Ratgeber - Das Leben, ein Minenfeld oder Lob der Tücke

Adam Soboczynski schlägt nach in Baltasar Graciáns «Hand-Orakel» und gibt Ratschläge für die Gegenwart: Wie die nächste Gehaltsverhandlung bestreiten? Wie verliebte Frauen abwehren?

Wer auf der Suche nach einem Ratgeber durch die Buchhandlung streift, braucht in der Regel schon Rat, um überhaupt den richtigen zu finden. Nicht nur, dass sich um jeden beliebigen Lebensbereich – Beruf und Recht, Zeitmanagement und Kinder­erziehung, Gesundheit und Ernährung, Liebe, Sex und Zärtlichkeit – schriftliche Expertisen ranken. Nein, auch wer ganz sicher weiß, in welchen Dingen er Beratungsbedarf hat, muss aus einer Unzahl von Büchern wählen, die jeweils erklären, «Wie Sie überzeugend wirken» oder «Wie Sie lernen, Schüchternheit und Angst vor dem Flirten mit einfachen Übungen erfolgreich selbst zu überwinden». Erst auf den zweiten Blick, wenn man den Wald vor lauter Bäumen wieder sieht, ahnt man, dass all die Ratgeber so unterschiedlich nicht sein können. Alle versprechen sie ein Wissen, das nicht ohne weiteres zugänglich ist (sondern erst ab 8,95 €). Alle schreiben einen mehr oder weniger steinigen Weg vor, bis das Ziel der Vervollkommnung erreicht ist. Fast alle empfehlen, möglichst eins mit sich selbst zu werden: «Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest», «So bin ich eben! Erkenne dich selbst und andere», «Simplify your life».

In diesem Sommer erscheint ein Buch mit Empfehlungen wie diesen: «Niemals perfekt scheinen», «Auszuteilen verstehen», «Einzustecken wissen», «Witz zeigen», «Vertrauen erzeugen», «Mit Bildung glänzen», «Einen Kompromiss vortäuschen», «Höflichkeiten austauschen», «Peinlichkeiten verkraften», «Sich selbst belügen», «Dünn sein», «Über Bande spielen», «Seine Meinung ändern». Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem Buch um einen Ratgeber, denn all diese Empfehlungen werden dem Leser nachdrücklich ans Herz gelegt. Doch sollte das Buch in weniger gut sortierten Geschäften tatsächlich ins selbe Regal wie die handelsübliche Ratgeber­ware gestellt werden, es wäre dort ein Monstrum. Schon äußerlich, weil es keinen Umschlag aus Pappe hat, sondern harte Buchdeckel, starkes Papier mit bordeauxroten Rändern und eine edle Typografie. Und weil es seine Expertise nicht auf ein Feld beschränkt, sondern mit der Liebe und dem Beruf, mit Öffentlichem und Privatem ein ganzes Menschenbild skizziert. Schließlich, weil es seinen Lesern eben nicht rät, zu sich selbst zu kommen – sondern sich gründlich zu verstellen.


Wie sich durchsetzen? Immer mit einem Lächeln

«Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung» von Adam Soboczynski ist ein Handbuch der Inszenierung, der Maskerade, der Täuschung, des strategischen Handelns. «Nie sind wir bei uns selbst», heißt es da, «die Schöpfung, seit wir den Sündenfall erlitten, ist reines Welttheater.» Nicht, dass der Autor all die Tricksereien, von denen er berichtet, um ihrer selbst willen anpreisen würde; er hält sie schlicht für unausweichlich. Schon der allmorgendliche freundliche Gruß, der dem heimlich verachteten Kollegen gilt, ist Verstellung: «Ohne Höflichkeit, die unsere Leidenschaften dämpft, die den Alltag mit sanften Lügen umspannt, ohne Triebhemmung, ohne auferlegte Distanz wären wir so unverstellt gefährlich, wie es nur Tiere sind.» Wenn es sich beim Homo sapiens also ohnehin um ein Maskenwesen handelt, ist er gut beraten, sich zum Virtuosen der Verstellung zu mausern. «Wie sich verhalten, um sich durchzusetzen? Immer mit einem Lächeln.»

