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Aktive Sterbehilfe in Belgien - Ein neuer „Death to go“?

Kisslers Konter:   In Belgien können bald Kinder und Jugendliche Sterbehilfe bekommen, vorausgesetzt sie sind entscheidungsfähig. Das Gesetz widerspricht der Menschenwürde und zeigt, dass das Konzept der Selbstbestimmung zu einem Fetisch geworden ist 

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Europa endet am 51. Breitengrad. Belgien hat sich in der vergangenen Woche aus Europa verabschiedet, sofern Europa mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die sonst gerne beschworenen europäischen Werte gelten dort nicht unbedingt. Denn alle gemeinsamen Werte beruhen auf der Würde des Menschen, und mit dieser ist es unvereinbar, Kinder, die zu Recht als unmündig gelten, umzubringen. Und gegen die Würde des Menschen verstößt es nicht minder, für diese Euthanasie Strukturen bereitzustellen, innerhalb derer das Angebot an Tötungsspezialisten gesichert ist.

Ärzte wird man jene, die seit dem Entscheid des belgischen Parlaments unheilbar kranke Minderjährige töten dürfen, nicht rundheraus nennen wollen. Oder nur in jenem Sinn, in dem der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland im 19. Jahrhundert orakelte: Ein Arzt, der davon absehe, „Leben zu erhalten, ob es ein Glück oder ein Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht“, werde „der gefährlichste Mensch im Staat“. Nur 44 von 142 belgischen Parlamentariern ließen sich von der Schreckensvision beeindrucken und stimmten mit Nein. Die große Mehrheit, knapp 70 Prozent, befürwortete den anthropologischen Rückschritt oder enthielt sich.

Eine sozialistische Abgeordnete wird mit den Worten zitiert: „Wir haben die Verantwortung, allen zu gestatten, in Würde zu leben und zu sterben.“ Mehr und mehr greift die Vorstellung um sich, die Würde am Lebensende bemesse sich allein daran, ob dieses Ende zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv herbeigeführt werden kann. So wird das Konzept der Menschenwürde ins Gegenteil verkehrt. Menschenwürde besagt, dass der Mensch, weil er Mensch ist, eine unverlierbare Würde hat unbeschadet aller konkreten Lebensumstände. Der kranke, schwache, arme Mensch hat in aller Krankheit, Schwachheit, Armut denselben Anteil an der Menschenwürde wie der gesunde, starke, reiche Mensch. Eine Würde, die zu ihrer Durchsetzung auf die Eliminierung des Würdeträgers angewiesen ist, ist ein Widerspruch in sich, absurd bis ins Mark.

Die Menschenwürde wird dem Fetisch geopfert


Die belgische Entscheidung zeigt auch, dass das Konzept der Selbstbestimmung zu einem Fetisch geworden ist, zu einem Altar, auf dem die Menschenwürde geopfert wird. Kein Selbst fällt vom Himmel, es ist nie fertig ausgebildet, es wächst lebenslang im Austausch mit anderen. Um wie viel mehr gilt diese Bedingung vom Selbst eines Kindes, das noch weit weniger zum Bewusstsein gelangt ist als bei Erwachsenen. Wenn belgische Ärzte künftig unerträgliches Leiden diagnostizieren, um auf dieser Grundlage nach der vermeintlichen Selbstbestimmung des Kindes zu fahnden, handelt es sich faktisch um die Fremdbestimmung des Arztes über das Kind.

Schon bisher krankt das belgische System daran, dass nicht jede aktive Sterbehilfe in Krankenhäusern den offiziellen Stellen gemeldet wird – die Kontrollkommission selbst geht von nur rund der Hälfte der Fälle aus. Diese Quote dürfte sich jetzt kaum erhöhen. Und werden die seit 2005 in Belgien für Hausärzte in Apotheken erhältlichen „Euthanasie-Kits“ mit Barbituraten nun auch bei Kindern eingesetzt werden? Ein neuer „Death to go“?

Natürlich darf es keine Therapie um jeden Preis geben, natürlich kann es ein wahrer Akt der Menschlichkeit sein, die Intensivmedizin nicht bis zum Letzten auszureizen und das Sterben zuzulassen, Behandlungen einzustellen. Jeder und jede hat ein Anrecht auf schmerzlindernde Maßnahmen, wie sie zu keinem Zeitpunkt der Geschichte besser entwickelt waren als heute. Unerträgliche Leiden müssen im 21. Jahrhundert nicht sein.

Die angebliche Sehnsucht nach dem Tod ist oft ein Schrei nach einem anderen Leben. Der grassierende Todeskult, aufgehübscht mit der Attrappe der Selbstbestimmung, stellt sich taub gegenüber diesem Schrei. Ist das schon barbarisch oder nur modern?

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