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(picture alliance) Charlotte Roche und ihr egomanes Protokoll

Therapie im Selbstversuch - Charlotte Roche und das inszenierte Tabu

Hinter der Fassade des inszenierten Tabus schlummert die eigene Biederkeit. Warum Charlotte Roche eine egomane Protokollantin ist und ihr Roman „Schoßgebete“ alles darstellt, nur keinen Tabubruch.

Erst wenn das Tabu salonfähig ist, dann, ja erst dann sind wir endlich angekommen in der Postmoderne. Dann sind wir endlich angekommen in einer abendländischen Kultur, die die so mühevoll institutionalisierten Grenzen zugunsten eines neugeschöpften Relativismus aufzuweichen beginnt. Bravo, Charlotte. Chapeau, dass du diese gesellschaftliche Despotie des gemeinen Biedermanns so selbst- und furchtlos mit Schild und Schwanz, pardon, Schwert zu bekämpfen suchst.

Schöne neue gottlose Welt, die keine Ressentiments mehr kennt, kein schamvolles Erröten, keinen erhobenen Zeigefinger, der sich devot  und mahnend vor die geschürzten Lippen zieht, „shhh“, und den kastrierten, seiner Triebe entwöhnten Citoyen an den Fauxpas erinnert; an eine kulturell überformte Übereinkunft, die den menschlichen Habitus auf elementare Weise gebietet beziehungsweise verbietet. Es war einmal das im stillschweigenden Abnicken hingenommene Reglement. Gibt es nicht mehr, den Fauxpas, das Tabu. Ist ja jetzt alles postmodern.

So können wir dann auch der Redekunst getrost Lebewohl sagen, der Kunst des Redens, der Rhetorik, die unter anderem die Intimdistanz von mindestens einer Armlänge des eigenen Körpers bei einem Vortrag als angemessen beschrieb. Das Achten dieses gut gemeinten Abstands – aus Höflichkeit und Respekt seinem Gegenüber geschuldet – ließ sich einmal unter sozialer Kompetenz verbuchen.

Nun aber haben wir Charlotte, sozial inkompetent. Wir alle kennen ihre kleine traurige Geschichte, von dem Mädchen, dem Scheidungskind, das sich nach bedingungsloser Liebe und Anerkennung sehnt. Von der jungen Frau, die an ihrem Hochzeitstag die Nachricht vom Tod ihrer drei Brüder erhielt, die bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren. Seither rechtfertigt sie die eigene Soziopathie und die ihres Alter Egos mit ihrem Trauma und therapiert sich in aller Öffentlichkeit und vor den Augen der Welt, damit nur ja jeder Anteil nimmt, damit nur ja jeder aufmerksam wird, auf diese kleine geschundene Seele.

Diese Rolle hat sie sich auf den Leib und quer durch ihren neuen Roman geschrieben. Wie einen Köter, der stubenrein werden muss, presst sie hier des Lesers Gesicht mit der neuen postmodernen Roche’schen Rhetorik, mit ihrer Art, die Dinge beim Namen zu nennen, in das eben verrichtete Geschäft: in unsere eigene Biederkeit. Unverfroren rückt sie sich explizit über die doch ausdrücklich empfohlene Armlänge hinweg, dringt ein in die tabuisierte Intimzone eines jeden, kommt so nah, dass man beim Lesen die feuchte Aussprache spürt und sich ihren Speichel pikiert aus dem Auge reiben muss.

Denn genau dieser Biederkeit will sie ja an den Kragen. Akribisch inszeniert sie dafür das egomane Protokoll einer Existenz, die einzig und allein zum Angaffen da ist. Alle Welt soll sich empören oder vor Hysterie im Überschwang versinken. Alle Welt soll sich laben an ihrem Schicksal; polarisieren will sie, entweder in die eine oder in die andere Richtung, danach lechzt sie so verzweifelt. Deshalb die vermeintlichen Tabubrüche, die letztendlich doch aber nur Inszenierung sind, Schauspiel, Drama. Denn wie sagte einst Schriftstellerin Thea Dorn zu diesem seichten Spiel mit der Provokation: Hinter der Fassade des Tabubruchs schlummert die eigene Biederkeit.