Es mag Menschen geben – Soboczynski nennt sie Anhänger des «alten Wahrhaftigkeitskults» –, die derlei als Propaganda für die Falschheit missbilligen. Doch folgt man dem Autor, so verkennen diese vermeintlich Aufrechten nicht nur das Wesen des Menschen, sondern auch eine ehrwürdige philosophisch-literarische Tradition: die alteuropäische Moralistik. Baldassare Castiglione und Niccolò Machiavelli, die im 16. Jahrhundert kanonisch festschrieben, wie sich «Hofmann» und «Fürst» am klügs­ten zu verhalten haben, werden zitiert; wir begegnen Montaigne, La Rochefoucauld und vor allem dem spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658). «Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen», heißt es in dessen «Hand-Orakel», das Arthur Schopenhauer 1832 übersetzte. «Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen.» Und Adam Soboczynski schreibt heute: «Was ist das Leben? Es ist ein Minenfeld. Was die Verstellung? Bedingung unseres Aufstiegs. Was ist die Liebe? Die schönste aller Täuschungen.» (Bezeichnend, dass die deutschen Dichter und Denker kaum etwas zu jener Tradition der Moralisten beizutragen wussten – mit Ausnahme jenes soziologisierenden Werkes «Über den Umgang mit Menschen» des Freiherrn Knigge. Und dieser dürfte bis heute keine Grabesruhe finden, weil sein Name inzwischen nur mehr klingt wie ein anderes Wort für altbackene oder, was in diesem Fall dasselbe ist, neumodische Benimmfibeln.)

Formbewusstsein muss nicht schnöselig sein

Das «Café Einstein» auf dem Boulevard Unter den Linden, meinen manche, ist der einzige Ort in Deutschland, wo jene Gesellschaft sich trifft, die einmal als «Berliner Republik» beschrieben worden ist: eine neue Elite von Politikern, Lobbyisten und Wirtschaftsleuten, Schauspielern und Meinungsmachern. Adam Soboczynski – 1975 in Polen geboren, 1981 als Schulkind nach Deutschland gekommen, heute Redakteur beim «Zeit»-Magazin, Literaturwissenschaftler, Verstellungskünstler – sollte sich hier wohlfühlen, auf diesem Spielfeld des Sehens und Ge­sehenwerdens. Doch er hat einen Platz draußen gewählt, wo die Touristen sitzen, verdeckt hinter einem Blumen­kübel. «Hier können wir in Ruhe reden», sagt er.

Ob er mit seinem Buch nicht offene Türen einrenne? Offene Türen, nachdem vor einigen Jahren ein äthiopischer Prinz den Deutschen in seinem gleichnamigen Buch «Manieren» beibringen wollte, nachdem, vor inzwischen bald einem Jahrzehnt, ein paar Popliteraten Meinungslosigkeit und eine dekadente «Tristesse Royal» propagierten? «Mein Buch», entgegnet Soboczynski, «ist kein Buch für eine bestimmte Schicht, der Begriff Elite ist mir suspekt, und es ist auch kein Berlin-Buch. Nichts dagegen, wenn auch in Deutschland ein Bewusstsein für Formen im Umgang zwischen Menschen wieder erwacht. Wohlverstandene Form ist nicht schnöselig. Allerdings habe ich nur wenige Texte von Stefan Kracht und diesen Leuten gelesen.»

Christian Kracht, so heißt einer jener tristen Pop-Royalisten. Ob Soboczynski dessen richtigen Vornamen nicht kennt oder nicht zu kennen vorgibt, ist einerlei: Er ist eher in der Roman-Literatur des 19. Jahrhunderts zu Hause. Oder im Werk Heinrich von Kleists. «Kleists Modernität speist sich paradoxerweise aus voraufklärerischen Verhaltensmustern der Verstellungskunst, der Lüge, des höfischen Spiels», so steht es in Soboczynskis «Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800», einer philologisch akribischen, dabei aber elegant formulierten Studie, von der die Thesen in «Die schonende Abwehr verliebter Frauen» erkennbar zehren.
 

