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(picture alliance) Wird Liebe überbewertet?

Bittere Paartherapie im Sachbuch - Liebe deine Pantoffeltierchen

„Liebe wird oft überbewertet“: So hat Christiane Rösinger ihr neues Sachbuch benannt. Darin dreht die Autorin den Spieß komplett um – und vergleicht Liebe mit Einzellern und Pantoffeltierchen. Eine Rezension

Ein Sachbuch. So steht es auch auf dem Umschlag. Heißt zwar so wie eines der berühmtesten Lieder der «Lassie Singers». Enthält aber keine Spur der lakonischen Poesie, wie die Musikerin Christiane Rösinger sie später auch für ihre zweite Band «Britta» geschrieben hat. Hier klingt nichts wie ein Song der «Smiths». «Liebe wird oft überbewertet » ist eben kein Songbook, sondern ein Sachbuch. Leider ist das kein Etikettenschwindel.

Im traurigen Monat November setzen die Aufzeichnungen ein, im traurigen Monat November brechen sie ab. Dazwischen liegt die Fußball-WM in Südafrika. Die Notizen könnten aber auch von April bis April führen oder von August bis August. Einen immerwährenden Kalender blättert die Verfasserin auf, in dem jeder Monat gleich traurig ist. Christiane Rösinger lebt in Berlin. Dort ist meistens schlechtes Wetter, das bei ihr für schlechte Laune sorgt. Scheint aber ausnahmsweise die Sonne, ist ihr der Tag erst recht verhagelt. Dann besetzen die dämlichen Pärchen die Parks, halten die dämlichen Händchen, tauschen dämliche Küsschen. Und treiben die «Paarkritikerin» zurück an den Schreibtisch.

Dort – so muss es sich Christiane Rösingers Lektor oder Agent gedacht haben – schreibt es sich von selbst, das Sachbuch, von dem Bahnhofsbuchhändlerinnen träumen, die Abrechnung mit der einzigen neben der Ukraine auf europäischem Boden verbliebenen Diktatur, der Tyrannei der RZB, der Romantischen Zweierbeziehung! Und es war ja kein Partner da, der die Autorin hätte warnen können.

Die Idee war aber auch gar nicht schlecht. Der alleinlebende Mensch zieht Mitleid auf sich. Seine Lebensweise gilt nicht als Lebensform. Ein Single, der Single bleiben will, kann selbst im fortschrittlichsten Großstadtmilieu nicht auf Toleranz hoffen. Diese Beobachtung verdient es, zur Diskussion und auf den Prüfstand gestellt zu werden. Seltsam nur: Christiane Rösinger wirft den Paarwesen zwar die schlimmsten Kränkungen an den Doppelkopf. «Das Pärchen an sich steht in der Artentabelle nur knapp über dem Einzeller oder dem Pantoffeltierchen.» Scheinbar macht das Wissen vom Pärchen an sich hier die Beobachtung des einzelnen Exemplars entbehrlich. Ginge Günter Wallraff wie die Paarkritikerin vor, wären bei seinen Ermittlungen über die Call-Center-Branche keine Telefonkosten angefallen.

Christiane Rösinger behält ihre Liebeslebenserfahrung für sich. Sie hat kein Bekenntnisbuch geschrieben und verschmäht damit das Erfolgsmuster der neuesten Traktatliteratur. Aus Diskretion schweigt sie auch über Unglücksfälle aus dem Freundeskreis. Die zerstörerische Dynamik intimer Verhältnisse lässt sich aber nur aus der Nähe studieren. Deshalb informiert man sich über dieses Thema eher in Romanen als in Sachbüchern. Die Selbstmordstatistik für Arztfrauen in der französischen Provinz sagt erst dann etwas über die Überbewertung der Liebe aus, wenn man «Madame Bovary» gelesen hat.

Eine Geschichte aus dem Nahbereich muss Christiane Rösinger dann doch weitererzählen. Sie spielt nicht in Berlin, sondern am anderen Ende der Welt, in der badischen Heimat der Autorin. Eine Schulfreundin, ewig glücklos in der Partnersuche, aber deshalb nicht unglücklich, findet doch noch den Richtigen, den sie zweifelsfrei identifiziert anhand unheimlich ähnlicher Vorlieben. Wenige Wochen nachhaltiger weiblicher Freizeitplanung lösen einen fatalen Anfall männlicher Bindungsangst aus. Die Winke des Himmels verwandeln sich im Rückblick der Paarkritikerin in Symptome des Willens zur Selbsttäuschung: Wie blöd muss man sein, um nicht nur die Übereinstimmung beim Lieblingslied, sondern auch die Verwechselbarkeit der Nummernschilder für bedeutsam zu halten? Exempel, bei denen so viele Details aufgehen, stimmen einen in Predigten allerdings misstrauisch.

Die im Spargeldorf steckengebliebene Freundin dient dazu, die Langzeitwirkung des platonischen Mythos der halbierten Kugelmenschen zu illustrieren. Zu allem Unglück nimmt die antiplatonische Paaridee des Buches im Buch Gestalt an: Es zerfällt in zwei Hälften, die nicht zusammenpassen wollen. Die Tagebuchpartien wechseln ab mit Kapiteln eines Kompendiums der Liebestheorien. Das Sachbuch ist ein Buch aus Büchern. Was die Wissenschaft, zumal die amerikanische, über die Paarbildung zu wissen behauptet, wird treuherzig referiert. Vergeblich wartet der Leser auf Ironiesignale. Für das Projekt der Paarkritikerin können die postulierten Gesetze nicht trivial genug sein: Was sich so einfach erklären lässt, steht wirklich nicht über dem Pantoffeltierchen.

Gelegentlich lässt die Autorin durchblicken, dass sie eigentlich etwas ganz anderes anprangern möchte: Das Ausgehen wird unterbewertet! Christiane Rösinger aber sitzt allein zu Hause und vertreibt sich die Zeit mit dem Abmalen der grafischen Darstellung der Liebesstile des kanadischen Soziologen John Lee. Früher hätte sie aus der grotesken Szene ein Lied gemacht.

Christiane Rösinger: Liebe wird oft überbewertet. Ein Sachbuch, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2012. 208 S., 13,99 €

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