Bücher des Monats - Der Dämon des Gelehrten

Wie Joachim Radkau dem zum Klassiker verdorrten Max Weber neues Leben einhaucht und seine ungezähmte Natur jenseits von Soziologie und Ehe beschreibt

Lange hatte Max Weber keinen Körper. Wer mit Weber argumentierte, dachte streng methodisch, in Idealtypen und Strukturen, und wusste sich dem Allzumenschlichen stets weit enthoben. Nicht nur hat der herrschende Zweig der Soziologie «Rationalisie­rung» zu Webers Hauptthema erkoren, sondern Max Weber selbst, der leidenschaftliche Denker, wurde rationalisiert auf die im­mer­gleichen «protestantischen» Ablei­tun­gen und «charismatischen» Formeln. All die Jahre glaubten die unter Webers Schirm stehenden «Gesellschaftsgeschichten» von etwas so Unreflektiertem wie dem leibhaftigen Menschen abstrahieren zu können. Am weitesten trieb es Niklas Luhmann, der Weber als Meisterdenker beerbte. Luhmann niste­te sich in Marianne Webers Gedächtnisort Bielefeld-Oerlinghausen ein und eskamotierte von dort den Menschen aus dem von ihm gelobten «System» in die theoretische «Umwelt».

Man muss an diesen theoriebedürftigen Jargon der alten Bundesrepublik erinnern, denn ohne ihn ist Webers Karriere zum entkörperlichten Klassiker nicht erklär­bar. Wie viele Jahre mussten seit Marian­ne Webers «Lebensbild» (1926) des verstorbenen Gatten vergehen, wie lange mussten wir auf die erste große Biografie aus unbefangenem Munde warten! Nun endlich bricht der wilde Mensch Max Weber aus dem «stählernen Gehäuse» der sozialwissenschaftlichen Disziplin aus.


Kameradschaftsehe mit Marianne

Ausgerechnet aus Bielefeld, dieser kleinen Hauptstadt der sozialgeschichtlichen Weberei, kommt die Biografie Max Webers. Der Historiker Joachim Radkau hat ein furioses Buch geschrieben – auch auf tausend Seiten nie ermüdend, überreich an spektakulären Einfällen und rasanten Gedanken­kurven. Radkau beugt nicht die Knie vor der Autorität des Werkes, plappert nicht dessen soziologische Begriffe einfach nach, sondern er stellt Webers Lebenswirklichkeit ins Zentrum. Nicht noch einmal werden wir ausführlich mit seiner Wissenschaftslehre traktiert, dafür erfahren wir alles über Webers wahres Lebensdrama: seine asexuelle «Kameradschaftsehe» mit Marianne, seinen Ner­venzusammenbruch und sein spätes Liebes­glück mit Else Jaffé.

Erstaunlich ist, dass Radkau obsessiv um Webers Leiden und Leidenschaften kreist, ohne ihn je um des leeren Effektes willen bloßzustellen oder gar zu verraten. Immer nimmt er ihn beim Wort und versucht so jener «Forderung des Tages» gerecht zu werden, die Weber 1917 ans Ende seines berühmten Vortrages «Wissenschaft als Beruf» gestellt hat: «Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.»

Radkau sucht Webers «Dämon». Die Größe seiner Biografie besteht in der Einfachheit eines Gedankens. In drei gewaltigen kulturhistorischen Akten leuchtet er die Abgründe und Tiefen eines Satzes aus, mit dem Marianne Weber schon in ihrem «Lebensbild» das Nervenleiden ihres Gatten um die Jahrhundertwende kommentierte: «Die so lange vergewaltigte Natur beginnt ihre Rache.» Webers Dämon ist die ungezähmte Natur. Deren wilder Anmaßung versucht er in seinem ersten Leben Herr zu werden, durch Triebverzicht und Disziplin, durch die besinnungslose Flucht in die Arbeit. Die Natur rächt sich in seinem zweiten Leben an seinen Nerven. Und von ihr erhofft er sich, während seines dritten Lebens, in seiner entflammten Leidenschaft für Else «Erlösung».

