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Auf die Eltern kommt es an

Der neue Präsident der Justus-Liebig-Universität in Gießen heißt Joybrato Mukherjee – und das ist aus mehreren Gründen erstaunlich. Ein Gespräch über Integration, Studiengebühren und Korpuslinguistik

Der Präsident trägt Jeans, schwarzes Sweatshirt und einen modischen Bart. Natürlich weiß er, dass er nicht gerade dem Klischee eines deutschen Universitätspräsidenten entspricht: Mukherjee ist mit gerade mal 36 Jahren der jüngste Unipräsident Deutschlands – und der Sohn indischer Migranten. Lächelnd streckt er mir die Hand entgegen: „Guten Tag, Joybrato Mukherjee.“ In seinem geräumigen Büro hängt ein Bild von Buddha, gegenüber eines von Justus Liebig, dem Namensgeber der Universität Gießen – abendländische und asiatische Kultur begegnen sich mit lässiger Selbstverständlichkeit. Die Bilder habe er selbst mitgebracht, erzählt Mukherjee, dann deutet er neben seinen Schreibtisch: Genau hier habe der Physiker Röntgen vor über 100 Jahren Experimente betrieben, bei denen er später die nach ihm benannten Röntgenstrahlen entdeckte. Zu dieser Zeit lebten Mukherjees Vorfahren, die als Brahmanen der obersten Kaste Indiens angehörten, in Indien. Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wanderten seine Eltern in das rheinische Städtchen Düren aus. Damals waren sie die ersten ausländischen Neubürger und wurden als Exoten bestaunt. Mittlerweile, erzählt der frisch gekürte Universitätspräsident, hätten seine Eltern einen großen deutschen Freundeskreis. Er selbst ist mit einer Deutschen verheiratet. Ein Beispiel gelungener Integration, könnte man sagen, ganz anders als Thilo Sarrazin, der jüngst in Bausch und Bogen befand, Multikulti sei gescheitert. Oder ist Mukherjee die berühmte Ausnahme von der Regel? Immerhin, Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation sind in akademischen Kreisen immer noch deutlich unterrepräsentiert. Warum? Mukherjee weist darauf hin, nicht jeder habe eben wie er das Privileg genossen, auf dem ersten Bildungsweg Abitur zu machen. Dennoch ist er anderer Meinung als Sarrazin, der in seinem umstrittenen Interview mit der Zeitschrift Lettre International behauptet hatte: „Die Kinder müssen Abitur machen, dann findet die Integration von allein statt.“ Für Mukherjee ist vielmehr entscheidend, dass schon die erste Generation sich integriert. „Auf die Haltung der Eltern kommt es an“, meint der Wissenschaftler. „Sie müssen ihren Kindern vermitteln, dass sie nicht in einer feindlichen Umgebung aufwachsen und dass die andere Kultur keinesfalls minderwertig ist. Erst wenn das der Fall ist, kann die Bildung ein Schlüssel sein. Und dann ist die Sprache natürlich das A und O.“ Der Werdegang Mukherjees ist in der Tat mehr als bemerkenswert. Nach dem Abitur wollte er zunächst Musik studieren, bevor er sich für Anglistik, Biologie und Erziehungswissenschaften entschied, als Lehramtsstudium. Damals spielte er viel Blockflöte – „konzertantes Niveau, kein Gepiepse“. Mit 29 Jahren bereits wurde er zum Professor für Anglistik an die Universität Gießen berufen, die dem CHE-Forschungsranking zufolge zu den beiden ersten Adressen Deutschlands in diesem Fachgebiet gehört. Schon knapp sieben Jahre später wählte man ihn zum Präsidenten. Er scheint ein sinnfälliges Beispiel dafür zu sein, dass man die leicht verschlissene Multikulti-Idee auch im Sinne eines kosmopolitischen Denkens interpretieren kann: die nicht deutsche Herkunft als Chance statt als Handicap. Schließlich: Joybrato Mukherjees erste Worte waren Bengalisch, sein Forschungsobjekt ist die englische Sprache, am meisten zu Hause aber fühlt er sich, wenn er deutsch spricht und schreibt. Das Terrain des Anglisten ist die moderne Korpuslinguistik, eine Teildisziplin der Philologie, die Sprache am konkreten Textkörper untersucht. Als Korpuslinguist betreibt er unter anderem Varietätenforschung im südasiatischen Raum und analysiert, wie das Englische in dieser Region verwendet wird. Regelmäßig fliegt er nach Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas, da er mit der dortigen Universität eine Kooperation ins Leben gerufen hat. Umso ungewöhnlicher ist es, dass er als engagierter Forscher nun als Chef einer Uni vorsteht. Ja, sagt er selbst, Universitätspräsidenten seien normalerweise ältere Wissenschaftler, die den Zenit ihrer Karriere hinter sich hätten. Zweifellos macht es ihm aber auch Spaß, den Wissenschaftsbetrieb mitzugestalten. Unter anderem ist er Principal Investigator des International Graduate Centre for the Study of Culture, das von der Exzellenzinitiative des Bundes gefördert wird. Von Studiengebühren hält er übrigens nichts, weil damit eine „Kundendenke“ in den Universitäten einziehe. Andererseits plädiert er für mehr Struktur und mehr verbindliche Lehrinhalte in den Geisteswissenschaften. Wundert er sich manchmal selbst darüber, was für eine rasante Karriere er hingelegt hat? Jetzt lächelt er wieder und sagt sanft: „Die Inder haben es von jeher verstanden, sich in der Diaspora zu integrieren.“ Wer da noch auf folkloristische Nischen wartet, wird enttäuscht. Ganz privat bevorzugt Mukherjee Gothic Rock statt Bollywood. Ein Weltbürger eben.

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