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() Das Gleiten der Farben

entdecken: Heinrich Kühn - Das Gleiten der Farben

Seine Bilder schlugen vor hundert Jahren die Brücke zwischen Fotografie und Kunst.

Ein ertrinkender Hund zum Beispiel ist für sich genommen noch kein schöner Anblick. Deshalb bedarf es eines besonderen ästhetischen Vermögens, den Unfall und alle Hässlichkeit des alltäglichen Lebens zum höheren, delikaten Eindruck zu veredeln. Im Kunstwollen des Fin de Siècle ist diese Disziplin zur größten Meisterschaft gelangt.

Hugo von Hofmannsthal hatte das im Comer See verendete Tier noch vor Augen, als er zur Dichtung anhob: «Dieselbe Sache, daß der Hund ertrank: / Ich sah die wunderschöne Uferbank / Wohin ihn spült das gleitende Gerinn, / Und in den Zweigen süßen zarten Wind / Und dort zwei Menschen wie wir beide sind: / Und ihre Schönheit drang in mich hinein/ Und dann: die Einigkeit von alledem im Sein.» Das Auge folgt dem Wasser. Erst als die Uferbank, die «wunderschöne», den Dichterblick verharren lässt, entwickeln sich wie auf einer Negativplatte im Säurebad allmählich die Konturen des nur im Schönen transzendierten Seins.

Während metallische Schläge aus den Fabrikhallen der Vorstädte die Luft erzittern ließen, während der beschleunigte Verkehr und die Präzisionsinstrumente der Naturwissenschaften den kontemplativen Blick verstörten und neue Medien und Waffen das bürgerliche Idyll in den Abgrund trieben, war dies das letzte Aufbäumen einer verschwindenden Kultur: Im Glissando der symphonischen Musik verschwammen Klänge, in den Konturverläufen der impressionistischen Malerei die Farben.

Und auch die «Tonwertstudien», wie Heinrich Kühn (1866–1944) einige seiner berühmtesten Fotografien ganz technisch betitelte, zeichnete vor allem das Gleiten von Helligkeitswerten aus. Früh schon fügte Kühn auch Farbe hinzu, zunächst durch nachträgliches Aquarellieren der Lichtbilder, später im Gummidruck und schließlich im Medium des von den Gebrüdern Lumière erfundenen «Autochrom».
Von Haus aus reich, konnte sich der Fotograf ein großbürgerliches Leben und die freie

Künstlerexistenz leisten, eine professionelle Ausbildung dazu hatte er nicht. Als Mitglied des 1895 gegründeten Wiener «Camera-Clubs» näherte er die Amateurfotografie der zeitgenössischen Malerei an, hielt sich im Umfeld der Münchner und Wiener Secession auf, wo erstmals auch Fotografien als Kunst-Exponate präsentiert wurden.

Kühn bestand aber auf dem «genetischen Unterschied» zwischen Pinselstrich und Lichtbildnerei, denn «die Photographie hat als Eigenes, daß sie momentane Stimmungen sehr wahr und erschöpfend darstellen kann, daß das Bild aus einem einheitlichen Guß, nicht aus einer Reihe zeitlich nachein­ander folgender Eindrücke entsteht, daß sie nur mit Tonwerten allein, ohne Kontur arbeitet, und daß sie befähigt ist, die delikatesten Feinheiten des Lichtspiels mit fast unübertrefflicher Vornehmheit und überzeugender Wahrheit zu schildern.»

Tatsächlich wirken diese Bilder auch heute noch wie aus einem Guss; obwohl die Sujets oft den Posen der Malerei des 19. Jahrhunderts nachgebildet sind, tragen gerade die farbigen Aufnahmen Züge des spontanen Schnappschusses. Über die unend­lichen Mühen der Bild-Konstruktion täuscht das aber hinweg.

Mary Warner war Kühns «geduldigstes Model». Nach dem Tod der Gattin im Jahr 1905 wurde sie nicht nur zur Geliebten und Ersatzmutter der ebenfalls vielfach abgelichteten Kinder, sie verharrte auch Stunden um Stunden unbewegt vor der Kamera, bevor ein Bild entstehen konnte.

Dazu trug sie eigens entworfene Kleider, und auch die Studio-Arrangements waren akribisch durchkom­poniert. Vielleicht offenbart sich im Wissen um den gemeinsamen Arbeitsprozess von Fotograf und geliebter Muse die unvergängliche Schönheit dieser aus dem Fluss der Zeit gehobenen Momente.

 

Info

Heinrich Kühn
Die vollkommene Fotografie
Hg. Monika Faber und Astrid Mahler
Hantje Cantz, 280 Seiten, 49,80 Euro

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