Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Ein freier Mensch: Börnepreisträger Joachim Gauck.

Laudatio auf Joachim Gauck - „Dem Menschen gebührt die Freiheit“

Aus aktuellem Anlass werfen wir einen Blick in unser Archiv: Sein Leben, seine Arbeit, sein Reden und Schreiben widmen sich einer Tatsache: der Freiheit. Cicero-Chefredakteur Michael Naumann in seiner Festrede auf Börnepreisträger Joachim Gauck.

Der französische Soziologe und Schüler Henri Bergsons, Maurice Halbwachs, der 1945 im KZ Buchenwald umkam, hat den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ geprägt. Nicht individuelle Anamnese, sondern gesellschaftlich dominante Erinnerungen in den vielfältigen Formen von Geschichtsschreibung und Literatur, von Erzählungen und Erinnerungsorten oder Denkmälern prägen die moralische, die politische und in gewissem Sinn auch die ästhetische Textur eines Landes, genauer, sein Selbstverständnis, oder, mit Halbwachs gesprochen, sein kollektives Gedächtnis. Selbstverständlich zählen zu ihm auch die bildenden Künste, die Musik und der Film.

Natürlich kann eine Nation von Millionen Menschen im eigentlichen Wortsinn weder ein einzelnes Selbstverständnis, also ein kollektives Gedächtnis, noch ein kollektives Bewusstsein haben; mithin ist auch die Rede von einer nationalen Identität problematisch – aber ganz falsch ist sie, wie zu zeigen, keineswegs. „Kollektives Gedächtnis“ ist, anders gesagt, eine Metapher für den höchst komplexen Prozess, den wir auch „Kultur“ nennen könnten – am liebsten ohne das seltsame Präfix „Erinnerungskultur“. Denn Kultur ist, zugespitzt gesagt, in erster Linie Erinnerung – und ihre kreative und politische Projektion in Gegenwart und Zukunft. Die Formen und Elemente des kulturellen oder „sozialen Gedächtnisses“, wie Aby Warburg es genannt hat, sind in Deutschland seit den Studien von Aleida und Jan Assmann wieder Gegenstand akademischer Forschung geworden, in der die Rolle der Dinge, der Bilder und vor allem der Schrift im Mittelpunkt stehen. Bezeichnend für diesen wissenschaftlichen Trend ist der Sachverhalt, dass erst und vor allem in einem krisenhaften, gesellschaftlichen Milieu die Fragen nach Herkunft und Vergangenheit plötzliche akademische Aktualität gewinnen. Je unklarer die unmittelbare Zukunft zu sein scheint, umso dringender stellt sich die Frage nach unserer Herkunft. Historische Sonderausstellungen haben in Deutschland seit Jahren schon Konjunktur.

Die „ars memoriae“ hat eine Tradition, die ins 6. Jahrhundert vor Christus reicht. Sie bezeichnete die Gedächtniskunst des je Einzelnen. Jetzt aber reden wir von der Erinnerungskunst einer ganzen Gesellschaft.

„Ars memoriae“, individuelle Erinnerung, unterliegt unterschiedlichen Prozessen: Wir erinnern, was wir vergessen haben – aber meistens nur, wenn wir uns dem Vergessenen mit einer bewussten Anstrengung zuwenden. Erinnerung, in anderen Worten, beginnt mit einer ahnungsvollen Zuwendung des Bewusstseins zu seinen eigenen, gleichsam abgesunkenen Erfahrungen, die ins Gedächtnis zurückgeholt werden.

Das ganz normale Vergessen ist die eine Sache, und wir kennen sie nur zu gut. Der individuelle Vorgang von Verdrängung ist eine ganz andere: Er betrifft in den meisten Fällen schmerzhafte, beschämende oder gar strafrechtlich relevante Vorgänge. Es handelt sich also um eine Art hygienisch-neurologische Schutzmaßnahme, die in dem furchtbar koketten Couplet auf ihren Begriff kommt: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Dass dies aber nicht wirklich zum persönlichen Glück führen muss, hat bekanntlich ganze therapeutische Berufsgruppen in Lohn und Brot gesetzt – die biologischen Voraussetzungen dieser seltsamen Weise der Verdrängung sind allerdings unerforscht.

