Das Journal - Amerika im Herbst

Seit dem Vietnamkrieg kritisiert Noam Chomsky die Ungerechtigkeiten der US-Politik – unbestechlich, unaufhörlich

Der düstere Glaspalast von Lehman Brothers war über Nacht zu einem Totenhaus geworden. Die Angestellten verstauten noch schnell ein paar Habseligkeiten in Pappkartons und verließen fluchtartig das sinkende Schiff. Nicht nur die viertgrößte amerikanische Investmentbank lief an diesem Schwarzen Montag auf Grund; auch ihrem Konkurrenten Merrill Lynch und dem Versicherungsriesen AIG stand das Wasser bis zum Hals. An der Wall Street spielten unterdessen die Märkte verrückt, und der Dow Jones brach um mehr als 500 Punkte ein. Ging von dieser ökonomischen Eruption tatsächlich eine «neue Epoche der Weltgeschichte» aus, wie journalistische Wolkenschieber in der Hitze des Gefechts meinten? Oder ist lediglich das ruhmlose Ende einer Präsidentschaft zu verzeichnen, die den Wer­teverfall zu ihrem Markenzeichen machte?

Noam Chomsky hält sich mit weiträumigen Diagnosen dieser Art zurück. Der Emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology zieht den Generalstabskarten die Mikroanalyse vor. Seit den Tagen des Vietnamkriegs hat er sich in die Außenpolitik seines Landes verbissen und dieser unerfreulichen Materie höchst aufschlussreiche Bücher und Zeitschriftenaufsätze abgerungen. Dass der im Anarcho-Syndikalismus wurzelnde Denker sich mit so viel Beharrlichkeit nicht nur Freunde gemacht hat, zeigt sein Weg ins publizistische Abseits. Der Suhrkamp-Kultur gehört er schon lange nicht mehr an. Auch seine unter dem Titel «Interventionen» gesammelten Kurzessays zur Außenpolitik der Bush-Administration fanden auf den offiziellen Seiten keinen Platz, sondern wurden als so genannte op-eds für ein Internetforum namens «New York Times Syndicate» geschrie­ben – was den notorischen «Nestbeschmut­­zer» jedoch nicht daran hindert, die amerikanische Meinungsfreiheit weiterhin in den höchsten Tönen zu loben.


Gott in Handschellen

Chomskys Chronik der laufenden Ereignisse behandelt zwar auch das «Erbe von Hiroshima», den Palästinakonflikt und die Graswurzel-Revolution in Lateinamerika, ihr zentraler Gegenstand ist aber der «idea­listischste Krieg der jüngsten Geschichte». So hat die «Washington Post» den völkerrechtswidrigen Regimewechsel im Irak nach dem Einschlag der ersten Marschflugkörper in Bagdad genannt – damals noch in völliger Übereinstimmung mit dem von Massenvernichtungswaffen und der «Achse des Bösen» schwadronierenden Kriegsherrn im Weißen Haus. Noam Chomsky nimmt die amerikanische Meinungsfreiheit beim Wort. Neben Regierungserklärungen und amtlichen Dossiers untersucht er auch die Verlautbarungen der  großen Zeitungen und politikwissenschaftlichen Fachblätter seines Landes. Dass sich da ein Sprachforscher über zeithistorische Quellen beugt, ist jeder seiner «Interventionen» anzumerken.

Der Wortschwall, mit dem die inzwischen mehr als eine Million Toten der edlen «Mission» erklärt und gerechtfertigt, verharmlost und beschönigt werden, lässt dem Linguisten Chomsky keine Ruhe: Wer so viele Worte macht, muss eine Menge zu verbergen haben. Auf die religiöse Rhetorik George W. Bushs geht er bei seiner Entzifferungs- und Übersetzungsarbeit nicht einmal ein. Da führe jemand «Gott in Handschellen» vor, hat James A. Forbes, Pfarrer an der New Yorker Riverside Church, zu dieser Indienstnahme angemerkt. Was aber verbirgt sich in dem Gewebe aus «Halbwahrheiten, Falschmeldungen und heimlichen Agenden»? Die Demokratisierung des zerbombten, konfessionell zerrissenen Irak kann es kaum sein. Die den Seminaren des Philosophen Leo Strauss entsprungenen Vordenker der Bush-Administration respektierten ja nicht einmal die amerikanischen Bürgerrechte: Aufklärung und Liberalismus waren für diese grauen Eminenzen lediglich ein Ausdruck von Dekadenz; die Ungleichheit der Menschen hielten sie für gottgegeben; die hierarchische Ordnung von Staat und Gesellschaft entsprach in ihren Augen der natürlichen Verfassung des Menschen.

