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(picture alliance) Mit der Autorin schaut der Leser über Nachbars Hecke

Anna Katharina Hahn - Stuttgarter Realismus

Anna Katharina Hahn erteilt dem literarisch-romantisch beseelten Leben eine literarische Absage
 

In den letzten schwülen Sommertagen 2010 steht die Luft an den grünen Hanglagen Stuttgarts. Eigentlich ist es viel zu heiß zum Rasenmähen. Doch so kann Emil Bub, Deutsch- und Ge-schichtslehrer kurz vor dem Ruhestand, unauffällig über die Hecke hinüberblicken: Zu den Nachbarn ist gerade der Sohn Peter zurückgekehrt, abgemagert, apathisch und mit wirrem Bartwuchs. Von seiner Freundin Mia und ihren gemeinsamen Kindern keine Spur.

Anna Katharina Hahn blickt auch in «Am Schwarzen Berg» schonungslos genau auf ein Stuttgarter Nachbarschaftsgefüge in wohlsituierter Lage. Nach ihrem Romandebüt «Kürzere Tage» wurde sie für ihren herausragenden Realismus gerühmt, wegen präzisester Benennung der Eigenheiten und ihrer Fähigkeit zur Verknappung, bis kurz vors Klischee. Genau so geschieht es auch in ihrem zweiten Roman: Mit der Autorin schaut der Leser gleichsam über die Hecke in das Leben zweier Paare mittleren Alters. Da sind zum einen Emil Bub und seine Frau Veronika, eine Bibliothekarin mit stachliger Kurzhaarfrisur. Das Wohnzimmer steht voller Bücher, in der Kühlschranktür klirren Wodka- und Aquamarin-Flaschen. Am Eingang des Bungalows nebenan hängt seit Jahrzehnten ein selbst getöpfertes Schild: «Hier wohnen die Raus».

Mit Frau Carla und Sohn Peter, so erfährt der Leser aus den Rückblenden einzelner Romanfiguren, zog hier irgendwann in den siebziger Jahren der Arzt Hajo ein, Daimlerfahrer und Pfeifenraucher. «Lackaffe, Besserverdiener», dachte Emil damals. «Taugenichts und Tagedieb» nannte Hajo ihn wiederum einige Zeit später. An der Gartenhecke treffen die feinen Unterschiede benachbarter Milieus aufeinander. Darunter hindurch schlüpft der Arztsohn Peter und lässt sich ganz von Emils verträumter Gelehrtheit vereinnahmen: Spaziergänge im Wald verschmelzen mit der literarischen Schatzsuche in den Texten Eduard Mörikes und schließlich auch im Leben zu einem Ganzen – Peter wächst mit dem Wissen auf, dass der Name seiner Straße «Am schwarzen Berg» gleichzeitig der Beginn eines Mörike-Gedichtes ist. Emils Frau Veronika setzt sich an ihrem Arbeitsplatz für die Obdachlosen ein, die in der Bibliothek tagsüber Zuflucht suchen, hoch belesene Sonderlinge, in Veronikas Blick erscheinen sie wie literarische Landstreicher der Romantik.

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An Stellen wie dieser wird im Roman deutlich hörbar an einem Überbau aus literaturgeschichtlichen Bezügen gezimmert. Doch die intellektuelle Spielerei steht unbedingt im Dienst von Hahns Stuttgarter Realismus. So, wenn hier im Sommer 2010 die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 keinem politischen, sondern einem zutiefst romantischen Programm verpflichtet sind. Anfang des Sommers noch voller Elan, setzt sich Peter für den Erhalt der Bäume im Schlossgarten ein, nimmt seine Söhne mit ins Zeltlager: «Das ist der pure Eichendorff, der auferstandene Mörike!

Unter mehrhundertjährigen Riesen mitten in der Stadt einzuschlafen, im Rauschen des Laubes, gemischt mit dem Brausen des Verkehrs.» Dieses Erlebnis ist ihm wichtiger als die Teilhaberschaft an einer Logopädiepraxis oder die Schullaufbahn seiner Söhne. Seine Freundin Mia ist pragmatischer: «Wie kommst du dazu, ihnen dein Penner-Leben zuzumuten! Sie haben was besseres verdient, und ich auch!» Mia ist die Tochter einer alleinerziehenden Putzfrau, «beschissener und kitschiger geht es wohl nicht», fasst sie ihre eigene Kindheitsgeschichte zusammen. Irgendwann genügt ihr Peters Konsum- und Schulverweigerung nicht mehr, sie verschwindet mit den Söhnen zu Georg, einem Redakteur beim Regionalfernsehen, gekleidet «wie ein englischer Graf aus einer Vorabendserie».

Und dann kommt Peter ausgemergelt und eingefallen an den «Schwarzen Berg» zurück, seinem poetischen Lebenstraum ist die Luft ausgegangen. Vater Hajo verschreibt Antidepressiva, die Mutter kocht süße Speisen, Emil bringt die Lieblingslektüre von früher, als könnten sie mit Rezepten aus Kindertagen nicht nur Peter, sondern auch ihren eigenen alten Gewissheiten zu neuem Leben verhelfen. Sie geben sich ganz dieser nostalgischen Hoffnung hin, wollen bei einem gemeinsamen Gartenfest erste Erfolge feiern. Doch im sentimentalen Lampion-Schimmer lassen sich dunkle Vorahnungen nur schwer verscheuchen: Die Sommerwochen am «Schwarzen Berg» sind nur ein Zögern vor dem endgültigen Abgleiten in die Katastrophe.

Dies schildert Hahn mit fast schon perfide übersteigerter Kunstfertigkeit: Zwei der Obdachlosen aus der Bibliothek ziehen an der Gartengesellschaft vorbei, auf den Lippen Mörike-Worte voller Todesweh, die letzten Verse aus «Mozart auf der Reise nach Prag». Das endgültige Scheitern eines literaturbeseelten Lebens wird hier ausgerechnet durch ein literarisches Zitat besiegelt – ein gerade in seiner Zerrissenheit bestechender Schlussakkord eines berührenden Romans.

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