Bewusstsein als solches formiert sich, wenn es sich seiner eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit vergewissert. Für uns Erwachsene heißt das: Ich weiß, wer ich bin, wenn ich weiß, wer ich war. Die vor kurzem bekannt gewordene Entdeckung eines amazonischen Indianerstamms, der angeblich keine Worte für gestern und morgen kennt, schien eine anthropologische Sensation zu sein – bis sich herausstellte, dass diese scheinbar archaischen Menschen keine Schwierigkeiten damit hatten, das Konzept von Vergangenheit und Zukunft in einer anderen Sprache sofort zu erkennen.

Alle Gesellschaften haben seit jeher mehr oder weniger verbindliche Modi der Erinnerung an ihren Ursprung und ihre Ordnung entwickelt – von kosmogonischen und theogonischen, meist mündlich überlieferten Mythen und Ritualen bis zur Religion, und spätestens seit Herodot und Thukydides auch bis zur Geschichtsschreibung. Demokratische Gesellschaften der Moderne verarbeiten ihre wesentlichen Erinnerungen an das ordnungsstiftende Richtige in Verfassungen und in Gesetzen. Sie sind in den meisten Fällen die normative Verfestigung von erinnerten Erfahrungen und stiften selbst wieder Erinnerung. Wenn es also keine kollektives Gedächtnis, keine kollektive Scham oder Schuld im strengen Wortsinn gibt, so gibt es doch eine kollektive Verantwortung – und eine ihrer Institutionalisierungen nennen wir ordnungsstiftende Rechtsstaatlichkeit. In ihr wird Halbwachs‘ These, dass auch subjektive Erinnerung immer nur im kommunikativen Raum einer Gesellschaft möglich ist, dass es also doch ein kollektives Gedächtnis gebe, durchaus stichhaltig. Der Erinnerung wird in Gesetzen Dauer verliehen. Gesetze, anders gesagt, reorganisieren Vergangenheit im Hinblick auf ihre zukünftige Brauchbarkeit zur Ordnung einer gerechten Gesellschaft. Diese abstrakte These soll nicht davon ablenken, dass es dabei ganz und gar davon abhängt, was genau erinnert und in welcher Form es erinnert wird.

Gesetze, so lässt sich behaupten, dienen der sanktionsbewehrten Verfestigung von Erinnerungen, die bekanntlich stets dem Vergessen, der Verfälschung und Umdeutungen anheimfallen können. Sie sind soziale Bollwerke gegen das Vergessen. Ihr normativer Sinn dient nicht nur der Ordnung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch ihrer Beständigkeit in politischer Zukunft. Sie sind, um ein Wort aus dem Kalten Krieg in Erinnerung zu rufen, genauer, aus der Zeit des „Helsinki-Prozess‘“, innergesellschaftliche „vertrauensbildende Maßnahmen“, die im besten Falle ihre Legitimität dem System repräsentativer Demokratie verdanken. Doch Gesetze allein können Vertrauen nicht ersetzen, sondern bauen vielmehr auf ihm auf: Wir vertrauen darauf, dass sie eingehalten werden, von uns selbst und von allen anderen. Verkehrsampeln verkörpern diesen Sachverhalt in allen drei Farben. Und doch gibt es Gesellschaften, deren Verfassungen sehr wohl unseren Vorstellungen aufgeklärter Demokratie entsprechen, ohne dass ihre Gesetze den Versprechungen ihrer Verfassung folgen. Zu diesen Gesellschaften gehörte die untergegangene DDR.

In dem seinerzeit außenpolitisch besetzten Begriff der vertrauensbildenden Maßnahmen ist die Einsicht demokratischer Gesellschaften beschlossen, dass gegenseitiges Vertrauen ein maßgebliches Fundament aller politischen und wirtschaftlichen Existenz in Frieden und Freiheit ist.

