der Realität: Wie kommt die wirkliche Wirklichkeit in den Roman? Im Falle Holtrop ist dies ein komplett fiktives soziales Universum, wie es bei Goetz noch keines gab. Und deshalb bis dato auch noch keinen richtigen Roman. 

«Wie viel Zeitung verträgt der Roman?» wäre eine gute Leitfrage für die Lektüre von «Johann Holtrop»: Dass Goetz jahrelange Studien der Wirtschaftsblätter hinter sich hat, ist offensichtlich. In mancher, so auch in dieser Hinsicht, war Goetz schon immer ein Streber. Er will es genau wissen, alles nämlich, er will es begreifen und dann verächtlich wegstoßen. Und er will so unbedingt keine Fehler machen, dass der Fleiß und die Genauigkeit fast schon wieder etwas Falsches ergeben. Wenn man nämlich für die Grau- und Übergangszonen kooperativen sozialen Handelns, für das Amalgam aus privat und öffentlich, die Überschneidung von guten und schlechten Absichten keinen Sinn entwickelt, dann wird noch die genaueste Mit- und Abschrift von Daten plus Kommentar verzerrt und ergo falsch in ihrer Gesamtgefüge-Anmutung. Dann hat man lauter Manager im Manager-Roman, die aus nichts als Zahlen und Gier bestehen. 

Einseitigkeiten dieser Art, nur positiv gewendet, stammen normalerweise von den Wirtschaftsakteuren selbst. Goetz nun sieht einfach mal wie der erste Mensch oder der erste moralisch empörte Antikapitalist den Wirtschaftskosmos rein negativ; er sieht ihn schlicht von der verdorbenen Gemütslage der Akteure her und hellt die schwarze Grundtönung des Romans kaum je, nein: gar nicht auf. 

Daran ist vieles seltsam: dass jemand überhaupt in einem solch hässlichen Raum sich so lange so intensiv aufhalten mag, dass er glaubt, andere, Leser eben, würden ihn darin gern begleiten; dass er der schlichten Steigerungslogik des Übels folgt, statt den Hochs und Tiefs, den Schwankungen und dem Mäandern, denen jedes soziale System unterworfen ist. Goetz’ Leitfrage ist eher einfach: Geht die Darstellung geschäftlichen Handelns im Roman vielleicht mit noch schlechteren, egoistischeren, gerissen-aggressiven Gründen und Mitteln als in der Wirklichkeit? Doch mehr noch verwundert beim Adepten von Niklas Luhmann die Rückführung eines komplexen Strategie-, sprich: Macht- und Intrigenspiels, wie es die Wirtschaft darstellt, auf individuelle Gier und die Verachtung anderer. Nicht einmal die Gier als zivilisatorische Mitgift, wie sie Rousseau als kollektives Erbe fasste, oder wie sie dessen Antipode, der Naturrechtler Hobbes, am dunklen Grund von allem sah, nein, Goetz visiert die kleine miese und die große miese Gier des Einzelnen an, der auch anders könnte, sich aber dagegen entscheidet. Alles nach der Maxime: Die Hässlichkeit und die Gemeinheit sind radikal zu vereinzeln, sind vom Einzelnen her zu denken, von seinen Wünschen und Entscheidungen her.

So auch bei Johann Holtrop. Viele Verächtlichkeiten fügen sich zu einem System der Verachtung als dem inneren Funktionsprinzip der kapitalistischen Firmen und als Grundprinzip der corporate governance unserer Tage überhaupt. «Unsere Tage» meint im Roman konkret die Zeit nach 9/11, also nach dem Angriff auf ein wirkliches wie das symbolische Wirtschaftszentrum der westlichen Welt. Das Zentrum der Wirtschaftswelt im Roman ist die Ass–perg AG mit Stammsitz in Schönhausen und einer bedeutenden Tochterfirma, der Arrow PC im thüringischen Krölpa, nebst Dependence in Berlin, worin unschwer Bertelsmann zu erkennen ist: Schönhausen als Gütersloh, mit einer anderen großen reichen Medienkonzernwitwe an der Spitze der dominierenden Stiftung: Liz Mohn. Kate Ass–perger heißt das Damenmodell der Macht im Roman.

