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(picture alliance) Steht ein Bild auf dem Kopf, muss es ein Baselitz sein. Oder falsch aufgehängt.

Gemälde von Georg Baselitz - Das Bild im Kopfstand

Die Kunst des Grenzgängers Georg Baselitz lockert das Korsett der Sehgewohnheiten. Seine Bilder hängen kopfüber - es sind Kippfiguren, nicht nur im optischen, sondern auch im politischen Sinn

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein Heft um 180 Grad drehen müssen, um einen Text zu lesen, werden Sie ihn genau darauf prüfen, ob der gestalterische Einfall Ihre und die Mühen der Graphiker wert war. Wäre Ihre Lesegewohnheit nicht gestört worden, der Autor hätte mit der Gnade zerstreuter Zeitschriftenlektüre rechnen dürfen: überfliegen, umblättern, vergessen. Jetzt aber ist Ihre kritische Wachsamkeit angestachelt.

Möglicherweise finden Sie ja den Witz, eine Kolumne über Georg Baselitz auf den Kopf zu stellen, arg gespreizt. Als käme dem Künstler näher, wer dessen allbekanntes Verfahren nachahmt. Beschlagen in Zeichentheorie könnten Sie noch einwenden, dass sich der Kopfstand von Bildern auf Buchstaben nicht übertragen lässt. Buchstaben sind diskrete Zeichen; nicht die sichtbare Welt ahmen sie nach, sondern die hörbare Sprache. Stehen Lettern kopf, stört das nicht die Sichtbarkeit, sondern die Lesbarkeit der Welt.

Ein alphabetischer Text lässt sich nur verstehen, wenn er von Buchstabe zu Buchstabe, Zeile für Zeile, von links nach rechts entziffert wird. Das Betrachten eines Gemäldes jedoch ist nicht derart festgelegt, es lässt sich augenblicklich als Ganzes erfassen, wir können die Augen zukneifen, können auch mal ganz nah herantreten und die Landschaft aus Pinselstrichen nach allen Richtungen hin erforschen. Und jeder Spaziergang ergibt neue Zusammenhänge an Farbe und Form. Baselitz will mit den Bildern im Kopfstand nichts anderes, als der Betrachtung das Korsett der Sehgewohnheiten lockern zu helfen.

In einem gerahmten Bild an der Wand suchen wir unwillkürlich ein Motiv zu erkennen. Ergibt sich kein gegenständlicher Bezug, hat uns die Schule der Moderne dazu erzogen, ein derartiges Gemälde als Werk der „Abstraktion“ gelten zu lassen. Was aber Baselitz zeigt, widersetzt sich auch dieser Unterscheidung; sein Werk will weder abstrakt noch gegenständlich sein. Es ist Kippfigur – und das nicht nur im optischen, sondern auch im politischen Sinn.

Wie Baselitz' Biographie seine Kunst prägte

Geboren 1938 in der sächsischen Oberlausitz, gehört Baselitz einer Generation an, die im Kalten Krieg aufwuchs. 1958 wechselte der 20-Jährige von Ostnach Westberlin. Der Grenzgänger verließ ein Land, in dem der sozialistische Realismus verordnet war, und betrat, es war vertrackt, eine kulturgeografische Landschaft, in der gerade ein neuer Realismus propagiert wurde: Die Spielarten von Pop-Art und Readymade.

Die Abstraktion, in der DDR noch immer verbotene Frucht, war dem Westen bereits wieder fad geworden. Die Werke von Baselitz drücken ein Dazwischen aus, ein Weder-noch, ein Nicht-Dazugehören. Gut hegelianisch bieten sie abstrakte Malerei, in der das Reale aufgehoben bleibt.

Er machte es sich nicht so leicht wie später die Jungen Wilden, die an den deutschen Expressionismus knüpften, um sich freizuschwimmen vom Diskursdiktat US-amerikanischer Konzeptkunst. Im Gegenteil: Mit dem Verfahren des Kopfüberstellens entwickelt Baselitz 1969 seinen eigenen konzeptuellen Ansatz. Produktionsökonomisch ist das Verfahren ein Husarenstück an Einfachheit und Prägnanz.

Ein Handgriff an den Bildrahmen – und schon sieht alles ganz anders aus! Im Unterschied zur klassischen Abstraktion entsteht das endgültige Bild ohne Zutun des Malers. Baselitz ist nicht der Autor jener Abstraktion, die wir im verkehrten Bild zu sehen bekommen. Das Verfahren hat sofortigen Wiedererkennungswert. Steht ein Gemälde auf dem Kopf, dann kann es nur ein Baselitz sein. Oder falsch aufgehängt.

Das Moment der Bildstörung erfüllt eine fundamentale Aufgabe: Kunst soll Praxis unterbrechen. Sie ist zwar, wie gewöhnliches Zeichenmachen, eine Form der Kommunikation. Doch der Kunst geht es nicht um das einfache Übertragen von Mitteilungen. Kommunikation sei als Prozess erfahrbar zu machen. Und das geht am besten, wenn der Inhalt der Mitteilung entleert wird bis zu dem Punkt, an dem der Stoff durchscheint, aus der Mitteilung gemacht ist. Im Fall von Baselitz sind das Pinselstriche auf Leinwand. Jede Kunst besteht darin, in origineller Weise Selbstreferenz herzustellen.

Kehren wir damit zum Text zurück, den Sie gerade lesen. Noch eine Ungleichheit besteht zwischen einem Baselitz und einer verkehrt gesetzten Kolumne. Einen Baselitz im Museum müssen Sie kopfüber ertragen, der Versuch einer Drehung löste einen Alarm aus und riefe das Überfallkommando der örtlichen Hauptwache auf den Plan. Die April-Ausgabe von Cicero, zum Beispiel, können Sie hingegen ungestraft umkehren, sooft Sie wollen. Ein Text ist kein hochwertiges Unikat. Eine geklaute Cicero-Ausgabe kann nachbestellt werden. Es steht überall dasselbe drin.

Was soll ich noch schreiben? Sie sind am unteren Ende der Kolumne angelangt. Passen Sie auf beim Umblättern, sonst steht die nächste Doppelseite wieder kopf, was das unvorbereitete Auge irritiert und leichten Schwindel erregen kann. Drehen Sie das Heft wieder um 180 Grad – nach dieser Ansage.

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