Der Umkehrschluss leuchtet ein, dass in einem Staat, der sich bemüht, totales Wissen über die Bürger zu sammeln und zu nutzen, zumindest aus der Perspektive der Herrschenden die Kategorie des Vertrauens überflüssig geworden ist – und dass mit diesem Verlust die individuelle Entscheidungsfreiheit des einzelnen Bürgers dem allwissenden Staat ausgeliefert wird. Keiner hat das genauer zusammengefasst als Lenin mit seinem ihm zugeschriebenen Satz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Ihre dialektische Variante in dem berühmten Seufzer des Stasi-Generals Erich Mielke ist unvergessen: „Ich liebe Euch doch alle!“ bedeutete in der Praxis: „So lange ich euch unter Kontrolle habe.“

Die Zettel- und Aktenwirtschaft der Stasi gehört der Vergangenheit an. Im Rückblick können wir sie, ganz abgesehen von ihrer repressiven Nützlichkeit für die Herrschenden, als fortlaufende Geschichtsschreibung des von ihr dekretierten Klassenkampfes sehen: Frontberichterstattung bis zum Tag des endgültigen Sieges. Heute bilden ihre Aktenberge eine monumentale Erinnerungslandschaft. Aus historischer Perspektive können wir die papiernen Artefakte der Stasi als böswillige Schanzwerke gegen eine politisch ungewisse Zukunft interpretieren, als Abwehr des Neuen und Widerständigen gegen die von Orwell so genannte „ewige Gegenwart“ totalitärer Systeme. Diese „ewige Gegenwart“ manifestierte sich in der Unverrückbarkeit der Spitzenfunktionäre des Politbüros. Sie waren da, wie sie dachten, für immer und ewig.

Die Erfassung persönlichster Daten durch den Staat ist keine Erfindung des Kommunismus. An Englands Universitäten wurde der politische und private Lebenswandel mancher Studenten seit Jahrhunderten schon notiert und archiviert. Die Polizeiakten des Wilhelminismus wie auch des Dritten Reichs geben Auskunft über die unselige Tradition. Und so hat das Bundesverfassungsgericht vor fast fünfzig Jahren schon dekretiert: „Unzulässig ist es, einen Menschen zwangsweise in seiner ganzen Existenz zu registrieren und zu katalogisieren.“ Und noch klarer heißt es 1983 in Karlsruhe anlässlich der geplanten Volkszählung: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre eine Gesellschaft nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“ Der Zensus fiel damals aus.

Inzwischen hat sich die Gesellschaft an den Verlust von Privatheit, Diskretion und informationeller Selbstbestimmung in der Welt des Internets gewöhnt. Der Staat sammelt Daten en masse und wird in dieser Sammelwut nur noch übertroffen vom digitalen Kapitalismus und seiner zielgruppenspezifischen Warenwirtschaft. Wer sich mit der Sammelwut der Stasi beschäftigt hat, den bedrängen gewisse Vorahnungen; denn, mit Aristoteles gesprochen, „wer die Verfassung liebt, darf ihre Gefährdungen übertreiben.“ Kurz gesagt: Auch wir sind aufgefordert, die Erfahrungen totalstaatlicher Erfassung von Bürgern, ihrer Haltungen und Verhaltensweisen, die im vorigen Jahrhundert das Leben von Millionen Menschen bedrängte und deformierte, wenn nicht gar zerstörte, zu erinnern und auch in ihren wohlgemeinten Ansätzen zu bekämpfen. Der Staat, der unter dem neutralen Verwaltungs-Sigel der „Zuständigkeit“ seine Macht bis in den letzten Winkel der Privatheit erweitert, fühlt sich am Ende auch für die Freiheit des Einzelnen zuständig und droht sie zu verstaatlichen. Das wäre ihr Ende.

Es gibt wohl kein anderes Gesetz in der Geschichte Deutschlands, in der eine gemeinsame Schnittmenge zwischen persönlicher, individueller und politischer und juristischer Erinnerung so genau beschrieben wird wie im so genannten „Stasiunterlagen-Gesetz“. Im Gesetzes-Entwurf der Volkskammer vom Februar 1991 heißt es präzise und kompakt im Paragraph 1: „Zweck des Gesetzes ist die politische, historische, juristische und persönliche Aufarbeitung der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit zu gewährleisten und zu fördern.“ In seiner Endfassung vom 20.12. 1991, verabschiedet vom Bundestag, ist diese kompakte Zweckbestimmung aufgelöst in mehrere Absätze – nun steht die persönliche Erinnerungsarbeit an erster Stelle: Das Gesetz dient inzwischen dazu, „dem einzelnen Zugang zu den vom Staatssicherheitsdient zu seiner Person gespeicherten Informationen zu ermöglichen, damit er die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf sein persönliches Schicksal aufklären kann.“ Erst an dritter Stelle folgt die „historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes“ als Gesetzeszweck. Diese Akzentverschiebung hatte politische Gründe.

