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Frank Schoepgens

Bibliotheksporträt - Der letzte Universalgelehrte

Michael Engelhard schrieb Reden für Richard von Weizsäcker, Walter Scheel und Helmut Schmidt. Er besitzt die vermutlich größte private Bibliothek zu Goethe und übersetzte schon Puschkin

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Bertram Weiß arbeitet seit 2006 als Autor und Freier Redakteur, vornehmlich für die Zeitschriften der GEO-Gruppe. Im Auftrag von netzwerk recherche e. V. organisierte er in Kooperation mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel die zweitägige Fachkonferenz "Fact-Checking: Fakten finden, Fehler vermeiden".

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Noch im Eingang zu seinem schmucklosen Flachbau in der Nähe von Bonn erzählt Michael Engelhard eine Anekdote: „An Goethes 80. Geburtstag fragte ein junger Franzose den Dichter, wofür er sich besonders interessiere. ‚Ach, wissen Sie, junger Freund‘, sagte Goethe, ‚ich beschränke mich eigentlich auf alles.‘“ Engelhard lacht. „Darin finde ich mich wieder.“ Genau das ist die Passion des pensionierten Diplomaten: die universale Bildung.

Er laß mit zehn Jahren Goethe - und kam nie wieder los


Verborgen in den engen, verwinkelten Räumen des Souterrains hortet der 77-Jährige all jene Gedanken, die ihn inspirieren. Überall reichen Regale vom Boden bis zur niedrigen Decke; etwa 18 000 Bände stehen darin, schätzt Engelhard, thematisch sortiert. Die meisten beschäftigen sich mit Johann Wolfgang von Goethe, der ihn nicht mehr loslässt, seit er mit zehn Jahren den „Faust“ las.
Verschiedene Ausgaben des Dramas und Bücher über dessen Deutung füllen allein mehrere Regalbretter. Daneben gibt es Goethe und Italien, Goethe und Böhmen, Goethe und Frauen, Goethe und Zeitgenossen, Dramen, Gedichte, Essays, Almanache, Jahrbücher. „Es ist die größte private Goethe-Sammlung in Deutschland“, sagt Engelhard, der seit Jahrzehnten mit der renommierten Goethe-Forscherin Katharina Mommsen befreundet ist. Umfassender seien nur die institutionellen Goethe-Bibliotheken, etwa in Weimar, Düsseldorf oder Rom.

Immerhin versteht Engelhard sich als einer der „letzten Universalgelehrten Europas“. Selbstzweifel und Bescheidenheit scheint er nicht zu kennen. Vielmehr tritt er einem mit der Ironie eines Mannes entgegen, der sich seiner Sache sicher ist. Lächelnd sagt er: „Ich kann es mir leisten, demütig zu sein.“

Der bedeutendste Redenschreiber der Nachkriegszeit


Das musste er in seinem Leben auch. Bekannt und geehrt wurden stets andere, Engelhard blieb im Hintergrund. Über viele Jahre formulierte er als Redenschreiber Worte, die die Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Walter Scheel der Öffentlichkeit vortrugen, aber auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher und, einmal, Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete Engelhard als „bedeutendsten Redenschreiber der Nachkriegszeit“, für den Spiegel war er der „originellste Redenschreiber“ der Bonner Republik.

Engelhards Kunst war es, scharfsinnige und doch gefühlvolle Reden zu verfassen. Manche seiner Entwürfe, die freilich noch durch viele Hände gingen, entwickelten große Strahlkraft, beispielsweise Weizsäckers Ansprache am 8. Mai 1985 zur Kapitulation des Deutschen Reiches 40 Jahre zuvor. Er rief dem Bundestag zu: „Ehren wir die Freiheit, arbeiten wir für den Frieden, halten wir uns an das Recht.“ Worte, die Weizsäcker sprach, aber Engelhard ersann. Der Bundespräsident nannte sie später die „politischste und zugleich persönlichste Rede meiner Amtszeit“.

Engelhard betont: Ein guter Redenschreiber beanspruche niemals, er habe einem Politiker seine Worte gleichsam eingeflößt. „Das Geheimnis guter Reden ist, dass Politiker und Redenschreiber die gleichen Ansichten, Wertvorstellungen und Ideen haben.“

Es sei, als würden sich zwei Kreise überschneiden: Je größer die Schnittmenge, desto bessere Reden könnten gelingen.

