Erster Weltkrieg - Das Ende des englischen Fräuleins

oder Auf dem Weg ins zivilisatorische Niemandsland. Neue Ansichten zum Ersten Weltkrieg

Es ist noch nicht das große, das hundertjährige Jubiläum, und doch beginnen die Medien in Europa bereits mit einer umfassenden Rekapitulation des Ersten Weltkriegs. Ein Erinnerungsfieber grassiert, wie im Taumel tastet man nach nie gesehenen Vergangenheiten dieses Krieges, dessen ferne Schwarz-Weiß-Bilder ins Bunte wechseln – wie man in dem erstaunlichen Band des britischen Historikers Hew Strachan sehen kann. Der Effekt ist der gleiche wie bei den wiedergefundenen Farbfilmaufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus: Die Geschichte sieht gar nicht mehr so alt aus, wie man das vielleicht gern hätte.
 
Aber kennt man nicht jeden Quadratzentimeter dieser Geschichte? Wie an einem kriminalistischen Tatort war bislang alles säuberlich aufgezeichnet und mit kleinen Schildern markiert: Sarajevo und Franz-Ferdinand, Juli-Krise, Burgfrieden, Stellungskrieg, Materialschlacht, Dolchstoß, Kriegsschuld. Dann die Sozial-, Geistes- und Kulturgeschichte des Großen Krieges: von der Ideologie bis zur Fotografie, vom Soldatenbrief bis zur Rolle der Frauen, vom Kriegsroman bis zum Kriegerdenkmal ist vieles entdeckt und untersucht worden. Woran also sollten wir uns noch erinnern?
 
Zwei Ansichten des Weltkriegs sind es, die bislang wenig wahrgenommen wurden, heute aber so aktuell wirken, als seien sie einem Lehrfilm für die Gegenwart entnommen. Die erste Perspektive umfasst das Völker- und Kriegsrecht unter dem Druck extremer Feindschaft und der Tendenz zur kollektiven Brutalisierung der Gesellschaft. Hier wird der Weltkrieg zu unserer unmittelbaren Vorgeschichte. Das reicht vom völkerrechtswidrigen Einmarsch der Deutschen in Belgien und endet noch nicht beim Versailler Vertrag, der «Schuld» und «Verbrechen» in die Geschichte der modernen Friedensschlüsse einführen sollte – mit ziemlich unmoralischen Folgen für die Nachkriegszeit.
 
Feindschaft und Krieg wurden seither auf andere Weise fortgesetzt. International geschah das im Zeichen völkerpsychologischer Zuschreibungen, die in völkerrechtliche Bestimmungen umgegossen wurden. Beispielsweise im Fall des «deutschen Militarismus», der das Grundübel der Welt darstellen sollte. Tiefgreifender noch waren die Auswirkungen im Innern: Anfang November 1916 begann die «Judenzählung» im deutschen Heer, mit deren Hilfe Vorwürfe, die Juden drückten sich vor dem Kriegseinsatz, überprüft werden sollten. Damit hatte man eine innere Front eröffnet und offiziell legitimiert, welche die nationale Begriffs- und Vorstellungswelt nicht nur in Deutschland ins Rassische zog. Der Nationalismus hatte seinen universalen Feind gefunden und verlängerte seine eigene Geschichte damit bis in die Apokalypse des Nationalsozialismus.
 
Solche Wirkungen sind nur durch ein Ineinander von Kalkül und Wahn zu erklären. In diesem Kontext geht heute auch die in den sechziger Jahren heiß diskutierte «Kriegsschuld»-Frage auf. Dass das deutsche Kaiserreich im Juli 1914 einen entscheidenden Schritt tat, als es dem politisch wie militärisch unfähigen Österreich-Ungarn freie Hand gegen Serbien ließ, ist dabei unumstritten. Die große Versuchung zum «Sprung ins Dunkle» entstand deshalb, weil man sich lauter fiktiven Notwendigkeiten gegenüber sah.  
Diese Welt ist nicht genug Der zweite Aspekt, der zu Zeiten des Ost-West-Konflikts selten beachtet wurde, auch außerhalb Deutschlands, ist der globale Charakter des Krieges, die Dynamisierung der ganzen Welt. Vor 1914 mochte Europa glauben, es sei die Welt. Schon während des Krieges sah man: Diese Welt ist nicht genug. Waren hier auch die Lichter ausgegangen, wie der englische Außenminister Edward Grey meinte, anderswo gingen sie, böse flackernd, gerade an.
 
