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() Die Macht der Geschlechter-normen

Bücher des Monats - Bist du ein Gender? Hast du Sex?

Wie Judith Butler, die Erfinderin theoretischer Geschlechterwirren, neuer­dings eine Ethik verletzlicher Menschen skizziert

Damals, Anfang der Neunziger, schlug «Gender Trouble» ein wie eine bunt verkleidete Karnevalsbombe. Feministinnen stellten nicht mehr wie im Jahrzehnt zuvor Betroffenheit aus oder rangen um Authentizität, sondern alle redeten über «performative Subversionen», Drag Kings, Butches und Femmes, über Strategien der Verschiebung, über Zwangsheterosexualität und die Enge der Zweigeschlechtlichkeit, die es aufzubrechen gelte. Männer tauchten mit Lippenstift auf, Frauen ließen sich Bärte stehen, es gab schwule Mädchen und Femme-Boys, ein wildes Zitieren und Performieren überall. «Mann» und «Frau» durften nur noch in Anführungsstrichen geschrieben werden.

Naja, ganz so war es natürlich nicht, aber zumindest galt das für studentische und popkulturelle Milieus, und vielleicht wird man sich eines Tages so erinnern, mit einem Quäntchen Verklärung, wie das bei Ikonen der Fall ist. Als Theorie-Popstar wird die 1956 geborene Judith Butler jedenfalls schon lange gehandelt. Man denke an die Romane von Thomas Meinecke: «Tomboy» erschien vor zehn Jahren. Und wenn Butler, wie vor kurzem, an der Berliner Freien Universität mit einem Vortrag auftritt, jubeln ihr Tausende zu und rätseln anschließend über Hegel-Zitate.

Dabei wird oft vergessen, dass schon «Gender Trouble» – 1991 als «Das Unbehagen der Geschlechter» erschienen – ein schwieriges Buch war, das auf verwirrende Weise mit der Psychoanalyse und dem Ödipuskomplex jonglierte. Aber so war es ja auch gedacht: als Verwirrung vermeintlich feststehender Geschlechtergrenzen, die dem «sex», dem biologischen Geschlecht, die natürlich nicht fixierte Geschlechtsidentität, «gender», entgegenstellt – und vielleicht machte der virtuose Theoriezauber einen Gutteil der Attraktion dabei aus. Vor allem aber ging es um eine Veränderung der Verhältnisse: Butler, das war Spaß am Künstlichen und Provokation des Establishments. Nur hatten im geschlechterkonstruktivistischen Überschwang viele unterschätzt, dass auch die ironischste Performanz manch­mal an der Macht der Verhältnisse oder an simpler Gewalt scheitert.


Verwandtschaft und Inzest

Gewalt – die regulierende Macht von Normen, aber auch die körperliche, homophobe oder militärische Gewalt – war schon früh ein Thema bei Butler und ist in den letzten Jahren verstärkt in ihren Fokus gerückt. Wie soziale Ordnungen Gewalt ausüben, steht auch in ihrem neuen Buch über «Die Macht der Geschlechternormen» zur Debatte. An dieser Essay-Sammlung lässt sich gut beobachten, wie die Gender-Theoretikerin selbst ihre grundstürzende Infragestellung der Geschlechtergrenzen wei­terdenkt. Die zwischen 1999 und 2004 entstandenen Texte kreisen um Fragen, die sie auch in jüngeren Veröffentlichungen wie «Kritik der ethischen Gewalt» oder «Gefähr­detes Leben» stellt: Wer bestimmt, welches menschliche Leben als wertvoll gilt? Wo verlaufen die Grenzen des Menschlichen? Was heißt es, ein Gender zu wählen?

Dabei beleuchtet sie die Homo-Ehe ebenso wie die Konflikte der «Intersex»- und «Transsex»-Bewegungen. Sie rekonstruiert, wie das feministische Denken von Personen mit unterschiedlichsten Modifikationen
ihrer Geschlechtlichkeit herausgefordert wird. Sie untersucht, warum Verwandtschaft auch in homosexuellen Zusammenhängen gedacht werden kann. Sie erläutert noch einmal die «Zwickmühlen des Inzestverbots». Und sie fragt, welche Gruppen um ihre gesell­schaftliche Anerkennung gebracht werden – und was es andererseits heißt, die Anerkennung etwa des Staates zu begehren.