Sie regiert mittels symbolischer Praktiken, mit Aufmerksamkeitsverteilung und Vergünstigungen, und führt selbst ihren Mann Berthold an der kurzen Leine. Kate Assperger ist im Sinne der Machtballung und ihrer Camouflage nicht nur die mächtigste, sondern auch die böseste Gestalt in einem Roman der bösen Gestalten und bösen Absichten. Und, das sei eigens vermerkt: Sie ist quasi die einzige Frau hier. Das Böseste also wäre eine Frau, und das böse Verhalten auf der Welt entspringt nicht etwa der Funktionslogik flach hierarchisierter postindustrieller Betriebsabläufe, sondern dem Verlust der menschlichen Tugenden mit ihren antiken und christlichen Wurzeln, den Sünden mithin? Und gibt es ein Äquivalent für die Todsünde? Nach ihr wird tatsächlich gefragt im Roman. Man darf wählen zwischen Verachtung und Gier. 

Diese radikale Vereinzelungsperspektive, zwischen christlichem Radikalismus, juristischer Verantwortungslogik und Idiotie oszillierend, ist nicht neu bei Goetz, beileibe nicht. Er verfolgt den subjektiven Vereinzelungsansatz seit seinen ersten Texten. Wir wissen viel davon durch einen frühen Essay, der für den Mentor Michael Rutschky 1982 geschrieben wurde, und natürlich aus dem ersten «Roman» genannten Erlebnis-Verarbeitungs-Buch «Irre» von 1983. Dort nämlich war Goetz’ wesentliches Interesse, die ärztliche Ordnung des Wahnsinns und damit diejenige der Psychiatrie nicht anzuerkennen. Die gesamte Logik der Nomenklatur, die ärztliche Beschriftung der verlorenen Seelen, sind hilflose magische Praktiken, nicht durchgreifend ins Reale der stummen Krankheit, nicht durchdringend zum undurchdringlichen Schmerz. In solcher Welt der falschen Rede, wo der nicht mehr kommunikative Kranke in der Wahrheit des Schmerzes ist (ein christliches Motiv auch hier), besteht die einzig mögliche Handlung des Jungarztes Raspe darin, in die Krankheit unterhalb der Sprache selbst einzutauchen, sich mit ihr vollidentifikatorisch gemein zu machen, um dann mit Aplomb daraus aufzutauchen und alles dann von ganz weit oben anzusehen und noch und noch zu reflektieren. Eine Doppelbewegung, die von da an für Goetz typisch sein wird, bis hin zum Feier-Ich in «Rave» oder eben zu «Johann Holtrop».

In dieser poetischen Radikalisierung der Rolle des teilnehmenden Beobachters konnte Goetz zu demjenigen werden, der er im öffentlichen Bewusstsein der kulturellen Welt im deutschsprachigen Raum seit Langem ist: der geschlagene und auferstandene Zeuge der schmerzensreichen Weltverfassung, die Ikone der Gebildeten, der Avatar der Partymaniacs in der Kultur, ein verletzlicher Verletzter, der dennoch sagen kann, was er leidet, der ganz heutige Lenz-Kleist-Büchner-Wahnsinns-Autor und der immer streberhafte Alleswisser und -denker in einem: Ick bin all hier, ick bin all da, hab alles gelesen, alles gesehen, und ab morgen wird noch doller zurückbeobachtet. Goetz mit der Kamera, Goetz mit Block und Kuli, Goetz mit der Drohung: Sonst schreibe ich das alles auch noch auf. Ein symbolisch operierender Beobachtungs- und Deutungs-Überflieger – deshalb heißt man den heute 58-jährigen Goetz noch immer «hochbegabt» oder «hochintelligent», als käme er gerade vom Gymnasium, als wäre Intelligenz nicht irgendwann gelöst in Praxis und Charakter. 

Verschärft wird diese Imago im weitgehenden Zusammenfall zweier zum Exzess tendierender Neigungen: Der Primus tobt und tanzt und kokst die Nacht hindurch in aller Herrlichkeit, von Schall und Wahn durchpulst. So lesen wir es in «Rave» (1998) oder «Celebration» (1999) oder fassen es kaum in den Hymnen auf Sven Väth, WestBam, Dr. Motte von der Love Parade und früher noch bei Interviews mit Metalbands für die Musikzeitung Spex. Hier ist berauschter Ich-Verlust oder demonstrierte Demut denen gegenüber, die die Maschinen der Selbstvergessenheit entfesseln und navigieren. Wahnsinn Herrlichkeit Glück. Substantive ohne Punkt und Komma. Ave Rave Amen. Und der Leser goes Techno mit Goetz, aber immer nur mit Buchstaben, denn darum geht’s: Rausch und Buchstaben. Und er ist der, der weiß und testet, was da geht, wo nichts mehr spricht und zählt: der Tester der Ekstase: Goetz: der Tester des Exzesses. Das ist die Neunziger-Jahre-Goetz-Ekstase, schizo-herrlich dionysisch, innerweltlich vollerlöst und im Aufgehen der Sonne ein Schrei. 

