Das blaue Zimmer

Eingeladen wird per Brief, eingelassen nur mit Empfehlung: In Salons in Berlin, Dresden oder München diskutieren deutsche Kulturbürger mit handverlesenen Gästen über Kunst, Politik und Literatur. Eine Reportage über eine so geschichtsträchtige wie öffentlichkeitsscheue Szene.

Der Hosenmatz ist zuerst da. Als die Klingel durch die hohen Räume der Altbauwohnung im Berliner Prenzlauer Berg schallt, rennen drei blonde Kinder in Schlafanzügen auf die Tür zum Treppenhaus zu. Der Kleinste erreicht die schwere Holztür zuerst und drückt den Griff mit ganzer Kraft herunter. Sein rot verschmierter Brausemund strahlt die Gäste an, die sich auf dem Treppenabsatz versammelt haben. Sie tragen gute Lederschuhe an den Füßen, feine Kaschmirschals um den Hals und Wein oder Nüsse in den Händen. Sie sehen so entspannt aus, als wären sie zu einem privaten Filmabend eingeladen. Dabei wollen sie mit einem hochrangigen Bundeswehroffizier über den deutschen Afghanistaneinsatz diskutieren. In der Wohnung warten bereits Silke und Wolf Albin, nehmen die Mäntel ab, führen in das großzügige Wohnzimmer, stellen die Gäste einander vor. Das Juristenpaar öffnet seit 13 Jahren seine Wohnung für den „Bötzowkreis“. In ihm kommen etwa drei Mal im Jahr politisch interessierte Freunde und Freunde von Freunden zusammen. In vertrauter Runde wollen sie Fragen der Zeit diskutieren, immer zu einem bestimmten Oberthema und mit politischen Insidern als Referenten. In einem improvisierten Kreis aus Stühlen, die noch aus Studententagen zu stammen scheinen, nehmen etwa 20 Gäste Platz, die meisten zwischen 30 und 50 Jahre alt, modernes Bürgertum allesamt. Als Anwälte, Ärzte, Journalisten und Physiker stellen sie sich vor. Ein paar Studenten sind auch dabei. Die meisten erklären, sie seien heute aus rein privatem Interesse am Afghanistankonflikt da. Weit weg von offiziellen Podien und jenseits politischer Korrektheitszwänge hoffen sie auf neue Einsichten. „Wir alle wollen an diesem Abend ein Stück weiterkommen“, sagt Silke Albin. „Und dank der intimen Atmosphäre können unsere Gäste hier auch Sachen sagen, die sie unter öffentlicher Beobachtung sonst nicht äußern dürften.“ Solche Empfangsabende wie der „Bötzowkreis“ finden in den Altbauwohnungen und Bürgervillen deutscher Großstädte häufiger statt als man annehmen mag. Die Autorin Cornelia Saxe hat in ihrem Buch „Das gesellige Canapé“ eine Renaissance der Salons in Berlin ausgemacht. Überall in der Hauptstadt gebe es politische, akademische, kulinarische und künstlerische Salons, berichtet sie dort. Dazu lesbisch-schwule und reine Frauensalons sowie Clubs für den Gentleman. Höchst lebendig und flüchtig sei die Szene. Ständig seien Salons am Werden und Vergehen. Auch in anderen deutschen Städten mit ausreichend Bildungsbürgertum wie Dresden, München oder Düsseldorf kommen Diskutierfreudige mit ihresgleichen zum Gedankenaustausch zusammen. Aber der Begriff Salon ist mittlerweile völlig überstrapaziert. Öffentliche Leseabende etikettieren sich gerne als „Literarische Salons“, Netzwerktreffen junger Karrieristen nennen sich hochtrabend „Berliner Zukunftssalon“. Sogar eine Sex-Talkshow in roten Samtsesseln trägt den etwas pompösen Titel „Erotischer Salon“. Das distinguiert klingende Wort eignet sich auch bestens, um schnöde Podiumsdiskussionen von Vereinen, Parteien und Institutionen werbewirksam aufzuwerten. Aber woran ist der echte Salon zu erkennen in der Flut politischer und kultureller Gesprächskreise? Was macht ihn heute aus? Der einfachste Anhaltspunkt: Wenn der Salon sich selbst als „Salon“ bezeichnet, fällt er meistens schon mal raus. Der traditionsreiche private Zirkel des kürzlich verstorbenen Soziologen Nicolaus Sombart nannte sich „Teegesellschaft“. Auch die Literaturagentin Karin Graf, die seit 