Man muss sich hier frei machen von allen romantischen Natur-Vorstellungen; Webers Biografie ist keine Biografie aus dem Geist des Wandervogels. Er lebt nicht im versöhn­lichen Einklang mit der Natur, sondern erfährt sie, wie Radkau zeigt, von früh an als etwas Bedrohliches. Gerade von einer Gehirnhautentzündung gesundet, wird der kleine Max von seiner Mutter Helene in die eiskalte Nordsee geworfen, zur Abhärtung. Der junge Weber steht unter dem Regiment einer übermächtigen Mutter, die noch lange nach der Heirat mit Marianne in sein Leben hineinragt. Der Vater, Max Weber senior, betreibt «Politik als Beruf», wird aber, wie alle alten Liberalen von 1848, von Bismarck fortlaufend gedemütigt – und führt dem Junior so dessen eigenes Nachgeboren­sein vor Augen.

Auch Marianne nimmt Max Weber zuerst als naturhafte Bedrohung wahr. An der Ehe fürchtet er, wie sein Biograf schreibt, «daß eine Frau von nun an den Geschlechts­verkehr regelmäßig von ihm verlangen könne». Max Weber verweigert sich seiner Gattin. Sein Biograf verweigert sich dagegen kaum einer Spekulation, wenn es um die Erklärung von Webers gehemmtem Sexualleben geht. Die wunderbar indiskrete Lust an der Erkenntnis treibt diese Biografie an. Wie bedrückend ein unbefriedigtes Dasein gerade in der wilhelminischen Spaßgesellschaft der Jahrhundertwende war, die die Lüste und das Vergnügen schamlos überall zur Schau stellte, wird an Mariannes Seufzer-Briefen an ihre Schwiegermutter Helene deutlich. Dass konkurrierende Gelehrtenpaare wie die «Troeltschchens» anfangs genauso wenig miteinander verkehren, kann Marianne nur wenig trösten.


Politische Potenz, nervöse Reize

Wenn er sich auch dem Beischlaf entzieht – der junge Weber ist kein Kostverächter. 1895 sehen wir ihn auf einem Freiburger Hofball «40 Butterbrote aus Rache und 20 Bier» vertilgen. Zur Dialektik von Leben und Werk gehört, dass Weber zwar «Nüchternheit» zum obersten akademischen Gebot erklärt, im Leben selbst aber dem Alkohol und der Völlerei hemmungslos zuspricht. Mariannes Fastenpredigten verpuffen meist innerhalb kürzester Zeit. Vor allem enthemmt er sich aber in jungen Jahren politisch am Katheder. Radkau liest die Freiburger Antrittsrede, in der Weber in das Horn der wilhelminischen Weltmachtspolitik stößt, als politische Potenzpose.

Nur ein paar Jahre später, im Sommer 1898, wird Weber aufgrund «nervöser» Reizungen zunehmend arbeitsunfähig. Fast zwei Jahrzehnte lang lässt er sich von seinen Lehrverpflichtungen dispensieren. Webers Leben (1864–1920) fällt genau in jenes «Zeitalter der Nervosität», über das Joachim Radkau vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben hat. Der Autor ist nun ganz in seinem Element und folgt Webers Weg in die Nervenheilanstalten.

«Erlösung» findet der Soziologe erst spät bei seiner Geliebten Else – die er zuvor seinem Bruder Alfred ausspannen muss­te. Die große Rede über «Politik als Beruf» unterzieht Radkau einer intimen Lektüre und glaubt zeigen zu können, wie Webers leidenschaftliche Gedanken hier immer wieder zu Else abschweifen. Auf einem der erhaltenen Stichwortzettel spekuliert Weber über die «Legitimation», die der Mann er­findet, «dessen Liebe sich vor einer Frau ab- und einer anderen zuwendet». Den Höhepunkt erreicht Weber aber erst nach der Rede, beim gemeinsamen Liebesspiel mit Else im «Tunnel bei Bruchsal» – «hier hätte», kommentiert der Biograf, «ein künftiger Weber-Kult seinen heiligen Ort!»