Es ist gleichwohl ein Gesetz der Erinnerung aus dem Geist des Rechts, der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit – und als solches wesentlich relevanter als zum Beispiel die Bismarck-Denkmäler des 19. Jahrhunderts. Um Ian Assmann zu zitieren: „Gerechtigkeit stiftet einen ‚Raum der Erinnerung‘, in dem heute gilt, was gestern galt, und morgen gelten soll. In diesem Raum gilt vor allem anderen das Gesetz: ‚Du sollst nicht vergessen!‘ Das ist das stärkste und ursprünglichste Inzentiv der Erinnerung.“ Und das galt eben nicht nur für altorientalische Reiche, sondern gilt noch immer.

Die seinerzeit so genannte „Gauck-Behörde“ entstand aufgrund der Initiativen von Bürgerkomitees der untergehenden DDR. Ihre Bemühungen unterlagen nicht philosophischen oder psychoanalytischen Reflexionen über den Sinn von Erinnerung, sondern verdankten sich den konkreten Erfahrungen von Vertrauens- und Freiheitsverlusten. In der politischen Begründung des Volkskammer-Gesetzes heißt es: „Für die Entwicklung einer demokratischen Kultur des wiedervereinigten Deutschlands ist die öffentliche und wissenschaftlich Auseinandersetzung mit der ‚Stasi-Vergangenheit‘ eine unbedingte Voraussetzung. Es ist eine trügerische Hoffnung, die Probleme der Vergangenheit würden sich durch Vergessen lösen. Die aktive Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des MfS und dem eigenen Handeln ist notwendig. Sie kann zu einer Quelle der Demokratisierung werden, indem sie selbstbewusstes Handeln der Bürger fördert und die Ablehnung von staatlichem Machtmissbrauch stärkt. Durch eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit lässt sich ein politisches Rechtsbewusstsein entwickeln, dessen schwache Ausprägung undemokratischen Herrschaftsformen lange genug Vorschub leistete.“

Als Joachim Gauck und seine Mitarbeiter vor zwanzig Jahren die Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit vorfanden, entdeckten sie sechs Millionen Personendossiers; zwei Millionen betrafen westdeutsche Bürgerinnen und Bürger. Das allgemeine Entsetzen war groß – und gewiss war es größer im Westen als im Osten. Denn in der DDR war die allmächtige Zuständigkeit der Stasi ein allgemein bekannter Sachverhalt. Unvergessen ist die damalige Diskussion über den Umgang mit diesen kilometerlangen Aktenbeständen staatlichen Machtmissbrauchs. Die Frontlinien verliefen quer durch die Medien und Parteien. Dass die Nachfolgepartei der SED keinen Wert auf die Zeugnisse ihrer Herkunft legte, leuchtete ein. Aber auch in liberalen Blättern wie der ZEIT ließen sich Argumente gegen die Aufdeckung der eine ganze Gesellschaft durchwaltende Unterdrückungsbürokratie finden. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hatte die junge Bundesrepublik gezögert, die Verstrickung ihrer Judikatur in die Verbrechen des NS-Regimes zu durchleuchten. Von der Verantwortung scheinbar ehrenwerter oder schuldfreier anderer Institutionen, von der Bahn über die Post und die Polizei, vom Finanzministerium bis zum Auswärtigen Amt, von den Universitäten bis hinab zu den Katasterämtern, von der Wehrmacht ganz zu schweigen – man wollte allzu lange über die Vergangenheit den Schleier des Vergessens breiten. Und nun sollte auch noch die nächste peinsame Selbsterforschung das Gewissen einer ganzen Nation beunruhigen.