Und da ist andererseits, schwer zu übersehen und doch gern ignoriert, weil irgendwie unangenehm: die lehrerhafte, bürokratische, strikte Ordnung insinuierende paranoide Zurechtstutzung und Einfügung all dessen in ein übergeordnetes Bezugssystem, das jeden nicht über Goetz promovierenden Leser nervt, weil es ihn zwingt zu begreifen, dass das rauschhaft Schöne nur untergeordneter Teil einer strikten Ordnung der Welt ist, so wie Gott als Goetz-Ersatz sie in diesem Goetz-Universum kreiert hat. Irdischer formuliert: das Wahnsinnsgenie als Oberbuchhalter. Was damit gemeint ist? Die von bildenden Künstlern abgeguckte Einteilung der eigenen Arbeit in Zyklen mit etlichen Unterteilungen, fortlaufend in alle Zukunft hinein und alle Vergangenheit einbegreifend, alles zu einem Bauwerk fügend, wie es am Ende nur Juristen, Geschichtsphilosophen oder Systemtheoretiker zu tun pflegen: die Welt als Bausatz aus u.a.: «Irre». «Krieg», bestehend aus «Krieg» und «Hirn». «Festung», umfassend die Theatertexte «Festung», den Monolog «Katarakt», den Prosaband «Kronos» und die rund 1000-seitige Fernseh- und Zeitungs-Mitschrift eines Jahres, «1989».

Oder «Heute Morgen. Eine fünfbändige Geschichte der Gegenwart», worunter all die wilden Techno-Exerzitien fallen, zuzüglich eines Bandes mit Gesprächen mit WestBam, des Stücks «Jeff Koons», der Erzählung «Dekonspiratione», des Internet-Romans «Abfall für alle» mit dem Unter-Appendix «Jahrzehnt der schönen Frauen». Schließlich, damit keiner auf die Idee kommt, er könne einfach so Goetz lesen, wird auch der neue Roman sogleich vor Erscheinen ein- und untergeordnet, verkontextet, eingesargt in den Zyklus «Schlucht», umfassend «Klage», «loslabern», den Fotoband «elfter september 2010» usw. – das Grauen einer privatmythologisch ausdifferenzierten Welt, deren innerer Konnex sich nur den Göttern und den philologischen Hermeneuten erschließt.

Warum ist das so interessant? Wollen wir etwa etwas entlarven? Nur insofern, als Erkennen immer auch Entdecken ist. Tatsächlich ist daran einzig interessant, dass der stärkste Reiz, den Goetz-Texte auszulösen in der Lage sind, genau damit zusammenhängt, dass hier der in Lust oder Leid Verstummende genau der ist, der die Welt zur Sprache bringt. Die Herren der Maschinen, der Medien, der Diskurse, des Rausches, der Erkenntnis: geradezu selbstentlarvend gewinnen sie im Goetz-Werk ein über und über bewundertes Eigenleben als Ideal-Ich, am Anfang Michael Rutschky und Diedrich Diederichsen, unter Journalisten bekommen plötzlich Ulrich Wickert oder Marcel Reich-Ranicki höchste Würde. Zelebriert und thematisiert wird solche Mannesgröße mit WestBam und Sven Väth; verherrlicht werden die jungen Frechen Christan Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre; beseligend: die in Harald Schmidt verkörperte zynische Geste; rückgratstärkend: die in Luhmann Theorie gewordene Welttotalerfassungs-Grandezza. Es sind allesamt Männer und Könner und Macher an den Schalthebeln, die er anhimmelt, mit einem Rüchlein von Backfisch, man lese nur den Eiertanz um Frank Schirrmacher in «loslabern» (2008). 

Womit wir an einem Punkt angekommen sind, wo einmal kurz gesagt sein muss, was alles fehlt in den gefühlten zweihundertfünfzig, tatsächlich gut zwei Dutzend Goetz-Büchern: Frauen, Sex, Kinder, Familie, Liebe in Gestalt ihrer zweigliedrigen Privatheit, Paare überhaupt, Privatheit überhaupt, sofern man nicht die öffentlichen Diskursanschlüsse von Goetz selbst allesamt für private Bekenntnisse hält, was sie nicht sind, weil sie den anderen als Nicht-Repräsentanten nicht ernst nehmen. Und der Humor fehlt selbstverständlich auch. Nicht der schnelle kluge Witz, der böse hackende, kurz alles und jeden eben mal versenkende Witz, nein, der Humor, der aus dem Ineinander von Schwäche und Anspruch, von privater Beschränktheit und öffentlicher Prätention erwächst. 

