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(Florian Moritz) Rainer Moritz in seiner Bibliothek

Rainer Moritz - Auch Platz für Schmuddelkinder

Rainer Moritz leitet das Hamburger Literaturhaus. Doch in seinen Bücherregal finden sich auch die Schmuddelkinder des Literaturbetriebs - Romane von Hera Lindt und Dora Heldt. Dass Moritz Fußballfan ist, zeigt sich ebenfalls beim Besuch seiner Bibliothek

Mit dem Abseits kennt er sich aus. Als Rainer Moritz sieben war und sonnabends die Frühstücksbrezeln beim nahe gelegenen Bäcker holte, sang er eines Tages lauthals und unbedarft Bill Ramseys „Pigalle, Pigalle, das ist die größte Mausefalle mitten in Paris“. Dafür bekam er eine extra Laugenbrezel in die Tüte. Es war der Beginn seiner Begeisterung für das deutsche Liedgut. Und die wirkte für viele mindestens genauso abseitig wie seine spätere Tätigkeit als jugendlicher Schiedsrichter auf dem Fußballplatz. Schon mit 17 machte der in Heilbronn geborene Schwabe seine Schiriprüfung. Acht Jahre lang hatte er bei Kreis- und Bezirksligaspielen die Gelbe Karte so locker sitzen wie weiland John Wayne den Colt.

Doch er hat davon profitiert. „Das Leben als Pfeife stählt“, lacht Moritz, studierter Germanist, Lektor, Verlagschef, Herausgeber, Kritiker, Autor und seit 2005 Chef des Hamburger Literaturhauses. Gäste, die der 54-Jährige in seiner Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf empfängt, erfahren gleich im Flur viel über die Faszination des Hausherrn für den Ball, den er zur Freude seines sechsjährigen Sohnes „heute noch treten kann“. Mehrere Hundert Bücher über Fußball sammeln sich in langen Regalreihen. Sie sind „nach dem Umzug vor kurzem leider immer noch nicht alphabetisch geordnet“, bedauert Moritz. Er schiebt unwirsch einen Bonsai-Kickertisch im Regal beiseite, der ihm die Sicht auf seine Schätze versperrt. Antiquarische Ausgaben von „Soccer Revolution“, daneben „Pfeifend durch die Welt“ aus dem Jahr 1943, sein eigenes Werk über die ungeliebte elfte Fußballregel: „Abseits.

Das letzte Geheimnis des Fußballs“. Früher, erzählt er, war es im Kulturbetrieb relativ schwierig, sich als Fußballfan zu outen. Im Gegensatz zur Beschäftigung mit dem Schlager, der „immer auch ein Stück deutsche Sozialgeschichte widerspiegelt“, galt die Auseinandersetzung mit dem Sport lange als unintellektuell. Das war natürlich, bevor Ballexegeten wie Dirk Schümer oder der Günter-Netzer-Biograf Helmut Böttiger in den neunziger Jahren die Feuilletonisierung des Fußballs einleiteten.

Sein „wichtigstes Fußballbuch“ schenkte ihm seine Tante Maria, als er acht war. Moritz holt ein kleines, schmales, 1966 erschienenes Bändchen aus dem Regal, von seinem Torwartidol, dem famosen Petar Radenković. „Das Spielfeld ist mein Königreich“ heißt es. Mit sakralem Tremolo in der Stimme zitiert er: „Es gibt keine unhaltbaren Bälle.“ Ein „hochphilosophischer Satz, der für das ganze Leben gilt. Nur wenn der Torwart richtig steht, hält er jeden Ball.“
Doch nun von der Alltags- zur Hochkultur, vom Flur ins Wohn- und Esszimmer. Jeweils sechs Meter Designerregale ragen an den Wänden der beiden Räume in die Höhe. Sie bergen die Belletristik, streng geordnet nach Alphabet, von A wie Herbert Achternbuschs „Die Stunde des Todes“ bis Z wie Gerhard Zwerenz’ „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“.

Dazwischen Julien Greens „Adrienne Mesurat“, einer seiner frühesten Romane und einer von Moritz’ liebsten. „Ein psychologisch bis ins Kleinste austariertes Meisterwerk“, sagt er und steigt auf die Leiter, die an der Bücherwand lehnt. Die erste Übersetzung habe ihm ein Freund geschenkt. „Auch hier wurde nach dem Umzug noch nicht perfekt sortiert“, murmelt der Hausherr, der sich als „sehr ordnungsliebend“ bezeichnet. Eine Hilfe hatte wohl Schwierigkeiten mit dem ABC.

Zu seinen Hausgöttern zählen auch Gustave Flaubert und Hermann Lenz. Er sei zwar kein Sammler, aber von Lenz habe er sich fast alle Erstausgaben zugelegt, ebenso von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Das sei der moderne Roman schlechthin, sagt Moritz, der neben seinen anderen Tätigkeiten noch als Vizepräsident der Marcel-Proust-Gesellschaft tätig ist.

