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Einwanderungsgesellschaft - Auch Deutsche müssen sich integrieren

Nicht nur Einwanderer müssen sich anpassen. Auch Einheimische sollten ein Gespür für ihre neuen Mitbürger entwickeln, empfiehlt die Soziologin Annette Treibel. In ihrem Buch „Integriert euch!“ gibt sie humorvolle Tipps für das korrekte Verhalten in der Einwanderungsgesellschaft

Autoreninfo

Annette Treibel ist Soziologin und Professorin für Soziologie im Institut der Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe

So erreichen Sie Annette Treibel:

Fünf Jahre nach Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ wagt sich die Soziologieprofessorin Annette Treibel an einen Gegenentwurf, ihr Motto: „Deutschland findet sich neu“. In ihrem Buch „Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland?“ analysiert Treibel Alltagssituationen, Mediendebatten und Forschungsergebnisse zu Migration und Integration. Bei Cicero lesen Sie das erste Kapitel, das Tipps zur ersten Begegnung mit einem Neuen Deutschen gibt.

 

Wo kommen Sie denn her? Wieso schlecht ankommt, was gut gemeint ist
 

Deutsche mit dunkler Haut- oder Haarfarbe oder einem ausländisch klingenden Namen können fast darauf wetten, dass ihnen eine bestimmte Frage gestellt wird. Bekannte, aber auch völlig Unbekannte, fragen: „Woher kommen Sie denn?“ Sie antworten: „von hier“ oder „aus Karlsruhe“, „aus Brandenburg“ oder auch „aus Wien“.

Häufig geben sich die Fragenden damit nicht zufrieden, sondern haken nach: „Nein, ich meine, wirklich herkommen?“ Wenn die Antwort dann die gleiche bleibt, lautet die Anschlussfrage: „Ich meine natürlich, wo Sie geboren sind! Wo kommen Sie ursprünglich her?“ Ist die Antwort immer noch unverändert, kommt die Fragenkette schließlich zu dem Punkt: „Dann halt Ihre Eltern, wo stammen die denn her?“

Wer das kennt, ahnt meist schon zu Beginn, worauf es hinausläuft, kürzt nach der ersten Frage ab und gibt Auskunft: „Ich bin hier geboren, meine Eltern auch, aber meine Großeltern stammen aus der Türkei bzw. Marokko.“ Wer Pech hat, wird trotz seiner Beheimatung in Deutschland in ein Gespräch über die Einwanderung der Großeltern oder über die politische Situation in der Türkei oder in Marokko verwickelt. Das Gespräch endet dann häufig mit dem überraschten Statement: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“

Spätestens dann reißt vielen der so Gelobten der Geduldsfaden. Was sollen sie denn sonst auch tun, als (gut) Deutsch zu sprechen, wo sie doch in Deutschland aufgewachsen sind? Und so nicken sie nur gequält, weil sie diese Art von Kommunikation leid sind, ihrem Ärger aber nicht Luft machen wollen. Warum hält sich diese Frage – „Woher kommen Sie?“ – so hartnäckig?

Bedürfnis nach Orientierung
 

Fragt man die Fragenden selbst, so sagen sie, es sei schlichte Neugierde: „Ich interessiere mich eben für andere Menschen.“ – „Ich finde es einfach interessant, was andere Menschen so erlebt haben.“ – „Das ist doch nicht böse gemeint, wie kann man das denn übel nehmen?!“ – „Ich nehme eben Anteil am Schicksal anderer Menschen.“ Die Fragen sind also gut gemeint. Es wird angenommen, dass das ausländische Aussehen oder der ausländische Namensklang Anlass für spannende Geschichten und die Möglichkeit zur Anteilnahme bieten.

Die Fragenden suchen einen Anker für ihren Kontakt. Sie sind vielleicht unsicher, möchten sich in Beziehung setzen, möchten die Beziehung klären. Sie haben ein unterschwelliges Bedürfnis nach Orientierung und Ordnung. Und die Gefragten spüren möglicherweise, dass die gut gemeinte Frage mehr mit dem Fragenden selbst als mit ihnen zu tun hat.

