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Clemens Meyer bezwingt die Gewalten eines Jahres und trauert um seinen Hund

Der Flaneur flaniert, bis ihn der Teufel holt. Ein wenig spekuliert er gar darauf, wenn er ein rechter Bohemien ist. Hier scheint er aber doch besonders schnell zur Stelle, der große Spaßverderber, schon vor der ersten Zeile. Wir finden den Helden gebunden, fixiert an das Bett einer Ausnüchterungszelle: «Das Gefängnis, der Knast, das Eingesperrtsein schien mir immer mein Schicksal zu sein.» Das Tagebuch eines Jahres erreicht uns da aus dem infernalischen Osten, ein harter Junge, ganz allein den Urgewalten Tod, Schmerz und Deutsche Bahn ausgesetzt.

Vielleicht fällte ihn auch ein wütender Gott, Prometheusschicksal. Die Waffe dieses Alltagskriegers ist schließlich die olle Fackel der Phantasie, was nicht zufällig romantisch klingt: Beim Flanieren durch dunkle Halbwelten Leipzigs oder Magdeburgs, beim häufigen Zugfahren verliert der Erzähler Meyer, der einiges mit Clemens Meyer gemein hat, aber noch mehr mit Jean Genet gemein haben möchte, systematisch die Bodenhaftung und fühlt sich ein in andere Zeiten, Menschen, Literaturen. In dieser Hard-boiled Wundersphäre kopulieren alle Bewohner des stets leicht faulig riechenden (und daher mit Schnaps parfümierten) Unterbewusst­seins: Filmhelden, Märchenfiguren, Sniper, Mörder, Tote.

Das Umwegige ist Prinzip, aber jeder Umweg ist immer auch ein Weg. Zwei ans Herz gehende Elegien sind in diesem – nun ja, doch – Erzählungsband enthalten. Die letzten Tage seines Hundes verarbeitet Meyer in «Draußen vor der Tür»: Lange versucht der Erzähler, die eigene Wohnungstür aufzubrechen, die ihm beim nächtlichen Gassigang zugefallen ist. Es gelingt schließlich, der Hund wird eingeschläfert. Den Freund, dem der zweite Nachruf gewidmet ist, zerstörten die Drogen. Wie das wohl ist, fragt sich der Erzähler, «wenn die Krankheit das Sterben ist», wenn man wartet, «bis das System herunterfährt, vielleicht ganz leise, vielleicht mit einer donnernden Melodie, wie Windows 95, 98, XP, Exitus». Selten hat Einsamkeit derart scharfe Konturen. Das sind die starken, intensiven Momente dieses Tagebuchs.

Narratives Glutamat Es gibt auch Prätentiöseres und dies leider im Übermaß. Von den Pferdewetten und Casino-Szenen über das Säufertum, die Bordellkennerschaft bis zur Amok-Phantasie (anhand des ausgedachten Computerspiels «German Amok») werden abgeschmackte Topoi gestapelt, hochgestapelt, möchte man sagen. Seltsam hohl wirken sie, über die Pose hinaus nichts bedeutend. Viel Atmosphäre also, aber reflexiv keineswegs gedeckt: So kommt man dem Faszinosum der Gewalt wohl kaum näher. Kalauerhaft sind die meisten intertextuellen Verweise. Kalkuliert eingesetzt scheinen die boulevardesken Signale: abgehackte Hände, Säubern von Selbstmörderloks, Kindermord und Abu Ghraib-Folter. Sie sollen ablenken von der inhaltlichen Belanglosigkeit dieser Befindlichkeitsprosa, die mit großer Geste in den Denkhorizont Walter Benjamins einbricht wie die Wildschweine in Nietzsches Garten, aber dort nichts weiter mit sich anzufan gen weiß und selbst den «Engel der Geschichte», der einen kurzen Auftritt hat, allein Heiner Müller zuerkennt.   Einerseits überwürzt also, Junk-Literatur voll narrativen Glutamats, und andererseits graubrotiges Assoziieren: Beides übersättigt schnell. Eine Fahrt über Leipzigs Kanäle wird zum Rudern auf dem Styx, in Magdeburg übertönen einander die Vergangenheiten, Murat Kurnaz muss noch einmal nach Guantánamo. Ein Ziel hat das alles nicht. Etwas Proseminaristisches haftet diesen Geschichten an, etwas Angestreng tes und Kassengestellhaftes: der originalitätssüchtige Beschreibungsfanatismus von Creative-Writing-Literatur, die sich auf die Form allein konzentriert, weil Gehalt nicht lehrbar ist. Warum nur hat Clemens Meyer in diesem Buch so gut wie vollständig auf das verzichtet, was seinen Durchbruch ausmachte: in die Tiefe gehende, an der Elle der schmutzigen Realität gemessene Figurenentwürfe?   Dass wir es trotz allem mit einem talentierten Paranoiker zu tun haben, zeigen Passagen wie diese: «Im Flugzeug war ich noch nie auf dem Klo, denn ich habe Angst, dass sich unter mir die Luke öffnet, wie früher, als man noch auf Schienen schiss, und der Unterdruck mir die Därme raussaugt.» Etwas ganz Ähnliches ist hier passiert.       Clemens Meyer
Gewalten. Ein Tagebuch 
S. Fischer, Frankfurt a.M. 2010. 224 S., 16,95 €
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