Joachim Gauck hat die psychologischen Mechanismen der Verdrängung in seinen Autobiographie präzise beschrieben: „Wie Individuen dem Impuls erliegen, durch selektives Erinnern den Schattenseiten der Vergangenheit zu entfliehen, können auch Kollektive jene Seiten des Unrechtsstaates auszublenden versuchen, die Erschrecken, Scham, Trauer und Reue auslösen und bei den Opfern auch Gefühle der Kleinheit und des ohnmächtigen Verlorenseins hervorrufen. Die Nostalgie schafft sich beständig eine Scheinwelt.“ Als unterhaltsamer Film ist diese Scheinwelt in „Goodbye Lenin“ zu besichtigen. Auf die Frage, was wohl aus den rund 500.000 Demonstranten geworden sei, die noch im Frühling 1989 fröhlich winkend an Erich Honecker und dem versammelten Politbüro der SED vorbei marschierten, antwortete der Produzent des Films, dass sie nun im Kino säßen, und zwar dreimal täglich. War es Zynismus oder die Wahrheit? Auf alle Fälle war es ein Geschäft.

Die Bonner Politik war gegen die Öffnung der Stasi-Unterlagen. Der damalige Ministerialrat und spätere Präsident des Verfassungsschutzamts, Eckart Werthebach, empfahl dem letzten Innenminister der DDR „eine differenzierte Vernichtungsregelung“ der Stasi-Unterlagen. Zwei Jahrzehnte später sollte er – vergeblich - die Zusammenlegung der Kriminalämter des Landes befürworten. An die Opfer wurde in jenen Jahren nach dem Mauerfall in Bonn nicht gedacht; und hätten sie selbst nicht die Stasi-Zentralen gestürmt, hätten die revolutionären Mitglieder der Runden Tische und ostdeutschen Bürgerkomitees nicht die Initiative ergriffen – dann hätten die Reißwölfe der Modrows und Diestels, der Schnurs, de Maizieres und Stolpes ganze Arbeit geleistet.

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte der Rowohlt Verlag Joachim Gaucks erstes Buch „im Westen“ unter dem Titel „Die Stasi-Akten“. Man glaubt übrigens nicht, wie vielfältig die Mitarbeiter und IMs der Stasi den Namen „Rowohlt“ verballhornen konnten. Zur Grammatik des Totalitarismus gehört wohl die Faustregel, dass Linientreue und Bildungsferne einander ebenso bedingen wie Eitelkeit und Verdienstmedaillen.

Am 3. Oktober 1990 war Joachim Gauck als Mitglied der Bürgerbewegung „Bündnis 90“ der „Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die personenbezogenen Daten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes“ geworden. Er war, wie ich übrigens auch, ein Kind der DDR. Sein Vater war ein nach Russland verschlepptes, ganz und gar unschuldiges Opfer der sowjetischen Rechtswillkür der Besatzungszeit geworden. Die Stasi unter Erich Mielke blieb über Jahrzehnte hinweg als so genannter „Schild der Partei“ derselben Tradition des NKWD verpflichtet. In einigen Verhörzimmern der Stasi blieb auch nach Stalins Tod das Bild des Tyrannen hängen. In Walter Jankas Memoiren können wir lesen, wie Mielke in der Gefängniszelle des Aufbau-Verlegers und Spanienkämpfers erschien, um ihn persönlich zusammenzuschlagen.

In Gaucks Worten: „Diejenigen, die in den stalinistischen Nachkriegsjahren Jugendliche oder Erwachsene waren, haben gelernt, dass dieser Staat nicht mit sich spaßen ließ, dass er unberechenbar war wie ein absoluter Herrscher und jeden Bürger am helllichten Tag aus der Mitte des Lebens herausreißen, foltern, verurteilen oder sogar töten konnte.“

Dass in den Jahren nach dem Mauerbau vor 50 Jahren die Verhältnisse sich änderten, dass ein zivilisierterer Umgang staatlicher Behörden mit Dissidenten und Außenseitern vorherrschte, gehört zu den Mythen der Wiedervereinigung, die von den Parteigängern des Regimes bis heute gepflegt werden. Doch allein im Regierungsbezirk Potsdam sind 150 Menschen bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen. Die Stasi wuchs von Jahr zu Jahr zum Moloch an. Über 100.000 angestellte Mitarbeiter des MfS widmeten sich Ende 1989 hauptamtlich der Überwachung und eben auch der Zerstörung von ungezählten Lebensläufen. Noch einmal in den Worten Joachim Gaucks: „Diejenigen, die in Opposition zur SED-Führung standen, die den Mut zur Kritik und zum politischen Engagement aufbrachten, mussten dafür bis auf wenige Ausnahmen große Nachteile und oftmals persönliches Leid auf sich nehmen. Was Erich Loest, Reiner Kunze, Freya Klier, Jürgen Fuchs oder Wolf Biermann in Worte fassen konnten, ruht bei vielen immer noch unbewältigt als Stein in der Seele.“