So heuchelt sich Charlotte also in „Schoßgebete“ über 283 Seiten hinweg in den Anything-Goes-Literaturolymp der popliterarischen Postmoderne (die doch eigentlich schon längst überlebt ist) und betreibt hier ihren literarischen Exhibitionismus, wichst und masturbiert sich durch ihr Trauma und verfängt sich dabei konsequent in Widersprüchen: Sie predigt den neuen Feminismus, während sie sich gleichzeitig dem archaischen Rollenbild der perfekten Ehefrau und Mutter unterwirft. Sie huldigt dem Sex als Religion des 21. Jahrhunderts, während sie im nächsten Satz zu Gott spricht, den es nicht gibt, damit ihre Seele, die es ebenfalls nicht gibt, endlich gesund würde. Dabei kompensiert sie das Übermaß an sexueller Fleischeslust durch einen zelebrierten Vegetarismus, auch eine Ersatzreligion seit Safran Foer. Entfleischlicht in der Fleischlichkeit. Vielleicht ist das raffiniert. Vielleicht ist es aber auch einfach nur schizophren. Das ist ja das Dilemma mit der Postmoderne. Wesentlich ist jedenfalls, dass sie mit dieser pseudotherapeutischen Selbstbeweihräucherung vor allem eines herausstellt – wenn auch unabsichtlich: Dass es ihr neben körperlichem doch vor allem nach spirituellem Geleit verlangt in einer so absurden Welt, in der Brüder einfach so am Hochzeitstag sterben. Das ist die Groteske, die selbst die Autorin nicht versteht, gegen die sie sich zu wehren sucht.

Und das ist wiederum nicht neu. Blicken wir zurück zum Existentialismus Jean-Paul Sartres oder Simone de Beauvoirs. Allen voran prangt aber doch Albert Camus, für welchen die Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Seins in der ständigen Revolte des Menschen gegen das Absurde lag. In dem Bewusstsein, dass keine Ordnung existiere, dass kein Vertrauen in Gott oder gar die eigene Vernunft gelegt werden könne, müsse der Mensch die absurden Verhältnisse von Mensch und Welt, die Bürde, die einem das Leben auferlegt, anerkennen, um frei zu sein. Und so revoltiert sie. So stemmt Charlotte, gleich Sisyphos, ihr Schicksal Tag für Tag den Berg hinauf. Ein Buch ums andere.

Dieses zweite Buch. Man könnte hier den Diplomaten mimen. Man könnte argumentieren, niemand ist dazu angehalten das lila Buch mit den zwei bezeichnenden Eicheln auf dem Umschlag aufzuschlagen und sich all den Sex und all den Tod um die Ohren schlagen zu lassen. Doch kommt man, selbst wenn man wollte, nicht darum herum (außer in der aktuellen Ausgabe des CICERO. 100% ohne Charlotte, zertifiziert mit Stempel!). In schamloser Penetranz springt es uns doch aus jedem Feuilleton, aus jeder seichten Talkrunde entgegen. Betritt man einen Buchladen, dann türmt sich Charlottes Wall vor unseren Augen auf, das viele Lila, die vielen Eicheln. Man will sich die Hand vors Gesicht halten und blinzelt doch durch die gespreizten Finger hindurch. Und warum tun wir das? Um unseren eigenen Voyeurismus zu bedienen. Der eine ein bisschen, der andere ein bisschen mehr.

„Schoßgebete“ ist alles, nur kein Tabubruch. Leicht drängt sich das Wörtchen Autobiographie auf. Im besten Fall ist es ein therapeutischer Selbstversuch, von dem uns letztlich nur die Autorin sagen kann, ob er ihre Seele zurechtgerückt hat. Im schlimmsten Fall ist es ein ernstgemeinter Roman. Wunden mögen heilen, die Narben bleiben jedoch sichtbar, ein Leben lang. Und sei es in Form eines lila Romans mit zwei Eicheln auf dem Umschlag.

Um es frei nach Hermann Hesse zu sagen: Wohlan denn, Charlottes Herz, nimm Abschied und gesunde!

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