Kurz und Bündig - Björn Bicker: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da

Manchmal findet sich das gute alte Theater mitten in der Realität wieder: Björn Bicker, Dramaturg an den Münchener Kammerspielen, hat unter seinem Autornamen Polle Wilbert mehrere Stücke geschrieben, die sich an der Schnittstelle von Dokumentation und Kunst bundesdeutschen Wirklichkeiten nähern. Zuletzt brachte er mit «Illegal» eine Collage auf die Bühne, die auf Protokollen von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung beruht.

Manchmal findet sich das gute alte Theater mitten in der Realität wieder: Björn Bicker, Dramaturg an den Münchener Kammerspielen, hat unter seinem Autornamen Polle Wilbert mehrere Stücke geschrieben, die sich an der Schnittstelle von Dokumentation und Kunst bundesdeutschen Wirklichkeiten nähern. Zuletzt brachte er mit «Illegal» eine Collage auf die Bühne, die auf Protokollen von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung beruht. Allein in München leben mehrere Tausend von ihnen, und was sie zu sagen haben, ist gekennzeichnet von Bitterkeit, Abgebrühtheit, Traurigkeit und manchmal auch unverhohlener Resignation. Wer keine Papiere hat, muss sich unsichtbar machen, und die einzige Frage, die sich stellt, lautet: «Wirst du abgeschoben oder wirst du nicht abgeschoben?» Die Illegalen aus der Ukraine, aus Ecuador oder Kurdistan meiden not­gedrungen die Öffentlichkeit; vom sozialen Leben sind sie ausgeschlossen, sie müssen sich ihr Leben und ihre Würde unter ständiger Angst, entlarvt zu werden, erkämpfen. Als Theaterstück und Hörspiel funktioniert diese Choreografie der Stimmen, die sich manchmal zu einem Chor der Illegalen vereinigen, wie ein rasender Trip in eine unbekannte Parallelwelt: Eine Vielzahl von Interviews mit Betroffenen und Sozialarbeitern hat Bicker zu einer Kunstsprache destilliert. Das Hörspiel schafft eine klaustrophobische Atmosphäre; nicht zuletzt so wunderbare Sprecher wie Peter Fricke erzeugen dabei einen Sog, der einen in die Seitenstraßen und Hinterhöfe der Republik zieht. Ob dies aber auch als Buch funktioniert – vierzig Jahre, nachdem im Rah­men der «politischen Alpha­betisierung» der Republik das Genre Dokumentarliteratur eine kleine Hochphase erlebte? Doch, das tut es! Und dies liegt vor allem an einer Erkenntnis, die Feridun Zaimoglu schon Mitte der neunziger Jahre mit «Kanak Sprak» beherzigt hat: Die reine Dokumentation genügt nicht. Es geht immer auch um Stilisierung und Verdichtung, die ein Anliegen mit einer ästhetischen Wirkung verbinden und aus Einzelfällen Allgemeingültiges entstehen lassen können. Bickers Theatralisierung der Stimmen wird so nicht nur zu einem Hör-, sondern auch zum Lese-Erlebnis: Er bleibt seinen «Figuren» treu, indem er ihnen auf dem Papier eine Sprache gibt, die ihr Denken nicht verfälscht und ihnen einen eigenen Ton verleiht. «Mein leben läuft anders», sagt eine der Figuren. «in einem land sein und doch nicht in einem land sein, mitmachen ohne mitzumachen. alles sehen aber nichts berühren. wissen dass man glüht aber nicht verbrennen. das ist die kunst.» Freiheit bedeutet hier Krise. Dennoch bleibt in dem schmalen Buch immer der Wille spürbar, doch den längeren Atem zu haben und als «neuer Mensch» dem Schlamassel schließlich zu entrinnen.  

 

Björn Bicker
Illegal. Wir sind viele. Wir sind da
Kunstmann, München 2009. 125 S., 14,90 €
 

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