Die furchtbare Erfahrung eines Hans-Joachim Schädlich, der entdecken musste, dass er jahrelang vom eigenen Bruder bei der Stasi denunziert wurde, die Tatsache, dass die Stasi sich in tausenden Familien und selbst in Kirchen einnisten konnte, ist in dem Film „Das Leben der Anderen“ zur Sprache gekommen. Wer sich allerdings mit PDSnahen Besuchern des Films unterhielt, hörte nicht selten die vage Behauptung, es sei alles ganz anders gewesen. Heimito von Doderer nennt diese Form verkürzter Erinnerung „Aperzeptionsverweigerung.“ Sie dient dem durchaus verständlichen Bemühen der Selbstentlastung von einer ganze anderen Erfahrung, die Joachim Gauck im besagten Buch kurz und knapp beschreibt: „In der untergegangenen DDR sind zu viele Menschen zu viele ungeprüfte Kompromisse eingegangen.“

Dass die Formen dieser Aperzeptionsverweigerung ganz groteske Formen annehmen konnte, die weit über die Leugnung der Mitarbeit als IM hinausgingen, mag ein Zitat des begabten Dichters Peter Hacks bezeugen: „Die Stasi wusste von allem und machte von nichts Gebrauch. Die Stasi tat doch keinem was, das wird immer vergessen. Es wird immer geschimpft, dass sie lauschte und spionierte, aber sie tat keinem was. … Ich rede nicht vom Jahr 1950, aber in den ‚golden sixties‘ war es in der DDR nicht möglich, ins Gefängnis zu kommen. Sie konnten machen was sie wollten, sie kamen nichts ins Gefängnis.“ Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Hacks je in Gefahr geriet, im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen zu übernachten, egal, was er machte oder schrieb. Jedenfalls findet sich in den Stasi-Akten des IM Martin, alias Hermann Kant, keine der typisch abfällig-gehässigen Kommentare über ihn, mit denen Kant auch seine eigenen Freunde, zum Beispiel Stephan Hermlin, denunzierte.

Hermann Kant wiederum, von 1978 bis 1990 Präsident des Schriftstellerverbands der DDR und schließlich auch ZK-Mitglied, stellt sich in seinen Büchern, die nach der Wende erschienen, als Genie der Anpassung, der Selbstverleugnung, der Wahrheitsverdrehung und als Prototyp jener ungezählten Stasi-Spitzel heraus, die ihr eigenes Leben im Halbschatten der Mielke-Behörde, aber im Licht eines gelebten Antifaschismus im biographischen Rückblick neu interpretieren. Wer sich der Wahrheit dieses klagefreudigen Funktionärs annähern möchte, ist immer noch gut beraten, Karl Corinos Buch „Die Akte Kant“ zu lesen.

Heute wohnt der klassenkämpferische Literat in einem mecklenburgischen Flecken und beklagt die verlorenen Freundschaften all jener, die er verraten hat: „Also, was soll’s,“ sagt er, „ich bin ohne Bitternis. Manchmal bin ich zwar verzweifelt, manchmal fühle ich mich derart elend, dass ich irgendetwas unternehmen muss, um mich von meinem Elend zu erlösen.“ Die Bitternis seiner Opfer scheint ihn nicht zu interessieren und das Elend, das er anderen bereitet hat, wird er abstreiten für immer. Selbst den Einmarsch der Roten Armee in die CSSR mochte er noch in diesem Jahr nicht verurteilen. Zwar sei er „eine Katastrophe“ gewesen, „allerdings wäre ohne ihn schon viel früher alles erledigt gewesen.“ Was dieses „alles“ in Wirklichkeit war, hat der Dichter nie verstanden. Wir müssen uns Hermann Kant und seinesgleichen als Angehörige jenes Stamms der Amazonas-Indianer vorstellen, denen die Wahrheit der eigenen Vergangenheit gänzlich unbekannt ist – mit einer anthropologischen Abweichung allerdings: Der eigentliche Plausibilitätspunkt ihrer politischen Existenz war das Versprechen einer Zukunft, die sich als Fünf-Jahres-Plan immer wieder und immer vergeblicher erneuerte, während im Zentralkomitee die Statistiken des Fortschritts gefälscht wurden.