1986 unregelmäßig zum literarischen Gespräch in ihre Berlin-Charlottenburger Wohnung bittet, wehrt sich vehement gegen den Salon-Stempel: „Ich gebe manchmal Abendessen zu Ehren von jemandem“, sagt sie. Es ist nur ein Nebenprodukt, dass dabei tiefgründige Gespräche über Literatur, Zeit und Welt geführt werden. Sobald ein Salon in einem Veranstaltungsmagazin, im Internet oder anderswo öffentlich beworben wird, verliert er sein wichtigstes Charakteristikum: die Intimität. Der Zirkel ist immer limitiert im Zugang. Um in den „Bötzowkreis“ zu kommen, benötigte die Autorin zwei unabhängige Empfehlungen von bewährten Gästen. Sie musste über mehrere Monate Telefonate führen und ein vertrauensbildendes Mittagessen zum Kennenlernen absolvieren. „Wir haben da die Hand drauf, wer an unseren Gesprächen teilnimmt“, erklärt Silke Albin. Salons sind nicht an Öffentlichkeitsarbeit interessiert. Journalisten, die darüber berichten wollen, wird besondere Vorsicht entgegengebracht. Je weiter man sich in die Hinterzimmer der Berliner Republik vorwagt, desto komplizierter und mysteriöser wird es. Parteifreunde treffen sich zum Stammtisch. Ministerialbeamte kommen jenseits offizieller Termine zusammen. Hinterbänkler suchen den privaten Austausch. Nur bekannt werden darf davon nichts. Einer, der ein „Kränzchen“ ins Leben gerufen hat, sitzt in seiner Mittagspause unter einem weißen Sonnenschirm eines kleinen Imbisses, die Ärmel hat er hochgekrempelt, die Haare sind zum Bürstenschnitt frisiert. Er arbeitet für eine Volkspartei. Wo und als was soll keine Rolle spielen. Es sei heikel, darüber zu reden, dass sich einzelne Parteimitglieder regelmäßig zu Diskussionsabenden verabreden und dort nach gemeinsamen Positionen suchen. „Das bekommt so schnell einen Beigeschmack“, sagt er. Dabei geht es meistens gar nicht nur darum, strategische Bündnisse zu schmieden, sondern die öffentlichen Scheindebatten zu überwinden, um zu ernsthaften Positionen zu gelangen. Es geht um eine intellektuelle Standortbestimmung, in der sich das Argument entfalten darf. Aber nicht nur. Die Salons sind ihrem Ursprung nach auch ein Ort der Emotionalität. „Sie saßen und tranken am Teetisch, / Und sprachen von Liebe viel“, spottete schon Heinrich Heine über die Salons der Romantik. „Die Herren, die waren ästhetisch, / Die Damen von zartem Gefühl.“ Aber, jenseits aller Ironie, eignen sich Salons damals wie heute tatsächlich dafür, neue sinnlich-ästhetische Erfahrungen zu machen. Zum Beispiel in einem Kunstsalon. „Maerzgalerie“ steht auf dem Klingelschild in dem neonrot erleuchteten Innenhof der Sophie-Gips-Höfe in Berlin-Mitte. Drückt man darauf, surrt es, und am Ende einer steilen Treppe guckt ein freundliches Gesicht mit schwarzer Kastenbrille und nach hinten gestrichenen Locken aus der Tür. Es ist Torsten Reiter, ein Leipziger Galerist, der regelmäßig in seine dortigen Galerieräume in der bekannten Baumwollspinnerei flieht. Um auf „neutralen Boden“ zu gelangen, wie er sagt. Reiter will seine Künstler aus dem gehypten Umfeld der Neuen Leipziger Schule befreien und sie jenseits dessen einem interessierten Publikum vorstellen. „Für mich ist das Gespräch im kleinen Kreis wichtig“, sagt er. „Nicht der Smalltalk, der sonst auf Vernissagen entsteht.“ Darum lädt er seit zwei Jahren zum Salon in seine überschaubaren Berliner Räume. Um einen niedrigen Tisch, auf dem Käse, Brot und Schokolade drapiert sind, sitzen Kunstsammler, Galeriemitarbeiter, Freunde, Bekannte und der Künstler Thomas Sommer, dessen düstere Gemälde aus der Reihe „Punkt 9 am Provisorium“ die Wände schmücken. Ein endloser Tross aus winzigen violetten Elendsgestalten windet sich auf mittelgroßen Querformaten so verdrossen in Richtung Jüngstes Gericht, dass es einen schaudert. „Ich könnte mir so was ja nicht ins Wohnzimmer hängen“, sagt ein Rechtsanwalt, der zum ersten Mal zur Salonrunde gekommen ist. „Da will ich doch was Gefälliges!