All die großen Weber-Gelehrten hat Radkau in sein monumentales Sittenbild integriert. Sogar der vornehme Philosoph Dieter Henrich, der 1952 mit seiner Dissertation («Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers») eine der ersten großen Interpretationen vorgelegt hat, beugt sich, wenn man Radkau folgt, über Elses späte intime Auskünfte zu Weber. «Dieter Henrich, der Ehegatte der Enkelin Elses», lesen wir in Fußnote 707, «hält das für eine Anspielung auf eine Unfähigkeit zum Koitus.»

Was in der sublimen Welt des Geistes, der um 1900 entweder zur «Kultur» oder zur «Zivilisation» ausschlägt, allzu schnell vergessen wird, ruft Radkau in seiner Biografie neu in Erinnerung: die elementare historische Gewalt der Natur. Bis in die Textfaser sind Webers Arbeiten geprägt von seiner reizbaren, wankelmütigen Natur. In einer Doppellektüre von Leben und Werk geht Radkau diesen Spannungen in unzähligen Facetten nach. Ein Kabinettstück ist das Kapitel über Webers eruptiven Denkstil, seinen Unwillen zur stilistischen Form, von dem jeder ein Lied zu singen weiß, der einmal über der krakeligen, kaum entzifferbaren Handschrift saß.


Eine Biografie tritt über die Ufer

Was die Objektivität der «wertfreien» Erkenntnis vorgeblich nur trübt – die Emotio­nen und die Leidenschaften –, strömt so über die Hintertür des Lebens in Webers Werk wieder hinein. Raffiniert unterwandert der Biograf den sozialwissenschaftli­chen Säulenheiligen, indem er mit ihm genau jene undisziplinierten Leidenschaften verbindet, die unter Berufung auf Weber bisher aus dem asketisch rationalen Wissen­schaftsgespräch ausgeschieden wurden. Da­rin liegt der höhere subversive Reiz dieser Biografie.

Wie unlängst die Wiederentdeckung des Raumes, die der Historiker Karl Schlögel formulierte («Im Raume lesen wir die Zeit»), so ist auch Radkaus Wiederentdeckung der Natur vor allem ein Indikator. Sie demonstriert, dass die Wissenschaft ihr bes­tes enthusiastisches Erbe verrät, wenn sie sich von der sinnlichen Wirklichkeit verabschiedet. «Zu penetrant weht in den heutigen Sozialwissenschaften die pure Seminarluft», schreibt Radkau im Prolog, «in einem Maße wie noch nie ist die Fülle der Wirklichkeit, die Leibhaftigkeit der Lebens­erfahrung aus dem Wissenschaftsbetrieb verdrängt.» Radkau selbst hat sich die «Wie­dervereinigung von Geschichte und Natur» zur Lebensaufgabe gemacht. Heute stehen wir unter dem Eindruck von Wirbelstürmen und Springfluten. Unübersehbar hat der rationalisierte Zivilisationsdiskurs, der sich mit Max Weber autorisierte, die Macht und das Schicksal der Natur lange unterschätzt.

Auch diese von Assoziationen und Gedanken nur so übersprudelnde Biografie tritt über die Ufer: ein akademisches Natur­ereignis der besonders schönen Art. Nicht nur erzählt sie das aufreibende Drama von Webers Lebenskampf mit seiner reizbaren Natur. Sie ist ein einziger ökologischer Appell an die Wissenschaft, den Menschen und seine leibhaftigen Leidenschaften wieder in den Blick zu nehmen.

 

Stephan Schlak, Jahrgang 1974, ist Historiker und Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Joachim Radkau
Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens
Hanser, München 2005. 1008 S., 45 €

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