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(picture alliance) Alles ist relativ. Armut, Wetter, Glück und Liebe.

Röslers geschönter Bericht - Alles ist relativ – sogar Armut

Die FDP hat sich mit dem geschönten Armutsbericht ordentlich in die Nesseln gesetzt. Dabei ist alles nur eine Frage der Perspektive, erklärte daraufhin Philipp Rösler. Eine Fahrt mit der S-Bahn vor einigen Tagen brachte die gleiche Erkenntnis

Donnerstagmorgen in der Berliner S-Bahn. Vollgestopft der Waggon, die Fenster herab rann Kondenswasser, stickige Wärme und feuchte Regenjacken - dicht an dicht. Der denkbar schlechteste Start in den Tag aber wurde jäh gerettet – von einer jungen Frau mit Kinderwagen. Die muffeligen Gesichter um sie herum ignorierend, fabulierte diese lautstark in ihr Handy und wirkte dabei ziemlich mit sich im Reinen. Während vor ihren Knien der Buggy hin und her schwankte, gab sie zwischen Ostkreuz und Friedrichstraße Einzelheiten preis, die eigentlich strengstem Datenschutz unterlägen.

So wurden wir zunächst unfreiwillige Zeugen einer zunächst harmlos anmutenden SMS-Geschichte. Ein Siebzehnjähriger hatte sie für ihr Dasein als alleinerziehende Mutter gelobt und als „wahnsinnig süß“ befunden. Dann aber setzte sie die vor sich hin dämmernden Fahrgäste über den Stand ihrer Finanzen in Kenntnis: Ganz anders als „die beiden gestern bei Peter Zwegat“ nämlich, denen jener Schuldnerberater von RTL aus der selbst verschuldeten Patsche helfen musste, könne sie von Hartz IV sehr gut leben. Sie selbst lege in manchen Monaten sogar 200 Euro auf die Seite. „Weißt du wie viel ich diesen Monat für Essen ausgegeben habe?“, fragte sie vernehmbar in den Hörer: „150 Euro!“ Sprachs, holte eine hellblaue Tupperdose hervor und steckte ihrem Sohn eine Weintraube in den Mund. Kernlos, denn „die liebt der kleine Heaven besonders“, erfuhren wir.

Als Sprecherin der glücklosen FDP hätte die Frau an diesem Morgen eine gute Figur gemacht: Selbstbewusst, authentisch und glaubwürdig. Die Liberalen nämlich mussten sich in den vergangenen Tagen dafür verteidigen, aus dem Armutsbericht der Bundesregierung folgende Passage gestrichen zu haben: „Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.“ Den Armutsbericht zu schönen und sich dabei erwischen zu lassen, ist in etwa so geschickt, wie einen Dreijährigen darauf aufmerksam zu machen, dass der Sandkastenkollege gerade ein Eis bekommt, während er selber leer ausgeht. Tödlich.

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Die Empörung war entsprechend groß und Philipp Rösler erklärte im ZDF, es gäbe da unterschiedliche Sichtweisen: Er selber fände, es gehe „unserem Land so gut wie noch nie.“ Und man müsse schließlich mit einem solchen Bericht auch die Wirklichkeit abbilden. Im Übrigen wird der Armutsbericht noch im Parlament diskutiert – er sei nicht Gott gegeben. Was dann am Ende als Wirklichkeit über Armut in Deutschland herauskäme, sei also ein Produkt bundesdeutscher Demokratie.

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Wie der Einzelne mit der Realität umgeht, dafür kann die Politik mit ihren Berichten dann auch nur eine Richtlinie sein. Tatsache ist, dass sich viele Menschen die Frage stellen, warum der Nachbar nach Mallorca fliegen kann, während man selbst mit seiner Familie ins Elbsandsteingebirge muss – schon wieder. Unterschiedliche Forschungseinrichtungen erheben unterschiedliche Zahlen. Röslers Wirtschaftsinstitute sagen, die Einkommensschere sei – aufgrund des guten Wachstums in den vergangenen Jahren – kleiner geworden, Ursula von der Leyens Experten kamen zu anderen Ergebnissen. Am Ende geht es um Interpretation und Perspektive. Alles ist relativ. Armut, Wetter, Glück und Liebe.

Der Trick ist, sich nicht ständig zu vergleichen. Und wenn schon, dann mit den Richtigen. Das nämlich lehrt uns: Schlimmer geht immer. Während Polittalkshows die alleinerziehende junge Mutter gerne zur Prototypischen Ärmsten der Armen erklären, erlebten wir an diesem Morgen in der S-Bahn eine andere Wirklichkeit: Die alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin schlägt sich wacker durchs Leben und gibt sich eher erhaben denn bedürftig.

Sie erzählte dann noch, dass ihre Freundin von ihrem Partner nur geschwängert worden war, damit der eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland bekäme. Nun aber führe er sich zuhause unmöglich auf: Und einmal, als sie mit starken Wehenschmerzen zuhause war – „weißt du, was er da zu ihr gesagt hat?“…

In diesem Moment beugte sich eine blondierte, stark geschminkte Mitfahrerin zu der Frau herüber und zischte, sie solle doch endlich leiser telefonieren. Der Rest war leider nicht mehr zu verstehen. In jedem Fall muss es empörend gewesen sein, was der Mann seiner Freundin zugemutet hatte. Die junge Frau zumindest schaute sehr zufrieden und schukkelte mit dem Fuß ihren Heaven. Schlimmer geht eben immer.

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