Wettermacher und Wunderdoktoren

Noam Chomskys Lösung des irakischen Rätsels greift auf eine geostrategische Einsicht zurück, die den Demonstranten schon am Vorabend des Kriegs geläufig war: «Obers­tes Ziel der Washingtoner Planer ist nicht die Terrorismusbekämpfung, sondern die Errichtung US-amerikanischer Militärstützpunkte inmitten der bedeutendsten Energiereserven der Welt, damit die USA ihren Rivalen stets überlegen sind.» Ob sich die Rechnung «Blood for Oil» ausgezahlt hat? Halliburton, die ehemalige Firma des Vizepräsidenten Dick Cheney, hat zwar der angeschlagenen irakischen Ölindustrie auf die Beine geholfen, der Dollarsegen dieses Geschäfts dürfte zur Finanzierung des teuren Waffengangs aber kaum beigetragen haben. Er ist ebenso in privaten Taschen gelandet wie die öffentlichen Gelder für private Sicherheitsdienste, die in nie gekanntem Umfang am Kriegsgeschehen im Irak beteiligt waren. Hinter den abstrakten Redens­arten zeichnen sich also sehr konkrete Nutznießer und Profiteure ab. Im Zweistromland wurde offenbar der Prototyp einer «privatorientierten Kriegsführung» erprobt – wie von der Globalisierungs-Kritikerin Naomi Klein vermutet (siehe „Literaturen” 11/ 2007) und von Jeremy Scahill in seinem Buch «Blackwater» (siehe „Literaturen” 4/2008) eindrucksvoll belegt.

Dass Privatisierung und Deregulierung der Schlüssel zum Reichtum seien, ist nicht umsonst auf allen ökonomischen Lehrstühlen gepredigt worden. Seit Ronald Reagans «Dekade der Gier» gewann die neo­­liberale Heilslehre auch politische Durchsetzungskraft. Sie ebnete einer globalen «Superklasse» den Weg, die zunehmend die Weltpolitik dominierte. Zwei Jahrzehnte später stehen diese Herrscher vor dem Offenbarungseid. Die Meister des Banken-Universums haben sich als Trickbetrüger erwiesen, die die Welt mit verschachtelten Derivaten hinters Licht führten. Hatten sich George W. Bush und Konsorten mit ihrem Pre-emptive Strike im Irak nicht gleichfalls als Wettermacher und Wunderdoktoren versucht? Wer würde ihnen heute noch ein gebrauchtes Auto abkaufen?

Noam Chomsky, der am 7. Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, ist kein Systemveränderer, sondern ein Urliberaler und Basisdemokrat. Gerade das macht ihn in den Augen seiner Gegner verdächtig. Er unterscheidet zwischen der Mehrheitsmeinung und ihren falschen Propheten. Chomsky tritt dem Geist der Täuschung mit historischen, logischen und juristischen Argumenten entgegen. Wie hier ein Repräsentant des anderen Amerika sein kritisches Amt versteht, ist dem programmatischen Aufsatz «Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen» aus dem Jahr 1969 zu entnehmen: «Die amerikanische Aggressivität, mag sie sich auch noch so gut hinter frommer Rhetorik verstecken, ist eine beherrschende Macht der Weltpolitik und muss auf ihre Ursachen und Motive hin untersucht werden.»    

 

Noam Chomsky
Interventionen
Mit einem Vorwort von Tariq Ali. Aus dem Amerikanischen von Maren Hackmann.
Edition Nautilus, Hamburg 2008. 224 S., 18,00 €


Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke, Anna Kamp, Burkhart Kroeber und Gerlinde Schermer-Rauwolf.
Kunstmann, München 2008. 464 S., 24,90 €

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