Bücher des Monats - Auf der Suche nach der koscheren Zunge

Wie Ben Katchor die unstillbare Sehnsucht nach amerikanischer und jüdischer Identität in Bild und Text fasst

Ararat: So sollte der neue Staat heißen, den der jüdische Politiker Mordecai Manuel Noah in der Neuen Welt gründen wollte – auf dem Grand Island im Niagara-Fluss im US- Bundesstaat New York, ein paar Tagesreisen nördlich von der gleichnamigen erblühenden Metropole, an der Grenze zu Kanada. Im 50. Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit wollte Noah auch dem jüdischen Volk endlich zur Unabhängigkeit verhelfen, zu einer Heimstatt, einem Ort, an dem die Jahrtausende währende Diaspora zu Ende gehen konnte.

Doch über die Grundsteinlegung an einem warmen Septembertag im Jahr 1825 kam der neue Noah nicht hinaus. Zwar folgte ihm ein Tross begeisterter Anhänger aus New York in das unwegsame Gelände; doch war niemand darunter, der sich hier wirklich ansiedeln wollte, niemand war bereit, eine Parzelle des frisch geheiligten Landes zu erwerben. Auch die in der Umgebung lebenden Ureinwohner misstrauten dem Un­ternehmen – und das, obwohl Noah seiner Ansicht nach hieb- und stichfeste wissenschaftliche Beweise besaß, dass es sich bei den sogenannten Indianern in Wahrheit um die zehn verlorenen Stämme Israel handelte.

So kehrt der verhinderte Zionist zurück nach New York. Nur einer seiner Anhänger bleibt in der Wildnis. Nathan Kishon verbringt dort vier Jahre. So lange streift er durch die Wälder, zusehends verwildernd, zumeist in Begleitung eines bereits ausgewilderten Geschäftsmannes namens Moishe Ketzelbourd, der eines Tages seine Familie verlassen und seinen Beruf aufgegeben hat, um als Fallensteller zu leben. An die Zivilisation bindet Ketzelbourd nur eine letzte Leidenschaft: Er verehrt die New Yorker Theater-Diva Miss Patella. Seine Lagerstätten im Wald sind mit Zeitungsbildern von ihr übersät; ungeniert masturbiert er allmorgendlich ächzend mit dem Blick auf ihr Konterfei. Ansonsten gilt seine ganze Liebe den Bibern. Er stellt ihnen nach, tötet und häutet sie und friert die abgezogenen Pelze ein – bis zu dem Tag, an dem Ketzelbourd hört, dass der Biber im ganzen Osten der USA bereits ausgestorben ist. An diesem Tag fällt er in tiefe Melancholie. Immer weiter führen ihn nun seine Wege nach Westen, auf der Suche nach Bibern, nach der von Menschen unberührten Natur.


Die Neue und die ganz Alte Welt

Das sind nur drei von vielen Geschichten, die Ben Katchor in seinem Buch «Der Jude von New York» erzählt. Einige von ihnen sind historisch verbrieft, andere surreal ersponnen. Was am aberwitzigsten erscheint, ist meistens wahr. Mordecai Manuel Noah hat es wirklich gegeben, ebenso den gescheiterten Versuch der Judenstaats-Gründung am Niagara. Nathan Kishon und Moshe Ketzelbourd sind hingegen reine Comic-Figuren: mit leichtem, aber sicherem Pinsel getuschte Allegorien, in denen Ben Katchor vom Beginn der jüdischen Besiedelung der Vereinigten Staaten erzählt – und von den Selbstwidersprüchen, in die hier jeder verfällt, der sich in emphatischem Sinne zugleich als Jude und als Amerikaner begreift.

In Katchors Helden trifft die Neue Welt auf die ganz Alte Welt: Seine Figuren sehnen sich nach der Erlösung durch den Messias – ebenso wie nach der Erlösung von der Religion und deren jahrtausendealtem historischen Ballast. Sie wollen in der Neuen Welt ganz von vorne beginnen, Tabula rasa machen, ein von der Last der Geschichte befreites Leben führen. Zugleich können sie nicht damit aufhören, sich in Geschichte und Tradition ihrer eigenen Identität zu vergewissern.