In einer Zeit, da eine reguläre Armee der westlichen Welt das Kriegsrecht mit Füßen tritt und auf Widerstand von Partisanen mit Folter und Mord antwortet, wirkt ein Buch über die tatsächlichen oder angeblichen deutschen Kriegsgräuel bei der Besetzung Belgiens und Lothringens 1914 wie bestellt. In einem umfangreichen Werk sind John Horne und Alan Kramer der Spur von Zerstörung, Mord und Plünderung, von Gerüchten und Mythen nachgegangen, die der deutsche Einmarsch hinterließ. Sie wollen erhellen, wie die widersprüchlichen Geschichten und die gegenseitigen Bezichtigungen entstehen konnten. Es geht um sechstausend zivile Opfer, Belgier und Franzosen, sowie um zwanzigtausend zerstörte Gebäude. Und es geht um eine fast unauflösbare Nebelwolke von Propaganda, Phantasmen und Verbrechen.
 
Was war geschehen? Reichsregierung und Heeresführung hatten sich auf den Schlieffen-Plan von 1905 festgelegt: Ihm zufolge sollte zunächst die östlich stehende französische Streitmacht umschlossen und zur Kapitulation gezwungen werden, damit man anschließend die Kräfte gegen Russland werfen konnte. Dazu mussten die deutschen Truppen zu Beginn des Krieges mit einem starken rechten Flügel so rasch wie möglich über Belgien vordringen. Weder die Regierung noch die Oberste Heeresleitung rechneten mit nennenswertem Widerstand der belgischen Armee, hatte man doch versichert, die Neutralität Belgiens allein aus strategischen Gründen, also gewissermaßen notgedrungen zu verletzen. Dieses Kalkül aber ging nicht auf. So leisteten Lüttich und seine Forts erbitterte Gegenwehr und fügten den deutschen Truppen große Verluste zu. Die Heeresleitung sah sich gezwungen, sechzigtausend Mann Verstärkung heranzuziehen. Statt des erhofften leichten Durchmarschs musste man den Erfolg durch stationären Dauerbeschuss mit schwerer Artillerie suchen. Immer wieder wurden die Deutschen dabei von belgischen Einheiten geschickt aus dem Hinterhalt angegriffen.
 
Vorläufer des Vernichtungskrieges Die Generäle wie die Heeresleitung selbst waren überzeugt, dass Franctireurs, also Freischärler, für diese Angriffe verantwortlich waren, und reagierten mit  Brutalität und Willkür. Es kam zu Massenerschießungen von Zivilisten, unter ihnen auch Frauen und Kinder, die man als Geiseln genommen hatte. Ähnliches geschah im nördlichen Teil des Departements Meurthe-et-Moselle. Die deutschen Soldaten glaubten sich in einem Volkskrieg der Belgier. Bei vereinzelten Schüssen gerieten sie in Panik und wurden angehalten, Dörfer niederzubrennen und die männliche Bevölkerung umzubringen. Manche Zeugen behaupteten, belgische Kinder seien von den Deutschen gezwungen worden, vor den Toten zu tanzen und dabei Kinderlieder zu singen. Es gab Aussagen, dass mehrere Soldaten tagelang Frauen vergewaltigt hätten. Andere Gerüchte besagten, dass man auf Frauen mit abgeschnittenen Brüsten gestoßen sei.  
Das Bezeichnende an solchen Gerüchten oder Legenden ist, dass hier Wahn und Wirklichkeit untrennbar miteinander verschmolzen sind. Gerade in dieser auch geschichtswissenschaftlich nicht mehr zu lösenden Legierung ist das Grauen eingeschlossen. Das böse Gerücht und die böse Tat ersetzen sich wechselseitig – ein Effekt, welcher der Idee einer verlässlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit den Garaus macht und der Vorstellung des Horrors alle Türen öffnet. Es kam eben im Verlauf der Invasion zur zweifach üblen Enthemmung – einer der militärischen Gewalt und einer der propagandistischen Phantasie.
 
