Thomas Meineckes „Lookalikes“ - Alles irre komplex

Thomas Meinecke schlägt sich mit seinem neuen Roman durch einen Dschungel an Verweissystemen

Die Romane von Thomas Meinecke zu lesen, kommt selten einem Sonntagsspaziergang gleich. Sie verströmen den Reiz mehr oder minder mühseliger Exkursionen durch ein Dickicht kulturtheoretischer Zitate und popkultureller Verweise. Die Romanfiguren sind dabei meist nicht viel mehr als die Träger des „Diskurses“. In Meineckes neuem Roman „Lookalikes“ haben sie nun nicht einmal mehr eigene Gesichter, sondern tragen diejenigen von Josephine Baker und Serge Gainsbourg, Britney Spears und Greta Garbo: Sie sind „Lookalikes“, pflegen ihre Ähnlichkeit mit den Berühmtheiten, bei Foto-Shootings und Wohltätigkeitsbällen verdienen sie sich damit Geld. Die meiste Zeit jedoch lesen und recherchieren sie im Internet, schauen Filme und diskutieren.

Sie knien sich derart hinein in ihre Themen, dass der Leser schon bald gar nicht mehr die Diskutierenden vor Augen hat, sondern die Diskussion an sich, einen hoch konzentrierten Themenwust. Es geht um Mode und Pelze, Begehren und Identität, Reisen und Religion, Authentizität und Synkretismus, gender und Musik, dauernd tauchen transdisziplinäre Bezüge auf – „alles irre komplex“, wissen auch die Lookalikes. Typisch Meinecke eben.

Ganz und gar untypisch ist hingegen, dass der Autor hier selbst im Roman auftaucht: „Thomas Meinecke ist jetzt eine Romanfigur“, heißt es nach dem ersten Viertel von „Lookalikes“ – erstaunlich bei einem Autor, der sich sonst so weit wie möglich zurücknimmt und höchstens den Kitt zwischen unterschiedlichen thematischen Schnipseln liefert. Bisher bestand die Funktion des Autors in Meineckes Romanen hauptsächlich darin, Ausschnitte dessen, was er selbst gerade liest, anei-nander zu reihen. Hier nun sitzt auf einmal der „Popliterat Meinecke“ höchstselbst im Flugzeug nach Brasilien, um in der Stadt Salvador da Bahia an einem Schriftsteller-Austausch teilzunehmen.

Dieser Austausch hat auch außerhalb des Romans: im wirklichen Leben, stattgefunden. Thomas Meinecke hat im Jahr 2010 drei Monate in Salvador gelebt und sich dort auf die Spuren des Autors Hubert Fichte begeben, bereits ein alter Bekannter aus anderen Romanen Meineckes. Währenddessen hat er Tagebuch geführt und die Texte später in „Lookalikes“ eingearbeitet. Lesen und Erleben, Diskurs und Alltag kommen hier nun einander in die Quere: „Gott sei Dank befinde ich mich nicht andauernd in ungewohnter Umgebung“, seufzt die Schriftstellerfigur Meinecke innerlich. „Ich käme ja überhaupt nicht mehr zum Lesen.“

Natürlich gelingt es Thomas Meinecke dann aber doch, die Lektüre von Fichtes Werk und das „Erwandern des Stadtplans“ miteinander zu vereinen: „Der Stipendiat lässt sich die Endstationen der im Verkehrsgewühl passierenden Busse auf der Zunge zergehen (lässt sie gleichsam auf Hubert Fichtes Zunge zergehen, der diese Vokabeln auf den Tondokumenten, die Thomas besitzt, in lustvoller Appropriation beinahe musikantisch umzusetzen pflegte): Bonfim, Itapuã. Die jetzt ungemein belebte obere Avenida kannte der Deutsche bislang lediglich als (von vereinzelten weiblichen Prostituierten vor heruntergelassenen Rolläden abgesehen) ausgestorbenen Abschnitt von nächtlichen Taxifahrten.“ Dass das staubtrocken klingt, ist Absicht. Genau wie der Autor Meinecke selbst kennt auch seine Romanfigur Meinecke sich hervorragend im postmodernen und postkolonialen Gedankengut aus und pflegt deshalb bei der Eingewöhnung in die Fremde eine distanzierte Selbstbeobachtung. Geradezu wie ein Musterschüler der postcolonial studies wirkt er dabei, und der Leser ahnt: Dass Meinecke sich dieses Mal selbst in seinen Roman hineinschreibt, ist doch gar keine Revolution seines Romankonzepts, sondern dient ganz dem Themenspektrum, das seine Bücher stets aufspannen.

Die Debatten der Lookalikes um gender, Musik und Mode finden ihr Echo in Meineckes Besuch bei Zeremonien des Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion. Immer wieder werden die Oberflächen von Stoffen, Städten, Körpern, Religion und Sprache abgetastet. Angereichert mit Bausteinen aus Theorie-Texten von Julia Kristeva, Roland Barthes oder Homi K. Bhabha werden so Identitätsfragen gestellt. Und wie passend ist es da, dass sich der Duktus des Romans demjenigen des Internet-Netzwerks Facebook verschrieben hat: Die Romanfiguren chatten, schreiben sich gegenseitig auf virtuelle Pinnwände und schicken einander Links. So schaffen sie auf einer virtuellen Oberfläche neue Entwürfe ihrer selbst.

Damit zeigt sich auch die wahre Gestalt von „Lookalikes“: Thomas Meinecke hat vor allem ein Lektüre- und Erlebnisprotokoll getippt, kopiert und eingefügt. Hätte dieser fast undurchdringliche „Verweis-Dschungel“ seine digitale Form behalten, könnte man sich leicht kreuz und quer von Link zu Link klicken. Stattdessen gilt es hier, sich durch vierhundert nach gewohnter Meinecke-Manier beschriebene Seiten zu pflügen – wegen immerwährender Mühseligkeit irgendwann doch ein ziemlich zweifelhaftes Vergnügen.

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