“ Dann steht er auf und schleicht die Wände entlang. Es wird über die Verkaufbarkeit figürlicher Kunst geredet. Der Künstler erklärt sein Schaffen, dann knabbern alle Brotchips. Die Stimmung wird ausgelassener, Urlaubsanekdoten lösen den Kunstdiskurs ab, Lachtränen stehen in den Augen. Am Ende des Abends kehrt der Anwalt wieder zu dem Bild zurück, das ihn anfangs noch so abgestoßen hat, und sagt verwundert: „Irgendwie lässt es mich nicht mehr los.“ Über die Stunden des wohligen Zusammenseins ist das Gemälde zum vertrauten Gegenüber geworden – wie die Kunstfreunde, die ihre Gedanken und Geschichten miteinander geteilt haben. Der Salon selbst ist ein „improvisiertes Kunstwerk der Geselligkeit“, schreibt Petra Wilhelmy in ihrem Buch „Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert“. In ihm verschmolzen schon immer verschiedene Sphären. Der Geburtsadel mischte sich mit dem Geistesadel, Theologen trafen auf Naturwissenschaftler, Politiker auf Wirtschaftsleute, Prinzen lernten Studenten kennen. Von einer Fusion aus „Wissen und Lebenskunst“ sprach auch die französische Marquise Catherine de Rambouillet. Sie galt als die erste bekannte Salonière der Geschichte. Auch sie nannte ihre Teegesellschaften um 1610 nicht „Salon“, sondern schlicht „chambre bleue“. Und ihre Gäste wählte sie nicht nach Herkunft, sondern nach deren Geist und Persönlichkeit aus. In ganz Europa folgten die Damen der Gesellschaft ihrem Beispiel. In Preußen etwa verwandelten Henriette Herz, Dorothea Schlegel oder Rahel Varnhagen ihre Wohnzimmer in „Republiken des freien Geistes“. Komischerweise gibt es bis heute keine gleichwertige männliche Form des Begriffs Salonière – obwohl hinter den Salons der Gegenwart nicht mehr ausschließlich Frauen stehen. Stefan Heinemann hat auch gern Gäste. Der Rechtsanwalt, Kunsthistoriker und Musikwissenschaftler ist so etwas wie der Grandseigneur der bürgerlichen Gesellschaft in Dresden. Viele sehen in ihm und seinen regelmäßigen Hausgesellschaften einen wichtigen Beweis dafür, dass die Bürgerlichkeit in der sächsischen Hauptstadt so lebendig ist wie nirgends sonst in Deutschland. Seit mehr als zehn Jahren lädt der gebürtige Mönchengladbacher regelmäßig die kulturellen Eliten der Stadt in seine Villa am Elbufer ein. Das „haus h“ ist ein zeitgemäßer architektonischer Kontrapunkt zu den denkmalgeschützten preußischen Villen ringsum. Innen hängt Kunst der Gegenwart, ein Bücherregal zieht sich über zwei Etagen die Wand hoch, vor der verglasten Front fließt die Elbe entlang. „Das ist ein besonders schöner Ort, zu dem die Leute lieber kommen als in einen gemieteten Saal“, sagt Heinemann. Wenn er dreimal im Jahr Kammermusik veranstaltet, dann spielen international ausgezeichnete Solisten, etablierte Streichquartette oder aufstrebende Wunderkinder in seinem konzertsaaltauglichen Wohnzimmer. Zur Veranstaltungsreihe „Forum für Kunst in der Gegenwart“ stellen Kunstsammler, Kuratoren, Leiter von Kunstvereinen oder Künstler ein Werk aus ihren Sammlungen vor. Zu beiden Gesellschaften verschickt der Hausherr nur Einladungen, die aus Papier und mit Füllfederhalter unterschrieben sind. Er überzieht seine Stühle mit weißen Hussen, bestellt ausreichend Wein, manchmal brät er sogar noch Roastbeef. Ein Abend sei dann perfekt, wenn er selbst sich auch mit den Gästen unterhalten könne, sagt er, und nicht nur den Zeremonienmeister geben müsse. Vor Jahren fragte ihn der Künstler Thomas Scheibitz bei einem Glas Wein: „Weißt du eigentlich, dass du der erste Salon in Dresden bist?“ Heinemann guckte ungläubig und antwortete: „Wat? Dat is kein Salon!“ Zumindest heißt er nicht so.

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