Die Quellenlage ist freilich unausgeglichen, weil wichtige Akten der deutschen Seite gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Das Hauptinteresse der Autoren Horne und Kramer liegt allerdings nicht im Nachweis der Gräueltaten. Sie möchten vielmehr zeigen, wie der Mythos vom Franctireur die deutsche Kriegführung prägte und mit dazu beitrug, dass die militärische Leitung einen totalen Krieg akzeptierte, dessen Maximen nicht mehr weit von der Ideologie des Vernichtungskrieges im «Dritten Reich» entfernt waren.
 
Es gibt zweifellos Hinweise auf solche Tendenzen; der Fotografie-Historiker Anton Holzer hat vor kurzem auf Fotoserien aufmerksam gemacht, die erhängte oder mit Genickschuss getötete «Partisanen» nach dem Einmarsch österreichischer Truppen in Serbien zeigen. Auch an diesem Kriegsschauplatz kam es offenbar zu Verbrechen, aus einer Mischung von militärisch-politischer Überforderung und ethnisch-nationalem Hass. Diese Linie vom Ersten hin zum Zweiten Weltkrieg in den kriegführenden Staaten zu verfolgen ist sicher eine  lohnende Aufgabe – die Autoren können das nur andeuten, weil sie erst einmal «die umstrittene Wahrheit» suchen.
 
Der blinde Fleck dieser wichtigen Studie liegt darin, dass sie in keiner Weise erörtert, wie die Berufung auf das Völkerrecht für eine robuste Interessenpolitik instrumentalisiert wurde und dadurch in Misskredit geriet – ein lang nachwirkendes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Gegenwart immer wieder unter Beweis stellt. Denn wenn eines in diesem Krieg deutlich wird, dann ist es die Konkurrenz, sich als Verteidiger des Völkerrechts zu präsentieren und diese Rolle zugleich zur Plattform eigener Interessen zu machen. Man unterstützte auf beiden Seiten Unabhängigkeitsbewegungen im Namen nationaler Selbstbestimmung und erklärte Völker zu moralischen Verbündeten, die man zuvor nicht einmal zur zivilisierten Welt gezählt hatte.
 
Leider verlässt das Buch von Horne und Kramer nicht die dahinter liegenden nationalen Antagonismen, die es untersucht. Es konzentriert sich auf Deutschland, obwohl es doch die Wechselwirkung von Propaganda und Kriegführung im internationalen Kontext erhellen will. Insofern gibt die Studie ihren Entstehungsbeginn in Vorwendezeiten zu erkennen, als noch die Prämissen eines deutschen Sonderwegs galten, die aus den siebziger Jahren stammen.  
Die Welt als Wille zur Auslöschung Nein, die Deutschen haben das «Zeitalter der Extreme» nicht allein begründet. Es war vielmehr eine europäisch-amerikanische Gemeinschaftsproduktion – bei der die Deutschen allerdings eine besondere Rolle spielten. Um das zu verstehen, reicht es nicht, auf den Krieg von 1870/71 zurückzugehen, so wichtig der Franctireur-Komplex dort auch war. Der moderne politische Begriff vom «Barbaren» weist vielmehr auf die Französische Revolution zurück, als sich Revolutionäre und Reaktionäre gegenseitig vorwarfen, außerhalb der Menschheit zu stehen. Der Volks- und Partisanenkrieg ist eine Frucht der napoleonischen Kriege, die in Spanien und Deutschland aufging. Hier begannen ein Diskurs und eine Phantasie der Grausamkeit und Vernichtung, die sich durchsetzten gegenüber den Versuchen, den Krieg völkerrechtlich einzuhegen. Auch der entstehende politische Pazifismus vermochte daran nichts zu ändern. Je höher die Ideale und je größer die Hoffnungen, desto entschiedener der Wille zur Auslöschung.
 
