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Flatrate-Essen - Sonntags wird gebruncht

Sonntags wird gebruncht: Die Deutschen lieben das Flatrate-Essen. Ahnen sie, dass jeder Brunch ihnen den Sozialstaat auf den Teller bringt? 

Autoreninfo

Julius Grützke ist Autor und Gastronomiekritiker. Er lebt in Berlin

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Die Sonntagsruhe in Deutschland ist nach wie vor sakrosankt. Die Tradition von Kirchgang und Sonntagsbraten mag Vergangenheit sein, doch der siebte Tag ist und bleibt etwas Besonderes. An die Stelle des festlichen Mittagessens im Kreis der Familie ist ein anderes Ritual getreten. Der Brunch, eine Mischform aus Frühstück, Mittagessen und Kaffeekranz, führt Pärchen und Freundeskreise an ein großes Buffet, dessen Speisen eine Gemeinsamkeit haben: Keine ist frisch zubereitet.

Seit den siebziger Jahren breitet sich dieses Gabelfrühstück von Hotels, die ihre Frühstücksbuffets sonntags der Allgemeinheit zugänglich machten, in Cafés und Restaurants aus, die es in verschiedenen Spielarten mit den immer gleichen Regeln anbieten. Der Gast zahlt einen einmaligen Pauschalbetrag für den Zugang zu den Speisetischen, auf denen sich die Nahrung wie auf einer Weltkarte präsentiert. Die kostspieligeren Delikatessen sind schnell vergriffen. Wohlweislich nicht abgeräumte Platten mit kümmerlichen Resten beweisen, dass hier einmal Hummerschwänze und Roastbeef kredenzt wurden und man zu spät gekommen ist und sich deshalb mit Salaten aus Nudeln und Couscous begnügen muss.

Der Brunch ist eine durch und durch formlose Angelegenheit. Es werden keine Einladungen ausgesprochen, Verabredungen sind nicht bindend und betreffen höchstens einen Zeitraum, der sich auf mehrere Stunden erstreckt. Die Speisenabfolge ist frei wählbar, das Dessert darf vor Antipasti und Caprese verzehrt werden. Zum Cappuccino wird Prosecco getrunken, den Staudensellerie begleitet das Tiramisu. Die freie Auswahl am Buffet und die Möglichkeit, selbst die Portionen zu bestimmen, erklären, wie der Brunch zu einer kulinarischen Sonntagsschule werden konnte. Auch die heute weitverbreiteten Allergien und Ressentiments gegen bestimmte Nahrungsmittel werden hier gar nicht erst zum Thema, weil jeder nach Gusto den Teller füllt.

Obwohl der Brunch einen festen Platz im Speisenplan hat, ist sein kulinarischer Stellenwert gering. Nicht zuletzt deshalb meiden die Chefköche diese Buffets und überlassen die Zubereitung den Gardemangers, Spezialisten für kalte Speisen und Resteverwertung. Von solchen Kaltmamsells schaut sich kein Hobbykoch etwas ab. Auf einem anderen Gebiet lassen sich aber aus dem Brunch Erkenntnisse gewinnen, deren Stellenwert über den eines Rezepts für Avocadocreme oder Gemüsequiche hinausgehen.

Um die Sonntagsruhe zu bewahren, spielt das Geld keine große Rolle. Die Gäste haben eine Flatrate bezahlt und werden dafür freigehalten. Das nutzen die Dreisten weidlich aus. Kurz nach Beginn sind Graved Lachs und Krabben von den Platten geputzt und in großen Portionen auf die Teller von gewieften Brunchlern verfrachtet worden. Dort verrotten sie im Laufe des Tages, weil man so viel Fett und Eiweiß gar nicht verdauen kann. Später hinzugekommene Gäste, die mit Brot und verschwitztem Käse vorliebnehmen müssen, blicken neidisch auf die verschwenderischen Anhäufungen auf den Tellern von Leuten, die das Gleiche bezahlt haben wie sie. Niemand allerdings würde einen Streit anzetteln und den Sonntagsfrieden stören. Wenn überhaupt Klage geführt wird, dann gegen den Wirt, der mit dem Lachs geizt und nichts nachlegt. Doch obwohl der Vorwurf in den meisten Fällen zutrifft, brächte eine Vergrößerung des Angebots kaum eine Abhilfe – auch sie würde von den Raffzähnen bei erster Gelegenheit abgeräumt. Weil der Wirt diesen Effekt kennt, verringert er eher noch das Angebot an Premiumspeisen, die er nur noch für die Werbung einsetzt.

Feste Beitragssätze, Bevorzugung der Unverfrorenen und absinkende Qualität: So etwas lässt sich auch im Sozialstaat beobachten. Und genau wie beim Sonntagsbrunch werden die offensichtlichen Mängel des Systems auch im politischen Leben hingenommen. Wer etwas daran zu ändern versucht, zieht sich den Zorn der Bürger zu – und verliert womöglich auch die Macht. Denn gewählt wird immer sonntags nach dem Brunch. 

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