Seite 2: Lücken im Regal sind nur Stauräume für Neuzugänge

Auch wenn er immer wieder gern Kriminalromane lese, sei er sehr dafür, Literatur ernst zu nehmen, auch als Sprachkunstwerk. „Ich habe durchaus eine Schwäche für Romane, in denen wenig passiert. Stifters ‚Nachsommer‘ ist ein Musterbeispiel dafür, wie durch stilistische Feinheiten Atmosphäre geschaffen wird, Landschaftsbilder heraufbeschworen werden.“ Die „ganz harte Variante an Langatmigkeit, reduzierter, fast karger Sprache“ sei Stifters Mittelalterroman „Witiko“. 1000 Seiten Dünndruck, die sich Moritz einst auf einem Campingplatz in der Bretagne erarbeitet hat. „Das werde ich nie vergessen.“

Die vereinzelten Lücken in Rainer Moritz’ Regalen entpuppen sich als schimärenhafter Stauraum für Neuzugänge. „Der hält höchstens für ein Jahr.“ Aber es gibt zum Glück ein Zwischenlager im Literaturhaus. Nicht jedes Buch schafft die Hürde zu ihm nach Hause. „Aber was hier ist, darf hierbleiben. Es wandert nicht mehr zurück“, sagt er und fügt kategorisch hinzu: „Ich sortiere keine Bücher aus, auch wenn meine Frau das gern hätte.“ Moment, „wir haben ja auch trojanische Pferde“, sagt er schmunzelnd. Er sucht unter L und greift nach Hera Linds „Das Superweib“. Kleinlaut entschuldigt er sich für das literarische Schmuddelkind, offenbar nicht das einzige. Er habe mal etwas über Unterhaltungsromane schreiben müssen und auch eine Dora Heldt und eine Gaby Hauptmann gelesen.

Moritz ist Frühaufsteher, „notorisch fleißig und fröhlich“. Er liest sehr viel, wann immer sich eine Nische findet. Am liebsten zu Hause in seinem schwarzen Leder-Lady’s-Chair. Er besitzt auch den rollbaren „Bookinist“ des Designers Nils Holger Moormann, aber der erfordert wegen seiner harten Sitzfläche eher eine asketische Lesehaltung. Manchmal schafft er es auch während der Arbeitszeit im Literaturhaus, in dem er für die Programmgestaltung und die Finanzen verantwortlich ist. Bei knapp 100 000 Erstauflagen im Jahr ist es wahrlich nicht leicht, wie eine Art Pythia des Buchwesens Autoren herauszupicken, die er zu Lesungen einladen kann.

Plötzlich wird Moritz von einem ohrenbetäubenden Lärm aus dem Flur unterbrochen: „Tor, Toor, Tooor.“ Das Geschrei kommt von einer Soundinstallation, die bei starker Lichteinwirkung Herbert Zimmermanns tönendes Wunder von Bern erklingen lässt. Der Blitz des Fotografen hatte sie offenbar ausgelöst. Moritz verfällt in unbändiges Gelächter, ehe er sich wieder in Worte fassen kann.

Er habe schon als Jugendlicher viel gelesen, sagt er dann, immer noch grinsend. „Ich komme nicht aus einem klassischen Bildungsbürgerhaus. Mein Vater war kein Leser, die Mutter zwar im Bücherbund, aber es war alles sehr überschaubar.“ Moritz, Mittelkind – ein Ausdruck wie Mittelklassewagen –, hatte einen fünfeinhalb Jahre älteren Bruder und eine fünfeinhalb Jahre jüngere Schwester und fühlte sich häufig allein. Er vergrub sich früh in Büchern, zur Sorge seiner Mutter. In der Stadtbücherei entdeckte er einen Autor, den „niemand außer mir kennt“.

Anthony Buckeridge, in England sehr populär, schrieb „harmlose Geschichten, klassische Schulromane“. Aber auch Daniel Defoe „Moll Flanders“ hat er begierig mit nach Hause genommen. Das war „ein wichtiger Faktor in meiner Sozialisation, die ohnehin untypisch war. Ich sage nur Stichwort Schlager. Als ich 13 oder 14 war, habe ich Bernd Clüvers ‚Der Junge mit der Mundharmonika‘ gesungen, während die anderen auf die Rolling Stones standen.“ Bei den Mädchen war er nicht besonders populär.

Die schräge Passion hat Moritz in „Ich Wirtschaftswunderkind“ schreibend verarbeitet. Überhaupt hat er viele Bücher geschrieben, Anthologien, Literaturkritiken, Essays. Vor drei Jahren probte er erstmals das „leichte Fach – Romane, die leicht sind, aber nicht peinlich“. Ein dritter Versuch folgt in diesem Herbst bei Piper: „Sophie fährt in die Berge“. Weiß seine Frau, worüber er schreibt? Ja, Überraschungen à la Charlotte Roche gibt es im Hause Moritz nicht. Auch von Experimenten gemäß Karen Duve, deren Buch „Anständig essen – ein Selbstversuch“ es immerhin in seine Bibliothek geschafft hat, hält er wenig, verrät er zum Schluss unseres Gesprächs. Er werde sich von keiner Abhängigkeit befreien und auch künftig nicht auf schweren Rotwein, gefüllte Kalbsbrust, die Lindenstraße oder die Bundesliga verzichten.

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