Dass es diese Tradition war, die gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs mobilisiert wurde, ist auch daran zu erkennen, dass auf beiden Seiten unverzüglich alles «Feindliche» ausgemerzt werden sollte. Eine Gaststätte  «Zum englischen Fräulein» musste schleunigst ihren Namen ändern, weil die Deutschen vor lauter Engländern die Engel nicht mehr kannten. Und in den großen Hotels Londons, im Ritz und Savoy, wurde auf Aushängen bekannt gegeben, dass die Kellnerschaft selbstverständlich «deutschenrein» sei. Das alles geschah, noch bevor in Belgien die Logik des Invasionskriegs die Deutschen ins zivilisatorische Niemandsland laufen ließ und die Alliierten die Fiktion einer in Gut und Böse zu teilenden Welt so gewaltig aufbliesen, dass sie am Ende platzte und nichts als Verachtung und Ekel übrig blieb.
 
Weihnachten im Schützengraben Wie anders ein Bild, das schon die Zeitgenossen merkwürdig berührte: Deutsche und französische, deutsche und englische Soldaten feiern 1914 Weihnachten in den Schützengräben – gemeinsam. Eine unerhörte Begebenheit, die von keinem höherrangigen Militär gedeckt wurde und sich doch ereignete, an einer fünfzig Kilometer langen Linie um Ypern. Eine massenhafte Verbrüderung, die von gegenseitigen Besuchen begleitet wurde, bei denen man Adressen austauschte und sich gegenseitig Familienfotos zeigte. Diesem erstaunlichen und doch so leicht nachvollziehbaren «kleinen Frieden im Großen Krieg» hat Michael Jürgs ein Buch gewidmet, das man mit Gewinn liest, auch wenn eine arg strapazierte Einfühlung, der literarische Anspruch, der nicht eingelöst wird, und das Pathos, das sich oft süßlich über die groteske Szenerie legt, immer wieder verstimmen.  
Wie ein solcher Spontan-Pazifismus später in eine grundsätzliche Ablehnung jeden Krieges führte, die buchstäblich, oder besser: bildlich zeigte, was es heißt, Menschen zu vernichten, lässt sich an der Dokumentation Ernst Friedrichs «Krieg dem Kriege» ablesen. 1924 erschienen, wurde sie zu einem der meistverbreiteten Bücher über den Krieg und liegt jetzt in einer ausgezeichneten Neuausgabe vor. Wer diesen Band auch nur einmal durchgeblättert hat, wird ihn nicht mehr vergessen – und im Hinterkopf behalten, dass die plastische Chirurgie im Weltkrieg ihren eigentlichen Ausgang nahm.
 
An Material fehlte es wahrhaftig nicht. Wer mit einem im Wortsinne halben Gesicht zu leben verdammt ist, dem muss der Tod fürs Vaterland wirklich süß erscheinen. Kein Wunder, dass es geheime Krankenhäuser und Verwahranstalten gab, in denen diese Schwerstverletzten des Krieges vor einer Öffentlichkeit versteckt werden mussten, in welcher der Kriegskrüppel schon ein fester sozialer Typus war. Die Schwerstverletzten sind die Zombies aller Zivilisationskämpfe. Die Menschen seien «Vergeßmaschinen», meinte Ernst Friedrich; nur der äußerste Schock, der geradezu archaische Tabubruch vermag, eine Erinnerung festzubrennen.
 