Mit der eigenen Kompliziertheit kokettieren

Wenn Kritik nicht zuletzt darin besteht, den kulturellen Ort eines Buches auszumachen, haben die Kritiker es mit diesem Band ebenso schwer wie die Buchhändler auf der Suche nach dem passenden Regal: ein Ratgeber, der den praxisorientierten Lesern allerdings verschweigt, wie genau sie seine Ratschläge im echten Leben verwirklichen könnten. Ein Kompendium, vollgesogen mit historischer Weisheit – und doch so leicht, dass man ihm die Gelehrsamkeit kaum anmerkt. Eine Anleitung zum Unmoralischsein – aber eine «moralistische», insofern sie ein Sittenbild der Gegenwart skizziert; keine Ethik, eher eine spielerische Verhaltenslehre, eine Ethologie. Und bei alldem sträubt sich das Buch dagegen, als reines Sachbuch durchzugehen.

Adam Soboczynski hat jede seiner 33 Maximen in eine Geschichte eingewickelt. Die Chirurgin Maria trifft Andreas, einen alten Freund, der sie noch immer begehrt. Ihm gelingt es, interessiert zu blicken (gemäß Maxime 4), als sie von ihren gegenwärtigen Liebesverstrickungen berichtet – und er gewinnt sie wieder. Friseur Erik, Anfang vierzig, lädt zur Einweihungsfeier seines neuen Salons, ohne allzu sehr zu protzen (Maxime 6: sich zumeist bescheiden zeigen) – und sein Geschäft boomt dermaßen, dass es eng wird für die Konkurrenz im Viertel. Stephan Karsts etwas kleinbürgerliche Mutter bewegt ihren Sohn zum überfälligen Besuch im Elternhaus in der rheinischen Provinz, indem sie ihm ein schlechtes Gewissen macht (Maxime 11: hin und wieder verletzt wirken). Der Maler David Schweikert verbringt eine Nacht mit der Kunsthistorikerin Annette Kirchmann und stilisiert sich dabei (Maxime 22: mit der eigenen Kompliziertheit kokettieren) zum düsteren Außenseiter – so lassen sich verliebte Frauen einigermaßen schonend abwehren.

Ein unbeholfener Verpackungszauber

All diese ungezählten Figuren, oder doch fast alle, begeg­nen einander im Laufe des Buches. Als würde er das Geschehen vom Hubschrauber aus beobachten, steuert ein allwissender Erzähler seine Short Cuts. Andreas wird später mit der Chirurgin Maria ein Kind haben, wie er Anja auf einer Party erzählt. Anja wiederum, soeben bei einem Meinungsforschungsinstitut betriebsbedingt gekündigt, ohrfeigt ihren Freund Timo auf der nämlichen Party (weil sie Maxime 16 nicht beherrscht: zum rechten Zeitpunkt das Fest verlassen). Timo wiederum eröffnet ein Café für die Mütter des Viertels, in dem Stephan Karst, eigentlich Architekt, als Kellner anheuert. In diesem Café lässt sich Stephan, ganz zum Schluss, von einer Frau verführen, zu deren Beschreibung ihm das alte Wort Anmut einfällt – ohne Zweifel die antrainierte Anmut einer Verstellungskünstlerin (nach Kleist), und keine naturwüchsige (wie Schiller sie erträumte).

Überhaupt benutzt dieser Erzähler ein eigentümlich historisierendes Deutsch. Wörter wie «Anmut» gehen ihm ebenso selbstverständlich über die Lippen wie das Vokabular der digitalen Kommunikationstechnik. Er baut immense, aber geschmeidig lesbare Satzgefüge, viele Dia­loge gibt er indirekt wieder, mühelos gleitet er von seinen Maximen zu seinen Figuren und wieder zurück. Es ist nicht zuletzt diese gottgleiche Erzählhaltung, die eine sanfte Ironie erzeugt: In einer Welt filigraner Unsicherheit darüber, wie sich klug zu verhalten sei, schwingt einer sich zur auktorialen Setzung auf. An diesem Buch bleibt keines der gewohnten Etiketten haften; es ist ein philosophierender Ratgeber-Erzählungsband, ein kleines, leichtes Kunstwerk.

Schade nur, dass von all den Facetten des Buches es nur eine aufs Cover geschafft hat. Dort ist nur die erste Hälfte des fabulösen Titels «Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung» abgedruckt. Ein eher unbeholfener Verpackungszauber: Liebesratgeber, so wird sich der Verlag gedacht haben, finden mehr Käufer als Gracián-Adaptionen. Doch authentisch zu wirken, lernt man in diesem Buch (Maxime 5), ist auch im Marketing nicht falsch: «Einen Zauberer, dessen doppelte Böden wir erspähen, belächeln wir mitleidig.»