Überdies begegnen sie den eigenen Traditionen an den unwahrscheinlichsten Orten wieder, in Zerrbildern und Travestien. Tief in der Wildnis stoßen Kishon und Ketzelbourd etwa auf eine Sekte nicht-jüdischer Amerikaner, die ausschließlich die hebräische Sprache – oder das, was sie dafür halten – benutzen, weil sie in dieser das ursprüngliche Menschheitsidiom zu erkennen glauben. Kishon hingegen hat seine eigenen Erfahrungen mit hebräischen und anderen Zungen gemacht, wie er sich aus diesem Anlass erinnert: Bevor er sich der Arche des neu­en Noah anschloss, ist er von Beruf Schlachter gewesen. Doch wurde ihm die Arbeitsbefugnis entzogen, nachdem er Zungen von koscher und nicht koscher geschlachteten Tieren in dasselbe Zungenfass warf.

Welche alte Sprache soll der Neue Mensch in der Neuen Welt erlernen? Das ist nicht nur für den Zungenfrevler die größte Frage. Stets geht es in «Der Jude von New York» um das Verhältnis von Utopie und Tradition; um das Pathos des Neuanfangs und um die unstillbare Sehnsucht nach einer Identität, die sich aus der Herkunft speist. In Ben Katchors Comics sind dies seit je die bestimmenden Themen gewesen. Katchor, 1951 in Brooklyn, New York, geboren, wurde in den achtziger und neunziger Jahren mit seinen Comic-Strips über «Julius Knipl, den Immobilienfotografen» bekannt: Dabei handelte es sich um einen melancho­lischen Flaneur, der das New York der Gegen­wart auf der Suche nach den schönsten Fassaden, Schaufensterauslagen und Reklamen durchstreifte. Wobei die schönsten Fassaden für ihn die verschwundenen waren – und die schönsten Reklamen stets ein Gewerbe beschrieben, das es längst nicht mehr gab: Zeitungsbeschwerer-Manufakturen, Läden für Senfspender und sonstiges Senfzubehör.


Nackt auf dem Rasen am Broadway

Die «Knipl»-Comics waren nostalgisch, doch verfielen sie niemals dem Kulturpessimis­mus. Das Sentiment fürs Verlorene, das aus ihnen sprach, war stets auch von der Freude darüber durchwirkt, dass die Dinge im Moment des Betrauertwerdens wenigstens einmal in ihr Recht als einzelne Dinge gelangten: Vergänglichkeit wurde gewissermaßen im Medium der Erlösung gezeigt. Auch die kleinen, grau lavierten Gemälde, aus denen «Der Jude von New York» besteht, besitzen den Charme vergilbender Fotogra­fien. Wie Walter Benjamins Flaneur durch­streift Ben Katchor das New York der 1820er Jahre und die Wildnis, die es umgibt, mit zerstreutem Blick. Seine Bilder sind flüchtig und deuten an, entziehen sich dem Stillstand der kontemplativen Betrachtung – um sich in wenigen, dafür umso eindrücklicher wirkenden Momenten plötzlich auf ein kleines Detail zu konzentrieren und dieses zur Allegorie zu erheben.

Als Nathan Kishon nach vier Jahren in der Wildnis nach New York zurückkehrt, verbringt er seine Tage und Nächte fortan nackt, nur in ein Handtuch gehüllt, auf einem Rasenstück am Broadway – während im nahegelegenen Hiram’s Museum ein indianischer Ureinwohner in einer nachgebauten Synagoge hebräische Hymnen singt. Das «Wilde» und «Zivilisierte», die «Geschichtslosigkeit» und die «Tradition» haben ihre Rollen getauscht. Die Nostalgie und die Utopie, der Stillstand der Zeit und der rasende Fortschritt sind ununterscheidbar geworden. Es sind solche paradoxen Traumbilder, in denen Katchor die Dialektik der menschlichen Geschichte zeigt. Im Comic, dieser dialektisch-zerstreuten Zwiesprache von Bildern und Texten, hat er dafür das beste Medium gefunden.

 

Jens Balzer ist Redakteur im Feuilleton der «Berliner Zeitung». Im Herbst erscheint «Outcault. Die Erfindung des Comic» (mit Lambert Wiesing).

 

Ben Katchor
Der Jude von New York
Aus dem Amerikanischen von Kai Pfeiffer.
avant, Berlin 2009. 120 S., 19,95 €

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