Friedrich wurde selbst vergessen, und es ist ein großes Verdienst, dass Gerd Krumeich in einem lesenswerten Vorwort nicht allein die Genese dieses Antikriegsbuches schildert, sondern auch die Biografie seines Autors wieder gegenwärtig macht. Allein wie hartnäckig, unbeirrt und immer auf eigene Kosten Friedrich seinen Pazifismus lebte und demonstrierte, ist beispiellos. Er wurde nicht ins Gefängnis, sondern ins Irrenhaus gesteckt, als er 1914 der Einberufung nicht Folge leistete – so buchstäblich verrückt schien den Zeitgenossen sein unbedingter Friedenswille. Friedrich machte in Berlin, in der Nähe des Alexanderplatzes, ein kleines Antikriegsmuseum auf, das regelmäßig von der nationalistischen Rechten attackiert wurde.
 
Später überlebte er die Folterkeller der SA. Er ging in die Schweiz, die seine Friedensliebe nicht aushielt, nach Brüssel und schließlich nach Frankreich, wo er in der Résistance kämpfte – und 1944 in Uniform in Paris einmarschierte. Die zog er rasch wieder aus, schuf auf einer Insel in der Marne ein Friedenscamp, bot seine Dienste erfolglos der Stadt Berlin an und starb schließlich 1967 im Alter von 72 Jahren nahezu unbeachtet.
 
Die globale Dimension des Großen Krieges Das große Buchereignis zum Großen Krieg ist jenseits aller Jubiläumsschreiberei fraglos die bereits im vergangenen Jahr erschienene «Enzyklopädie Erster Weltkrieg», herausgegeben von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz: ein Panorama des Weltkriegs, das es in dieser Dimension und Präzision noch nicht gegeben hat. Der Leser wird durch die Aufsätze, welche die wichtigsten kriegführenden Länder, die Gesellschaften im Krieg, den Kriegsverlauf und die Geschichtsschreibung behandeln, in eine andere Welt von gestern hineingezogen.
 
Ausgezeichnet gelungen ist die Zusammenstellung einer Vielzahl von Stichworten, die auf wenig Raum eine Fülle von Informationen und weiterführenden Hinweisen enthält und die globale Dimension des Krieges an jeder Stelle sichtbar macht. Eine Stunde, verbracht mit der Lektüre dieses Lexikons, lässt einen mehr über den Konflikt erfahren als viele Großdarstellungen. Dies ist ein Buch für alle Leser, die entdecken wollen, wie neu der Weltkrieg wirklich ist – eine Enzyklopädie der Geschichte unserer Gegenwart.
 
Dem heute erst allmählich wieder ins Bewusstsein tretenden türkischen Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, hat Wolfgang Gust, ein exzellenter Kenner, einen grundlegenden Artikel gewidmet, der den Weltkrieg mit einem Mal in ein anderes Licht stellt. Ein weiteres Beispiel: Was weiß man etwa über die Rolle Chinas im Weltkrieg? Bei der Lektüre des entsprechenden Artikels begreift man sofort, welches Vakuum der alle Kräfte beanspruchende Krieg in Europa anderswo schuf. Es brechen dort alte und neue Konflikte auf, die wiederum auf Europa zurückwirken. 
 
Frauenpatrouille zur Rettung der Bürgerwelt Den Herausgebern ist es gelungen, mit der Enzyklopädie eine unerschöpfliche Fundgrube zu schaffen, die den Gewinn historischer Systematik mit den Freuden der unverhofften Erkenntnis verbindet. Man kann die Probe machen an dem Artikel über Serbien. Luzide entwickelt Gerhard Hirschfeld die Geschichte von Leid und Hybris des serbischen Volkes zwischen dem Volksaufstand, dem Elend des «großen Rückzugs» auf die Insel Korfu 1915 und den Repressalien der Besatzungsregime. Das alles sind Geschehnisse, von denen selbst Historiker, sofern sie keine Spezialisten sind, wenig wissen, die aber viel zur jüngeren nationalistischen Pathogenese in Serbien beigetragen haben.
 