Kein richtiges Leben verkörpern

Dies alles geschieht im gewohnt hochtourigen Butler-Sound, der der Leserin einige Konzentration abverlangt – um dann plötzlich auch sehr konkret und anschaulich zu werden. Etwa dann, wenn die Philosophin die traurige Geschichte von Brenda/David erzählt: Bei einem medizinischen Unfall hatte man dem Baby den Penis abgetrennt; daraufhin wurde David zum Spielball konkurrierender Mediziner und Ideologien. Auf ärztlichen Rat erzog man ihn als Mädchen, aber als Jugendliche/r wollte Brenda wieder ein Junge sein. Im Kampf zwischen den Verfechtern sozialer und biologischer Wurzeln des Geschlechts schien die Bio-Fraktion einen glatten Sieg davongetragen zu haben. Butler dagegen will nicht nur den vorab festgelegten Diskussionsrahmen überschreiten; sie will vor allem die Würde einer Person schützen, die in mehrfacher Hinsicht verletzt wurde. «Jemandem gerecht werden» heißt denn auch der Essay.

Vor allem aber setzt die Theoretikerin in diesem Buch zu einer Ethik der Verletzbarkeit an, die vom «gefährdeten Körper» ausgeht. Wir alle, schreibt sie mit Blick auf den 11. September, sind verletzlich. Und wer die Erfahrung der Verwundbarkeit gemacht habe, könne «von dieser Erfahrung der Verletzbarkeit auf die Verletzbarkeit anderer schließen». Körperliche Gewalt und die Erfahrung, «kein richtiges Leben zu verkörpern», ist den Angehörigen von Minderheiten besonders vertraut, und deshalb werde auch ihr Möglichkeitssinn für das scheinbar Unmögliche geschärft. Drag, Butch, Femme oder Transsexuelle führen vor, wie Normen infrage gestellt werden können. «Möglichkeit ist kein Luxus, sie ist genauso wichtig wie Brot», erklärt Butler in Verteidigung einer Philosophie, die festzementierte Realitäten hinterfragt und für offene Geschlechtergren­zen eintritt. Und sie weist den Vorwurf zurück, eine solche Form der Gender-Politik könne keinen wesentlichen Beitrag für eine gerechtere und fairere Gesellschaft leisten.


Die Sphäre von Arm und Reich

Die großen Anderen in der Philosophie – von den «Anormalen» Michel Foucaults bis hin zu Judith Butlers geschlechtsuntypischen Personen – haben in den letzten Jahrzehnten die zahlreichen Ein- und Ausschlüsse sichtbar gemacht, die mit der Definition des Menschlichen verbunden sind. Wer oder was normal ist, ist immer eine Setzung. Diese scheinbar so selbstverständliche Tatsache regelt eben auch, wer dazugehört und wer nicht, wem die Menschenrechte in vollem Umfang zustehen und wem nicht. Das weiße, männliche, heterosexuelle Subjekt befindet sich dabei in einer gewissen Vorteils­position. Aber im Dreieck von Geschlecht, Rasse und Klasse gibt es keine Hierarchien: Keiner dieser Faktoren ist wichtiger als der andere, keiner ließe sich auf einen Nebenwiderspruch reduzieren – das hat auch Butler immer wieder erklärt.

Gerade deshalb bleibt es so frappierend, wie wenig der Faktor Klasse in diesem Buch zum Zuge kommt: Die ökonomische Sphäre tritt selten in Erscheinung. Fragen von Armut und Reichtum sind beispielsweise dann von Gewicht, wenn mittellose Transsexuelle ihre Geschlechtsumwandlung nicht bezahlen können. Der Vorwurf an Butler, auf dem ökonomiekritischen Auge blind zu sein, ist nicht neu, aber deshalb  auch nicht falsch: Ein philosophischer Entwurf, der aufs ethische Ganze zielt, muss sich an solchen Grundsatzfragen messen lassen. Es geht dabei nicht darum, Fragen der sexuellen Orientierung als Luxusprobleme abzukanzeln. Doch gerade eine Philosophie des Körpers, die vom verletzten Individuum her denkt, müsste die Sphäre der internationalisierten Ökonomie als den Komplex erfassen, der nicht weniger als das Monstrum Staat ein- und ausschließt, Normen setzt, auswählt und reguliert. Die Materialität des Körpers hat eben auch ihre materielle Seite – und die bringt beachtliche Körperverletzungen hervor.

Trotzdem ist «Die Macht der Geschlechternormen» ein äußerst lesenswertes Buch, nicht zuletzt weil Butler eine radikale Verfechterin politischer Utopien ist: «Es ist die Phantasie, die es uns erlaubt, uns selbst und andere auch anders vorzustellen. Phantasie ist das, was das Mögliche in Überschreitung des Wirklichen etabliert; sie verweist, zeigt anderswohin, und wenn sie verkörpert wird, macht sie das anderswo bewusst.» Und so ein Anderswo bleibt doch, ebenso einfach wie pathetisch, die vornehmste Aufgabe der Philosophie.

 

Jutta Person arbeitet als freie Kritikerin und Kulturwissenschaftlerin und lebt in Berlin.

 

Judith Butler
Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
Aus dem Amerikanischen von Karin Wörde­mann und Martin Stempfhuber.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009. 414 S., 24,80 €
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