Der Wunsch, sich auf diese Weise in Beziehung zu setzen, stößt auf Unbehagen, da er sich nicht mit den eigenen Beziehungswünschen deckt. Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, möchten als Einheimische und nicht als Eingereiste, die überraschend gut Deutsch können, angesprochen werden.

Die Frage nach der Herkunft ist nicht mehr angemessen
 

Was also genau passt nicht mehr? Die Frage „Woher kommen Sie?“ ist nicht angemessen für Einwanderer, für die Deutschland Heimat geworden ist. Und sie passt von Anfang an nicht für die in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern. Diese kommen nicht von irgendwo anders her, sondern sie stammen aus Deutschland, also aus Orten wie Pforzheim, Leipzig, Hamburg oder Krefeld.

[[{"fid":"66728","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":638,"width":750,"style":"width: 250px; height: 213px; float: left; margin: 5px 3px;","class":"media-element file-full"}}]]Die gut gemeinte Frage und vor allem das Nachhaken, wenn als Geburtsort eine deutsche Stadt genannt wird – „Nein, ich meine ursprünglich!“ – verstimmt Menschen, die sich als Pforzheimer oder Hamburger verstehen und für die nicht der Herkunftsort ihrer Eltern oder Großeltern, sondern Deutschland die Heimat ist. Sie fühlen sich mit dieser Frage nicht wirklich gemeint.

Wie sich das anfühlt, immer auf die fremde Herkunft zurückverwiesen zu werden, zeigen zwei Beispiele, die für zahlreiche andere stehen können. Das erste findet sich in der Dissertation von Anett Schmitz Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland (Schmitz 2013). Schmitz selbst ist russlanddeutsche Aussiedlerin und schildert im Vorwort ihres Buches, welche Erfahrungen sie zu ihrem Thema geführt haben:

„Als mich auf einer großen Hochzeitsfeier, wo ich unter all den einheimischen Deutschen als ›Fremde‹ identifiziert wurde, ein älterer Mann plötzlich fragte, wo meine Heimat sei, kam diese Frage genauso überraschend und provokativ für mich, wie meine Antwort für diesen Mann: ›Meine Heimat ist in Deutschland.‹ Der Mann schaute mich entsetzt an und präzisierte seine Frage noch einmal: ›Nein, ich meine woher kommen Sie? Seit wann sind Sie in Deutschland? Sie haben doch eine Heimat?‹

Soll ein Mensch, der aus einem Land vor zwölf Jahren nach Deutschland migriert ist und in seinem Aufnahmeland bereits eine erfolgreiche Integration durchlaufen und seinen Platz gefunden hat, sich ausschließlich zu seinem Herkunftsland als Heimat bekennen? Kann er sich nicht Deutschland als eine neue Heimat aneignen, auch wenn er durch Äußerlichkeiten oder seinen Habitus als Fremde(r) identifiziert wird?“ (Ebd.: 9f.)

Ich Deutscher – du Ausländer


An dieser Begegnung ist die heftige Reaktion des Mannes interessant. Offensichtlich würde er die Frage, die Schmitz stellt: „Kann man sich Deutschland nicht als eine neue Heimat aneignen?“ vehement verneinen. Aus seiner Sicht bleibt die eingewanderte Russlanddeutsche immer Russin und soll daruber Auskunft geben. Aber warum?

Er selbst würde sich vermutlich nicht für übergriffig halten, hat er doch nur freundlich gefragt. Es sei doch immer interessant, etwas über andere Länder zu erfahren. Mit der Identifikation der jungen Frau mit Deutschland hatte er offensichtlich überhaupt nicht gerechnet und ihr Verhalten wohl seinerseits als übergriffig empfunden, nach dem Motto: „So einfach sucht man sich nicht eine neue Heimat aus!“

Die proaktive Selbstzuordnung der Einwanderin zu Deutschland als ihrer neuen Heimat durchkreuzt die festgefügte Vorstellung des Mannes: Ich bin Deutscher – sie ist Ausländerin. Seine Verblüffung rührt daher, dass sie ihm das Heft aus der Hand genommen hat. Die von ihm unterstellte Hierarchie ist durchbrochen. Die „Ausländerin“ ihrerseits fühlte sich ausgegrenzt und herablassend behandelt.