Schließlich macht das Lexikon auf eine Bruchlinie aufmerksam, die häufig übersehen wird. Denn der Weltkrieg bedeutete nicht nur das Ende der bürgerlichen Welt, sondern auch eine Zäsur in der bürgerlichen Sexualmoral. Lutz Sauerteig erzählt davon, wie in Großbritannien Frauenpatrouillen die Moral aufrecht erhalten sollten; bei Ehebruch wurde verheirateten Frauen die Trennungszulage und die Sozialhilfe gestrichen. In Deutschland dagegen hatte man ein besonders wachsames Auge auf Kontakte zwischen Kriegsgefangenen und deutschen Frauen, solche Beziehungen standen unter Strafe. Infolge des Weltkriegs kam es auch zur staatlichen Überwachung der Prostitution – ein Novum, das Frauenverbände zuvor noch verhindert hatten, weil es einer Legitimierung gleichkam.

Es sind diese und andere Bruchlinien, an denen entlang wir uns von einer radikal veränderten Gegenwart in die neuen Vergangenheiten des Weltkriegs hineinbewegen. Der Weg führt tief in ein durch Feindschaft und Hass zersprungenes Europa, das sich selbst vernichtete und dann als Hoffnung wiederauferstand. Der Weltkrieg war das Scherbengericht einer Zivilisation, die sich selbst verraten hatte. Man braucht diesen Stichgraben nur zu Ende zu gehen und steht mitten in der grellen Gegenwart des universalen Terrorkriegs.


Robert Deville lebt als freier Autor in Paris und nimmt Lehraufträge für Geschichte in Lausanne und Genf wahr
Erwähnte Bücher Hew Strachan Der Erste Weltkrieg.  Eine neue illustrierte Geschichte Aus dem Englischen von Helmut Ettinger.  C. Bertelsmann, München 2004.  448 S., 24,90 €
 
John Horne, Alan Kramer Deutsche Kriegsgreuel 1914.  Die umstrittene Wahrheit Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hamburger Edition, Hamburg 2004.  700 S., 40 €
 
Michael Jürgs Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche,  Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten C. Bertelsmann, München 2003.  351 S., 22,90 €
 
Ernst Friedrich Krieg dem Kriege DVA, München 2004. 256 S., 19,90 €
 
Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.) Enzyklopädie Erster Weltkrieg Schöningh, Paderborn 2003. 1001 S., 78 €   Ausserdem sind erschienen Boris Barth Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 Droste, Düsseldorf 2003. 625 S., 49,80 €
 
Wolfgang J. Mommsen Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters Fischer TB, Frankfurt a.M. 2004.  224 S., 13,90 €
 
Michael Howard Kurze Geschichte des Ersten Weltkriegs Aus dem Englischen von Helmut Reuter. Piper, München 2004. 208 S., 16,90 €
 
Karl Hampe Kriegstagebuch 1914–1919 Hg. von Folker Reichert und Eike Wolgast. Oldenbourg, München 2004. 1021 S., 118 €
 
Brigitte Hamann Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Dokumenten Piper, München 2004. 192 S., 29,90 €

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Hans-Jürgen Ahrens | Sa., 2. Juni 2018 - 11:07

Kaiser Wilhelm hat 1916 ein ernsthaftes Friedensangebot gemacht.Abgelehnt wegen Sykes Picot Abkommen,offiziell aber wegen der Hunnen.Gier nach Öl und Land haben den Frieden verhindert.
1916 mögliche Auswirkungen bis heute,kein Stalin, kein Hitler ,kein Mao evtl aber auch kein Israel.
Nahost heute Schuld der Allierten.
Darüber nachdenken lohnt sich.
Deutschland von Angelsachsen kastriertes Volk? Ausspruch eines Russ. Prof.Tatsächl.hat sich nach meiner Meinung eine peinliche Nachäfferkultur entwickelt.Junge
Angelsachsen entdecken die Schönheit unserer Sprache,die sie nur Räume,leidende Sprache aus dem TV kennen.Engländer begreifen,dass bei uns einJa ein ja ist und ein nein ein nein und kein perhaps maybe.Nachdenken und daraus die richtigen Folgerungen ziehen. GRUSS HJA Schluss mit Verleumdungen.