Comic "Habibi" - Die Sprache der gezeichneten Körper

Eine Geschichte über das Erwachsenwerden, eine ungerechte Welt und den Widerstand gegen eine patriarchale Gesellschaft. Comic-Zeichner Craig Thompson hält die Geschichte von Dodola und Zam in seinem einzigartigen Stil fest. Die schönste Liebesgeschichte, die je mit einem Comic erzählt wurde

Ihre Liebe erblühte in einem Schiff, das in der Wüste gestrandet war. Hierhin hatten das Mädchen Dodola und der Junge Zam sich geflüchtet: vor den Häschern und Sklavenhaltern, vor Vergewaltigern und Schriftgelehrten. Ein solcher hatte die damals kaum neunjährige Dodola ihrem Vater abgekauft und zur Frau genommen. Er entjungferte sie brutal und raubte ihr die Kindheit, indem er sie in die Rolle der Ehefrau zwang. Doch brachte er ihr zugleich Lesen und Schreiben bei und die kanonischen Texte der islamischen Kultur: So war er Unterdrücker und Lehrer in einer Person. Eines Tages wird er von Sklavenhändlern getötet, die das Mädchen auf dem nächsten Basar verkaufen wollen. Doch

Dodola kann fliehen – und rettet auch Zam, den dreijährigen Knaben, der, von seiner versklavten Mutter getrennt, kurz vor dem Hungertod stand.

So beginnt eine der schönsten und unwahrscheinlichsten Liebesgeschichten, die im Comic jemals erzählt worden sind. «Habibi» heißt der voluminöse Bilder-Roman, in dem der amerikanische Zeichner Craig Thompson vom Schicksal von Zam und Dodola berichtet, von ihrem ersten Zusammentreffen über die Flucht in das Wüstenwrack bis zur jahrelangen Trennung und der  Wiederbegegnung in einem Harem. Neun Jahre lang leben Dodola und Zam allein miteinander in ihrem Versteck. Aus dem Verhältnis von Mutter und Kind entwickelt sich in dieser Zeit allmählich ein erotisches Begehren; ein Begehren gleichwohl, das in Zam vor allem Schuldgefühle erweckt – besonders, als er eines Tages erfährt, wie Dodola das Geld für den gemeinsamen Lebensunterhalt verdient: indem sie sich an die Kameltreiber vorbeiziehender Karawanen prostituiert.

In «Habibi» geht es um Liebe und Schuld, um das Erwachsenwerden und den erwachenden Widerstand gegen eine rundum ungerechte Welt. Und das heißt vor allem: um den Widerstand gegen eine patriarchale Gesellschaft, in der Frauen und Kinder, schwule Männer und Menschen jenseits der normierten Geschlechterverhältnisse sich täglicher Willkür erwehren müssen. Craig Thompson, Jahrgang 1975, hat die Märchen aus Tausendundeiner Nacht ebenso akribisch studiert wie die Theoretikerinnen der Gender Studies von Julia Kristeva bis Judith Butler. Seine Heldin und seine Held fühlen sich durchweg fremd in ihren Körpern; und kunstvoll lässt Thompson dabei in der Schwebe, ob diese Fremdheit das Produkt einer entfremdeten Kultur ist oder nicht doch zur unhintergehbaren Natur der Menschen als solcher gehört.

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Eines Tages wird Dodola erneut geraubt und endet als Haremsdame bei einem Sultan; wie Scheherazade entgeht sie dem drohenden Tod nur durch unermüdliches Geschichten-Erzählen. Zam findet Unterschlupf bei einer Eunuchengruppe: Diese Ausgestoßenen haben die Fremdheit im eigenen Körper zu einer eigenen Religion überhöht. Bei ihnen lernt der verunsicherte Junge zunächst Toleranz gegenüber sexuell und sonstwie anders veranlagten Menschen. Doch als er sich schließlich kastrieren lässt, geschieht auch dies nicht aus innerer Überzeugung; er will einer Gruppe angehören und leidet unter dem Gefühl einer unabgetragenen Schuld gegenüber der mütterlichen Freundin, die er als Geliebte begehrt.

Als Craig Thompson vor acht Jahren erstmals auf der Bildfläche erschien, erzählte er in seinem voluminösen Bilderroman «Blankets» in halb-autobiografischem Stil von den Sorgen eines heranwachsenden Mannes; schon damals begeisterte er seine Leser damit, wie er seine  psychologisch-realistischen Figurenzeichnungen mit karikaturhaften Verknappungen und kunstvoll eingesetzten Bilder-Klischees verband. In «Habibi» purzeln nun die grafischen Stile und Abstraktionsarten nur so durcheinander. Expressiv gezeichnete Menschenkörper kreuzt Thompson mit comic-typischen Stilisierungen und Karikaturen; realistische Bilder der modernen arabischen Welt mischen sich in fabelhaftem grafischem Furor mit dick aufgetragenen orientalischen Fantasien. Realismus und Märchen sind hier kein Widerspruch mehr, ebenso wenig wie Bild und Schrift. Wunderbar, wie Dodola den kleinen Zam mit fantasievoll ausgeschmückten, mythologischen Geschichten belehrt und beglückt – und wie Thompson ihre Art des bildhaften Erzählens in ornamentalen Bilderschriften und Schriftbildern ausschmückt.

Wie in zuvor wohl kaum einem anderen Comic, wird die Technik der Kalligrafie hier zum Bindeglied zwischen dem Erzählen und dem bildhaften Zeigen. Die comic-typische Verschränkung verschiedener Zeichensorten erhebt Thompson zu einer Ästhetik ganz eigener Art: Liebe und Abstoßung zwischen den Menschen spiegeln sich unmittelbar in der Spannung zwischen Symbolen und Bildern, zwischen grafischen Zeichen und Schrift. Am Ende, in den letzten Szenen dieses verzwickten und verzweigten und doch immer unmittelbar anrührenden Bilder-Romans, erbricht Dodola all die schönen Buchstaben, all die Wörter und Sätze ihrer Geschichten aus Tausendundeiner Nacht wie das Gift einer glücklich überwundenen Krankheit. Wo die Liebe regiert, brauchen die Menschen keine Worte mehr und keine Bilder. Die einzige Sprache, die hier noch zählt, ist die Sprache der Körper, die in der Vereinigung miteinander auch ihre Fremdheit sich selbst gegenüber überwinden.

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