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„Das Kapital meiner Arbeit“, sagt Engelhard und weist ringsum auf seine Bücher, „war meine Liebe zu den Geistesgrößen der Menschheit.“ An diesen hat er seine Sprache und seine Gedanken geschliffen. Allen voran an Goethe, von dem er seit Jahrzehnten jeden Tag mindestens ein paar Zeilen liest. Aber auch an dessen jüngeren Zeitgenossen Alexander Sergejewitsch Puschkin. „Als ich das erste Mal Puschkin las, war das wie ein Blitzschlag“, erzählt Engelhard. „Von der Musik seiner Verse strahlte mich etwas an, das alles in den Schatten stellte, was ich bis dahin kannte.“

Goethe und Puschkin sind für ihn Brüder im Geiste. Beide seien Menschen gewesen, deren Herz und Geist weiter und reicher waren als die der meisten anderen. Um seine Liebe zu Puschkin zu teilen, gründete Engelhard die deutsche Puschkin-Gesellschaft mit. Um die Verse im Original zu verstehen, nahm er ein russisches Grammatikbuch und ein russisch-deutsches Wörterbuch, den „Pawlowski“, zur Hand. Wort für Wort, Stunde um Stunde füllte er mehr als 200 Notizhefte. So hat er sich die Schönheit der Puschkin-Sprache erschlossen wie ein Eroberer ein fremdes Land: „Wenn man als Übersetzer die Sprache nicht kennt, ist jedes Wort eine Offenbarung.“ 1999 veröffentlichte er schließlich die erste vollständige deutsche Übertragung der Gedichte des russischen Poeten.

„Ein gutes Gedicht ist Nahrung für zehn Reden“


Genauso hat er es mit anderen Fixsternen in seinem literarischen Universum gemacht, mit den italienischen Meistern Leopardi und Michelangelo, aber auch dem weniger bekannten Renaissancepoeten Niccolò Forteguerri. „Mitunter habe ich meine Vorgesetzten damit aufgebracht, dass ich in meinem Büro saß und Wörterbücher wälzte.“ Aber dann habe er gesagt: „Ein gutes Gedicht bietet mir so viel Nahrung, dass ich zehn Reden schrei­ben kann.“

Wie sehr ihn die Literatur nährt, entdeckte Engelhard bereits als Kind in Osnabrück. Sein Vater, ein Pianist und Opernsänger, besaß ein Regal, in dem er etwa Bücher von Cervantes oder Dickens aufbewahrte. Das Lesen glich einer Zeremonie. Der Junge musste sich die Hände waschen und an den Tisch setzen; erst dann holte der Vater einen Band und legte ihn vorsichtig vor das Kind. „Diese Erlebnisse voll Ehrfurcht haben in mir den Wunsch geweckt, selbst einmal eine Bibliothek zu besitzen.“

Mit unbändiger Sammelwut trug der Jurist in seiner diplomatischen Laufbahn Buch um Buch zusammen, ob in London oder Chicago, Mailand oder Bonn. Heute ist sein Kindertraum Wirklichkeit. Auch wenn es nach einem Klischee klingen mag: Wenn Engelhard inmitten seiner Bücherwelt sitzt und raucht, scheinen seine Augen wie in Kindertagen zu leuchten. Eine Stunde dort ist ihm eine Reise zu den Sternstunden der Menschheit, denn „Dichtung bringt in wenigen Zeilen alles zusammen, was wichtig ist“.

„Das Leben ist die Liebe und des Lebens Leben Geist“


Mal deklamiert Engelhard Puschkin, „die Freiheit und den Wald vergessend, ein Zeisig aus dem Käfig sehnt, und Wasser spritzend Körner fressend, singt voller Leben er sein Lied.“ Dann wieder Goethe, seine Lieblingsstelle aus dem „West-östlichen Divan“, „das Leben ist die Liebe und des Lebens Leben Geist“. Mal zieht er Schätze aus den Regalen wie Hölderlins „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ von 1799. Dann persönliche Archivalien wie die „Landschaften der Freundschaft“ – eine fast 500 Seiten starke Denk- und Dankschrift vieler Menschen, die ihn in seinem Leben begleitet haben, Schauspieler, Diplomaten, Schriftsteller, Wissenschaftler und Journalisten. Wissen will geteilt sein.

„Nur in der Freundschaft können wir sein, wie wir sind“, sagt er. Diese Haltung will er weitertragen in Essays und Reden, bei der Puschkin-Gesellschaft, vor Goethe-Kennern, an Rednerschulen. So hielt er eine Ansprache vor dem niedersächsischen Landtag in Hannover zur Einweihung des Denkmals der „Göttinger Sieben“, jener streitbaren Akademiker, die 1837 in Freundschaft vereint für Gerechtigkeit kämpften. Die Figuren zeigen nicht die Gesichtszüge der historischen Persönlichkeiten, sondern von Menschen, die den Geist der Sieben in der Gegenwart weitertragen. In Engelhards Bibliothek steht ein Abguss eines der sieben Antlitze. Es ist tatsächlich sein eigenes. 

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