Was aber waren die Alternativen zur angepassten Existenz in der DDR? Es gab sie – abgesehen von der Flucht in den Westen, die bis zum Mauerbau und danach von drei Millionen Menschen gewählt wurde.

Joachim Gaucks Erinnerungen unter dem Titel „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ legen Zeugnis ab von einem Leben in bewusstem, christlichen Widerstand gegen Anpassung und gegen die Verlockungen der so genannten „Nischen-Existenz“, die seinerzeit noch von Günter Gaus als durchaus praktische Variante jenseits offizieller Indoktrination und alltäglicher Verpflichtung zu staatlichen Treuebekundungen gepriesen wurde. Es gab sie durchaus, und sie war ein Erholungsraum, gewiss, aber auch er sollte schließlich allzu eng werden.

Was im liberalen Westen noch in den 80er Jahren als „blinder Antikommunismus“ denunziert wurde, war in Wirklichkeit ein sehender – Joachim Gauck und viele andere haben ihn mit offenen Augen vorgelebt: Die Alltagskosten dieser widerständigen Haltung reichten tief in das eigene Familienleben herein; dass dem Repressionsapparat jemals die Rechnung aufgemacht werden könnte, war jahrzehntelang nicht abzusehen. Und dennoch, ich sagte es, in jenen Nischen gab es ein Leben, in die man sich aus dem Reglement des Regimes zurückziehen konnte, wie Joachim Gauck schreibt: „in Freundeskreise, in Gemeinden, in Künstlerzirkel, in Abrisshäuser, auf das Land oder in kulturelle Inseln der großen Städte. Nur so wird verständlich, warum der kleine Spielraum und die kleinen privaten Freiheiten, die am Status unserer generellen politischen Abhängigkeit und Ohnmacht nicht rütteln konnten, doch eine große Freude, viel Wärme und Nähe in uns auszulösen vermochten – eben jene Intensität des Erlebens, die wir später in der großen Freiheit vermissten.“

Der Pfarrer Joachim Gauck war, wie anders, Objekt der Stasi. In seinen Akten konnte er später lesen, dass er ein „unbelehrbarer Antikommunist“ sei. „Die besondere Gefährlichkeit,“ so notierte einer der fleißigen Stasi-Offiziere, „liegt in der zielgerichteten Breitenwirkung, die er als Stadtjugendpastor auf die Kirchenjugend des Kirchenkreises Rostock-Stadt hat, sowie in seinem anmaßenden und frechen Auftreten.“ Frechheit, wer will das bestreiten, gehört allerdings nicht mehr zu den Stärken unseres öffentlichen Diskurses – man wünscht sie sich manchmal doch herbei.

Dass die Kirche der DDR der einzige Ort war, in dem die Staatsmacht – trotz vieler Anstrengungen – an ihre Grenzen stieß, ist in den Jahrzehnten nach der Wende fast vergessen. Doch, in den Worten des Pfarrers Gauck, die Kirche war „insofern oppositionell, als sie die einzige eigenständige und unabhängige, dem Zugriff von Staat und Partei entzogene Institution war, der einzige Ort, wo ein offenes Gespräch möglich war, wo Themen und Meinungen weder tabuisiert und noch zensiert wurden und eine Erziehung zum unabhängigen Denken und Handelns erfolgte.“ Es wäre wohl theologisch verwegen, dieses kritische Milieu in einen triftigen Zusammenhang mit den Glaubensinhalten des Protestantismus selbst zu bringen, wenngleich sein Name und seine Herkunft selbst noch den Nimbus des Unangepassten und des Widerspruchs gegen herrschaftliche Dogmen transportiert. Wohl aber gab es in den Kirchen einen Kristallisationspunkt des Widerstands, der im Glauben selbst beschlossen liegt: Wer, wie Joachim Gauck und viele andere eben auch, im Christentum eine höhere Autorität als eine staatliche erlebt und lebt, ist womöglich dem ideologischen Zugriff einer politischen Religion entzogen, deren Rituale und Versprechungen sich tagtäglich an den Tatsachen ihres realen Versagens messen muss. Anders gesagt: Die seelischen Trostangebote des Glaubens dürften größeren inneren Halt angeboten haben als die Leitartikel des „Neuen Deutschland“. Dass sowohl die jüdische wie die christliche Religion ihren historischen Ursprung hatten im Widerstand gegen die sie umgebende Kulturen sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Der Sachverhalt, genauer, der Stein des Anstoßes in jener fernen Vergangenheit, ist klar und deutlich in Großschrift in jüdischen Bibeln festgehalten: „Höre, Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einzig.“