Die Chefs lavieren wie die prekären Existenzen

Beim Kaffee spricht Adam Soboczynski am liebsten über einen weiteren, einen letzten Aspekt seines Buches. «Es ist der Versuch», sagt er, «die Umbrüche der Globalisierung außerhalb der rein wirtschaftlichen Zusammenhänge zu beschreiben: als Wandel unseres Affekthaushalts.» So
wäre dieses Buch, neben allem, was es ohnehin schon ist, auch eine Zeitdiagnose. Es sind, so die These, die verschärften Wettbewerbsbedingungen seit den neunziger Jahren, die das Wissen von vorgestern, aus dem Zeitalter des Barock, so aktuell machen. Auf sich allein gestellt, kommt der heutige Mensch besser durchs Leben, wenn er seine Affekte und Leidenschaften kontrolliert und ein hohes Bewusstsein von wechselnden sozialen Rollen und Konstellationen hat: Die «Rüstung des alten Höflings» erstrahlt in neuem Glanz. «Nehmen wir das Beispiel des Manager-Chefs von heute», sagt Soboczynski. «Der hat, in einem Unternehmen mit den sprichwörtlich gewordenen flachen Hierarchien, mehr mit dem Menschen Graciáns gemeinsam als mit seinem direkten historischen Vorgänger, dem Patriarchen-Chef, der relativ einsam oder willkürlich entscheiden konnte.»

Und in der Tat lavieren die Vorgesetzten in «Die schonende Abwehr verliebter Frauen» nicht weniger als die prekären Existenzen. Der dienstälteste Makler eines Immobilienunternehmens bootet den jüngeren Konkurrenten vermeintlich aus, indem er dessen attraktiven Auftrag übernimmt – um schließlich an eben jenem Auftrag beruflich zu scheitern. Der Winzer fährt seinen Untergebenen zunächst unflätig an, besitzt dann aber doch die Größe, sich zu entschuldigen – und nimmt den Untergebenen umso mehr für sich ein. Der ausgefuchste Verlagsleiter geht kompromissbereit in die Gehaltsverhandlung mit dem strebsamen Neuzugang und setzt sich durch – aber der Leser ahnt, es ist nur ein Sieg auf Zeit.

Nach dem Treffen im «Einstein» spaziert Adam Soboczynski zurück in sein Büro. Ein Bein, das linke, hinkt dem anderen leicht hinterher: eine Behinderung seit der Geburt, wie in seinem Reportage-Buch «Polski Tango. Eine Reise durch Deutschland und Polen» (siehe „Literaturen” 10/2006) zu lesen ist. Und da fällt auf, dass sich in «Die schonende Abwehr verliebter Frauen» ein verstelltes, nicht ganz bescheidenes Selbstportrait findet. Der kleine körperliche Makel ist dort ebenso angedeutet wie die Herkunft aus Polen – und die Rolle, die der Autor spielen könnte: «Der Soziologe Georg Simmel hat denjenigen, der eine Gesellschaft am besten begreift, als den ‹Fremden, der bleibt›, bezeichnet», heißt es da. «Der Fremde, der bleibt, das kann der Zugezogene sein, der Aufsteiger, der vom eigenen Körper gekränkte, der einst Gehänselte. Durch einen Makel stand er stets im Abseits, durch einen unschönen Sprachfehler, ein Humpeln oder durch seine Herkunft, doch durch die Beobachtung seiner Umgebung erlernte er die tückischsten Künste. Mit dem Interesse des Naturforschers, der sich über eine seltene Blume beugt, nimmt der Fremde, der bleibt … feins­te Verästelungen im Gefüge der Menschheit wahr.»

 

Adam Soboczynski
Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung
Gustav Kiepenheuer, Berlin 2008. 202 S., 18,95 € (erscheint Ende Juli)

Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800
Matthes & Seitz, Berlin 2007. 317 S., 28,90 €

Baltasar Gracián
Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit
Aus dem Spanischen von Arthur Schopenhauer.
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2008. 172 S., 7 €

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