Aber das ist nun doch eine Menge, das da fehlt, hoppla!, das haben wir uns vorher nicht ganz klar gemacht. Aber wir können den Befund nicht ändern und fragen uns verdutzt, warum wir das alles immer schon geschätzt und manchmal sogar, genau!, geliebt haben. Wir fragen es auch angesichts all der tollen Fotos von Goetz samt Unterzeilen: «Wir fassen mal eben Strom»; so oder so ähnlich steht es unter einem erinnerten Goetz, der sich zur Steckdose reckt, aus der all die tolle Musik kommt und die Kraft zu tanzen. Und: «We never stop living that way» steht auf dem T-Shirt, der schöne Mann darin schon 50 plus, wahrscheinlich 55. Was hört nicht auf? Das wilde junge ewige Leben? Ja! Nein! Und ganz am Anfang, noch vor dem Klagenfurter Stirn-Schnitt: der junge blonde Punkige mit dem wild hochstehenden Haar, der sich mit beiden Händen das Gesicht zerreißt, den Mund zum Schrei geöffnet, die breiten Zahnreihen bloß, nicht aggressiv bleckend, bloß verzweifelt und Verzweiflung darstellend.

Stopp, was ist das hier? Die Fortsetzung der Kritik mit ikonophilen Mitteln, die Verwandlung von Skepsis in Hingabe? Nein, wir müssen auf Distanz gehen, wie es auch Goetz gelehrt hat, immer dann, wenn Nähe zuschlägt, zuklappt wie eine Falle. Nein... 

Nein, wir müssen hier fragen, schließlich liegt der frische «Johann Holtrop» vor uns auf dem Schreibtisch, blau und biegsam und von Goetz in einer selbstfetischisierenden Buchverteilungsaktion persönlich den Kritikern überreicht mit dem ironischen Selbstzitat und Jesuswort «Nun gehet hin und leset». Ja, wir müssen uns fragen, wie dies nun alles weiterwirkt oder auch nicht in «Johann Holtrop». In diesem ersten richtigen Roman lässt der manische Lebenswirklichkeitsmitschreibeversucher Goetz tatsächlich etliche Personen in einem sozialen Setting miteinander agieren, folgt ihnen in ihren diversen Motivationslagen, lässt sie Entwicklungen durchmachen, ausschließlich geschäftlich-egomanisch freilich, und in diesem Sinne quasi-tragische Höhepunkte erreichen. Er streut wenigstens kurz Firmen- und Familien-Genealogie ein und verankert dies alles in einem konkreten Manager-Milieu, das durch wörtliche Rede immer wieder beglaubigt wird, und wechselt formal als Erzähler von der auktorialen zur einfühlsam mitwissenden personalen Position. Man hat, das ist der Unterschied zu den schon früher als «Roman» bezeichneten Büchern wie «Irre» oder «Kontrolliert», den Eindruck, Johann Holtrop und seine Entourage seien nicht (oder nicht wesentlich oder nicht nur): Rainald Goetz und seine Entourage selbst. Es ist ein eigener narrativer Raum, fast ohne Schnittstelle mit dem, was wir zu wissen glauben von der Zeugenschaft des Autors. 

«Johann Holtrop» ist ein Wirtschaftsroman und deshalb, weil die Wirtschaft sich spreizt zum Allgemeinen, ein Gesellschaftsroman. Er ist ein Entwicklungsroman und eine, sieht man es aus der Distanz, bös übertreibende, insistent pickende und dauerentlarvende Satire auf unsere Wirtschaftseliten und darauf, wie sie die Welt sehen. Nieten in Nadelstreifen als Hochliteratur. 

Holtrop als CEO der Assperg AG ist der Prototyp des alerten, überheblichen, schnell zupackenden Entscheiders mit glorifizierendem Macher-Selbstbild, von Niederlagen ungetrübt, ein Idiot von einem Erfolgsmenschen, sodass eine ihn porträtierende junge Reporterin die Dummheit, die in diesem Glanz sichtbar wird, schier nicht fassen kann. Wir Leser allerdings müssen das eine ganze Weile lang fassen, weil es wirtschaftlich vorangeht und Holtrop also stärker wird, bis langsam mit dem Einbruch (9/11 und die globalwirtschaftlichen Folgen) das Imperium zu bröckeln beginnt, was der Selbstverblendete naturgemäß nicht sehen und nicht glauben kann, besteht seine Stärke doch gerade im Glauben an sich selbst. Und als er es sieht und vielleicht versteht, fällt dieser Akt zusammen mit dem Tod. Ende «Johann Holtrop». 

