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Volkskrankheit mit Hochkonjunkur - Mal eben depressiv

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Aufgrund von Depressionen meldeten sich deutsche Arbeitnehmer 2013 rund 31 Millionen Tage krank. Milliardenkosten für die Wirtschaft sind die Folge. Muss das aber sein – und ist diese Diagnose wirklich immer nötig?

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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In diesen Wintertagen sitzen wir am Feuer und hören Geschichten von damals. Wie es war vor einem halben Jahrhundert im Hause des Urgroßvaters. Die Verhältnisse ärmlich, nur zwei Kühe standen im Stall, sehnsüchtig blickte man zum Nachbarn, der einen Traktor sein Eigen nannte. Um zu überleben, erwirtschaftete der Uropa auf Baustellen in der Umgebung ein wenig Geld. So lief es all die Jahre in dem kleinen nordhessischen Dörfchen. Und all die Jahre kam jeden Sommer der Tag, an dem der Mann nicht nach Hause zurückkehrte.

So schulterte die Urgroßmutter bei Sonnenaufgang ihre Sense und übernahm das Mähen des taunassen Grases, das sich in den frühen Morgenstunden besser schneiden ließ. Sie wendete und holte es am Abend herein. Und sie wartete – manchmal wochenlang – bis ihr Ehemann wieder heimkehrte. Dann war er zerzaust, verdreckt – und schweigsam. Nie sagte er, wohin er gegangen war. Aber so sehr sie auch schimpfte auf diesen Mann, sie ließ ihn immer wieder herein. Als gäbe es ein verschwiegenes Übereinkommen darüber, dass ihm diese Auszeit zustand. Als sei dieses Leben zu schwer, als dass er immer funktionieren könne.

Zur gleichen Zeit im Haus des Hamburger Kaufmanns saß die Urgroßmutter im Morgenrock am Telefon. Sie war zuständig für das Soziale in der Firma, kannte Ehefrauen und Kinder der 70 Angestellten, wusste von Nöten, Geburts- und Hochzeitstagen. Das war ihr Job. Ob sie es so wollte? Die Tochter erinnert sich, dass sie häufig weinte. Dass sie sich am Nachmittag stundenlang in ihr Schlafzimmer zurückzog. „Psst. Mami schläft“, hieß es dann. Und alle akzeptierten diese Pause als Institution, die in den Alltag integriert werden musste. Weil es wohl nicht anders gegangen wäre.

Zwei unterschiedliche Leben, zwei Schicksale. Und doch hätten sie heute vielleicht etwas gemeinsam. Ärzte hätte ihnen wahrscheinlich zu einer Behandlung gedrängt, ihnen ein Etikett aufgestempelt. Sie hätten den Urgroßvater im Hessischen zur Kur, die Urgroßmutter in eine hanseatische Therapeutenpraxis geschickt und beide hätten Medikamente bekommen, damit sie besser, länger, umfassender funktionieren. Aber die Zeiten waren anders.

Wirtschaftliche Sorgen bei Zunahme von Depressionsfällen
 

Heute hat die Diagnose psychischer Ursachen Hochkonjunktur. Weil die soziale Akzeptanz wächst, seitdem sich auch Prominente mit dem Leiden in die Öffentlichkeit wagen, weil Depression, Burn- oder Boreout schneller erkannt und behandelt werden. Manchmal auch voreilig. Zwei Wochen nach dem Tod eines nahen Angehörigen kann starke Traurigkeit bei einem Patienten bereits als Krankheit diagnostiziert werden, empört sich Jens Baas über die Ergebnisse amerikanischer Studien. Baas ist Mediziner und Chef der Techniker Krankenkasse (TK). Er stellte in der vergangenen Woche den Depressionsatlas für die Bundesrepublik vor.

Nach diesen neuesten Zahlen fielen im Jahr 2013 31 Millionen Fehltage aufgrund von Depressionen an. Damit gingen der Volkswirtschaft mittlere Milliardenbeträge durch die Lappen, warnt Thomas Grobe, Leiter der Untersuchung. Und die Fälle nähmen stetig zu – um 70 Prozent seit dem Jahr 2000. Anders als die klassischen Fehlzeiten wegen Rückenschmerzen oder Erkältung sei die Behandlung von Depressionen schwieriger und langwieriger und die finanzielle Bedeutung damit auch höher. Es fragt also auch die deutsche Wirtschaft besorgt nach den Ursachen für all die Traurigen in unserer ach so schönen neuen Arbeitswelt.

Neben genetischer Veranlagung beobachten die Wissenschaftler schon seit Jahren einen weiteren Faktor, den sie „Selbstbestimmung“ nennen. Wer getrieben wird von außen, ohne sein Tun selbst steuern zu können, der neigt zu Unzufriedenheit, kommt mit Stress schlechter klar und ist dadurch besonders anfällig für Depressionen. Die Wissenschaftler zeigen mit dem Finger auf Branchen, in denen Geldmangel und Zeitdruck herrschen – auf Call-Center-Mitarbeiter, auf Pfleger und Kinderbetreuer.

Es gibt allzu viele Menschen in Deutschland, die es nicht schaffen, ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen. So wie die Urgroßmutter, die sich statt als Anstandsdame in der Firma des Ehemannes ein Leben als Künstlerin gewünscht hat. Oder der Urgroßvater, der seinem Dorf lieber den Rücken gekehrt hätte, um einen Weg aus der Armut zu finden. Man würde sich wünschen, dass es inzwischen einfacher geworden wäre, sich selbst zu verwirklichen. Dass auf mühevolle Arbeit Wertschätzung und adäquate Bezahlung folgen. Und dass es möglich ist, einer Familie und einem Beruf gleichzeitig gerecht zu werden. Aber offenbar ist es das nicht.

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