In den USA fragt niemand, wo man herkommt
 

Bei manchen eingewanderten Deutschen wächst sich die Irritation zu handfestem Zorn aus, wie aus einem Artikel der Berliner Anwältin und Publizistin Seyran Ateş (2007) hervorgeht – mein zweites Beispiel: „Ich kann nicht sagen, wie oft ich schon danach gefragt wurde, wie ich mich selbst bezeichnen wurde. Als deutsche Türkin, als türkische Deutsche, türkisch-kurdische Deutsche, Deutsch-Türkin, Deutsche mit Migrationshintergrund, Deutsche, Türkin? Lange Zeit habe ich mich über diese Frage und vor allem über die Fragesteller geärgert. Inzwischen ist weniger Ärger als Wut darüber, dass diese Frage so aktuell ist wie 1983, als unser Buch ›Wo gehören wir hin?‹ erschien. 1986 war ich in den USA – und hatte dort das erste Mal das Gefühl, ich zu sein, nur ich, Seyran Ateş. Niemand fragte danach, wo ich herkomme. Und wenn die Frage dann doch kam, war es mehr die Frage danach, woher ich als Tourist, der ich dort nun mal war, komme.“ (Ebd.)

Woher rührt diese Wut? Sie rührt daher, wie Ateş selbst schreibt, dass man so lange in Deutschland leben und so lange Deutsche sein kann, wie man will, und trotzdem auch nach 25 Jahren für viele noch nicht dazugehört. Ihre Schilderung zeigt, dass es offenkundig ein nach wie vor starkes Bedürfnis nach Einordnung gibt.

Die Frage nach Herkunft und Identität wird jedoch als anmaßend empfunden, in ihr kommt eine Hierarchie zum Ausdruck. Sie überschreitet eine Grenze und setzt selbst eine Grenze, nämlich die zwischen einheimisch und ausländisch. Undenkbar, dass sie in umgekehrter Richtung gestellt wird. Sich diese Frage abzugewöhnen, könnte ein wichtiger Schritt in Richtung „Integration in ein Einwanderungsland“ sein.

Mit Humor und Witz zurückschlagen


Noch einmal zurück zu Seyran Ateş. Nun handelt es sich bei ihr um eine streitbare Autorin, die selbst Freude an der Kontroverse hat und ihrerseits vor Provokationen nicht zurückschreckt. Überraschenderweise plädiert sie im Umgang mit dem Thema Einwanderung bei allen Problemlagen vor allem für Offenheit, Gelassenheit und wechselseitiges Zuhören: „Humor ist etwas, was uns wirklich helfen konnte.“ (Ateş 2007)

Diese Position liegt voll und ganz auf meiner Linie. Humor und Witz sind unterschätzte Kommunikationshilfen. So könnten die zum wiederholten Mal Gefragten dem Gespräch eine andere Richtung geben. Sie könnten ihrerseits nach dem Geburtsort – oder besser noch – nach der Meinung oder Erfahrung mit einem Thema fragen, das nicht unmittelbar das persönliche Feld der Herkunft betrifft.

Allerdings müssten sie derzeit wohl noch damit rechnen, dass ihnen diese Neudefinition der Situation als Unfreundlichkeit ausgelegt wird – aber wer weiß: Integration ist ein wechselseitiger Prozess, und da sollten die Einwanderer ruhig auch die Initiative ergreifen und sich den Einheimischen als ebenfalls Einheimische erklären.

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Annette Treibel: Integriert euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland. Campus Verlag, 208 Seiten, 19,90 Euro. Das Buch ist am 10. September erschienen.

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