Beeindruckend ist Goetz´ genaue Kenntnis der Abläufe in diesem Gesellschaftssegement. Er führt uns neben vielen Meetings, Vorstandssitzungen, Bilanzpressekonferenzen nebenbei auch in die Vorstandsetage der Deutschen Bank, spielt kurz auf deren Auseinandersetzung mit Leo Kirch und seiner SAT 1 Gruppe an, gibt uns klug aufgezäumte, rasant hingeworfene Skizzen in der Beobachtung der Wirtschaftsvorstandswelt als Intrigantenstadl. Das ist sicher nicht ohne Realitätsbezug, der für Goetz ja das Kriterium Nummer eins ist. 

Doch hier liegt auch das Problem des Romans: Wir können zwar 350 Seiten lang einem Unsympathen folgen, wenn dieser die Träume anderer zerstört, dann an seinem Gegenüber, seinem Gegenteil scheitert. Aber wir können nicht 350 Seiten lang eine Welt ohne Tiefe und Abgrund, ohne wirkliche Fallhöhe, also auch ohne wirkliche Tragik durchmessen. Die Welt ist auf der ersten Seite bereits so schlecht wie auf der letzten. Der Roman spielt die Formen der Schlechtigkeit (Gier und Verachtung) immer wieder aufs Neue durch, klug, gelegentlich in imposanten kataraktartigen syntaktischen Gebilden, die ein ganze Seite umfassen können und die komplexe, aber immer gleiche Motivationslogik der Akteure nachbildet, die unentwegt ihre Aufstiegschancen durchscannen: Wir sind darüber nicht erschrocken, wir wissen um das Schlechte schon, wir haben kein Mitleid, dazu sind die Figuren, allen voran Johann Holtrop, nicht menschlich genug, bei aller wirtschafts-typischen Selbstoptimierungs- und Selbstbetrugspsychologie. Unter anderem hat dieser Effekt damit zu tun, dass gerade die Form des Gesellschaftsromans es am wenigsten verträgt, wenn das fehlt, was bei Goetz eben immer fehlt: die Privatheit, Kinder, Familie, die Liebe, das andere Leben neben dem Geschäftlichen, die Träume von einem befreienden Außen, die Vorgeschichte des Individuums, das ja nicht als CEO-Anwärter auf die Welt kommt, die Ambition, für andere möglicherweise da zu sein oder etwas zu tun: Es wird schwer, dieses Leben und seine Darstellung im Roman zu mögen, wenn alles von allem Anfang an verfehltes Leben ist und nichts außerdem. 

Dazu kommen die formalen Probleme: Goetz will die totale Einsicht in die Figuren; er will in sie hinein, er will sie sein, er will sie uns von innen heraus zeigen und also auch, wie ihre Welt aussieht. Das hat schon mal eine Grenze darin, dass dieses Innenleben eher flach ist wie eine DAX-Kurve am Feiertag. Zugleich zeigt er uns von außen, gleichsam als «Ethnograph des Inlands» und des geschäftlichen Alltags, wie das alles ineinandergreift und wie grundverderbt alles ist, ohne Aussicht auf Besserung, geschweige denn Erlösung. In diesem Sinne ist die Holtrop-Welt die Hölle. In ihr gibt es nur Schuldige. Und alle sind im Prinzip wie alle. 

Und weil das so ist, entwertet sich auch dies das Reale verbriefende Sprechen im Roman, der ganze gut inszenierte Diskurs der gehobenen Wirtschaftswelt. Nein, Goetz hat sich wahnsinnig Mühe gegeben, viel auf-, ab- und mitgeschrieben bei Gesprächen, Interviews, der Lektüre von Zeitungswirtschaftsseiten usw. Er hat den Stoff durchdrungen; er hat sogar eine Fabel bemüht, die beim Scheitern des Topmanagers Holtrop in nachvollziehbaren Abfolgen schlechter Entscheidungen besteht. Das ist beeindruckend. Doch wirklich gut, im Sinn einer vielseitigen Betrachtung der Welt, wirklich durchschlagend im Sinn eines «Abrisses der Gesellschaft», wie der Roman mit doppeldeutigem Untertitel heißt, wirklich schön, im Sinne der sprachlichen Wucht, die wir von Goetz ja kennen, also wirklich gut und durchschlagend und schön ist dieser beeindruckende Roman aus dem deutschen globalisierten Wirtschaftsleben nicht. Eher ein betriebswirtschaftspsychologisches Fortbildungsseminar mit modernen narrativen Mitteln.

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