Und noch einen Vorteil hatte die protestantische Kirche der DDR anzubieten: Hier durfte selbst an Gott und seiner Gnade gezweifelt werden; für alle politische Religionen des 20. Jahrhunderts hingegen ist Zweifel Anathema. Zumindest ihrem Gründungsvater Karl Marx war das bekannt, als er bei Gelegenheit bemerkte, er selbst sei kein Marxist. Ein genialer Rechthaber war er allerdings doch.

Es lohnt sich, nach all‘ den Jahren heute noch aus einer Predigt Gaucks auf dem Rostocker Kirchentag von 1988 zu zitieren, da sie den Geist und die Aufbruchsstimmung der DDR in den letzten Jahren ihrer unseligen Existenz zur Sprache brachte:

„Wenn Hoffnung echt ist, riskiert sie etwas. Nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. Eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die Ruhe gegenüber allem Unrecht geführt hat! Die etablierte Christen- und Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. Sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest … nehmen wir Abschied vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. Also: Die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!“

Joachim Gauck, so kann man hören, sei ein Freiheits-Pathetiker. Pathos hieß in der antiken Rhetorik die Kunst, mit Leidenschaft zu überzeugen. Es leitet sich allerdings vom Wort „pathein“ ab – also von „leiden.“ Anders gesagt: Wer Freiheit ein halbes Leben lang vermissen musste, darf sie mit Leidenschaft preisen, da ihre schmerzliche Abwesenheit als erlebte Unfreiheit, eben als erinnertes Leiden das Pathos diktiert. Wenn der Staat, so erklären Gaucks Reden, die Zuständigkeit für das ganze Leben seiner Bürger an sich zieht, droht der Freiheit des einzelnen Menschen große Gefahr. Oder, in seinen Worten: „Gib mir deine Freiheit, ich gebe dir ein Ziel, den Sinn deines Lebens, du darfst die Zuständigkeit für dein Leben abgeben.“

Wir leben in einer Zeit, da die Strahlkraft freiheitlicher, repräsentativer Demokratie mitsamt ihren parlamentarischen, pluralistischen Institutionen zu verblassen droht. Der Rückzug der Bürger in privates Glück, aber auch in politische Resignation ist im vollen Gang. Besorgniserregend ist der Rückgang der Wahlbeteiligung, bestürzend das ethische Verhalten mancher Mitglieder der Wirtschaftselite, völlig neu die Veränderung unseres Kommunikationsverhaltens, schier undurchschaubar die Komplexität des globalisierten Kapitalismus – die Hektik unserer Regierung zeugt von enormer Nervosität und innerer Ziellosigkeit. Dass in solchen Zeiten die Sehnsucht wächst nach einem charismatischen Führer, der einfache Wege aus dem Labyrinth der seelischen, ökonomischen und wirtschaftlichen Nöte zu kennen vorgibt, sollte uns mit Besorgnis erfüllen. Denn das Erste, was auf diesem Weg verloren ginge, wäre die Freiheit: So viel zumindest sollten wir aus der Geschichte gelernt haben.

Joachim Gauck gebührt dieser Preis, weil sein Leben, seine Arbeit, sein Reden und Schreiben einer Tatsache gewidmet ist, die Leszek Kolakowski einmal auf einen unumstößlich wahren, einfachen Satz gebracht hat: Dem Menschen gebührt die Freiheit. Da vom Erinnern so viel die Rede war, sollten wir Joachim Gauck dafür danken, dass er uns nicht erlaubt hat, diese Wahrheit zu vergessen. Ein Held wollte er nicht sein, sondern ein freier Mensch, und der ist er geblieben. Bundespräsident kann er immer noch werden.

Michael Naumann, 1. Juni 2011

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.